F. W. Hackländer
Der Augenblick des Glücks – Aus den Memoiren eines fürstlichen Hofes
F. W. Hackländer

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»Ich weiß nichts von einem Brief,« sprach fest und bestimmt das Mädchen.

»O, wie kann man so leugnen!« fuhr der Kammerherr im freundlichsten Tone fort. »Der Brief, den Sie erhalten, und die Erlaubnis, Sie zu besuchen, die Sie mir darauf gaben!«

»Das ist nicht wahr!« rief Rosa entrüstet. »Das ist eine Lüge, eine Schändlichkeit! Ich weiß weder von einem Briefe, noch viel weniger von einer Antwort. – O mein Gott, womit habe ich das verdient! – Durch nichts, durch gar nichts!« rief sie heftiger, »und ich will, daß man mich in Ruhe läßt.« Sie machte bei diesen Worten eine gewaltsame Bewegung, ihre Hand zu befreien; da aber der Kammerherr, dies vorhersehend, auf seiner Hut war und sie fester hielt, so brachte ihre Bewegung die entgegengesetzte Wirkung hervor. Statt sich und Ihre Hand zu befreien, verlor sie für eine Sekunde das Gleichgewicht, wodurch es dem Kammerherrn gelang, seinen anderen Arm um ihre Taille zu legen und sie für einen Augenblick an sich zu drücken.

Freilich nur für den ersten Augenblick, denn im anderen schnellte sie empor wie eine Stahlfeder, wie ein Aal im Wasser, und während sie dabei zwischen den verächtlich aufgeworfenen Lippen ihre weißen Zähne sehen ließ, blitzte aus ihren Augen ein unheimliches Feuer.

Ein anderer als der Kammerherr von Wenden wäre vielleicht auch so weit gegangen und hätte dann angesichts dieser Symptome an einen verständigen Rückzug gedacht, bei sich überlegend, daß kein Baum auf den ersten Hieb fällt und daß Rom nicht in einem Tage erbaut worden ist. Wie gesagt, ein anderer hätte sich, nachdem er gefunden, wie stark die Festung sei, aus der Angriffslinie zurückgezogen, um mit Geduld und Ausdauer eine neue Parallele gegen den Feind zu eröffnen. Ein anderer. Aber daß Herr von Wenden kein anderer als er selbst war, das wußte sein Freund, der Major, ganz genau und hatte darauf seinen Plan gebaut.

Der Kammerherr atmete mühsam, als das junge kräftige Mädchen von ihm wegschnellte und sich dabei zwischen dem Stuhl und dem Tische gewaltsam einen Durchgang bahnte. Seine Blicke brannten fast fieberhaft, und wenn er auch lächelte, so war dies Lächeln doch ein sehr künstliches und gemachtes. Mit einer recht faden Bewegung schwang er sich von seinem Sitz in die Höhe und tänzelte dem Mädchen durch das Zimmer nach, das anfänglich vor ihm floh, dann aber mit einem Male mitten in der Stube stehen blieb, die rechte Hand in ihre Seite setzte, den Kopf mit einer gewaltsamen Bewegung in die Höhe warf und eine der Stellungen einnahm, die, edel, imponierend und schön, das Entzücken jedes Malers und Bildhauers gewesen wäre.

Herr von Wenden schwebte auf sie zu, täppisch wie eine dicke, verliebte Fliege, prallte aber fast zurück vor dem starren und seltsamen Blick des Mädchens. »Nein, nein,« rief er aber gleich darauf, wie um sich selbst Mut zu machen, »nein, nein, schöne Nachbarin, so entkommst du mir nicht. Es gibt Augenblicke des Glückes, und wer die nicht erfaßt, ist ein Thor.« Als er das sagte und von neuem das ruhig dastehende Mädchen mit den Händen berührte, verwandelte sich das trotzige Aussehen ihres Gesichts in eine tiefe Wehmut. Sie biß heftig auf ihre Lippen, in diesem Augenblick nicht um ein zorniges Gefühl, sondern nur um die Thränen zu unterdrücken, welche trotz der gewaltsamen Anstrengungen, die sie machte, in ihre Augen stiegen und dort glänzten und zitterten.

»Was wollen Sie von mir?« fragte sie mit einer tief schmerzlichen Stimme. »Was wollen Sie von einem armen Mädchen, das es bereut – o, mein Gott, wie bereut! – wenn es Ihnen Veranlassung zu dem Glauben gab, es nehme das geringste Interesse an Ihnen? Was wollen Sie hier in dieser armen Wohnung, die kein Aufenthalt für Sie ist, wo Sie kein Glück finden können und wohin Sie nur Unglück zu bringen vermögen?«

»O, ich weiß schon ein Glück, welches ich hier zu finden hoffe!« unterbrach sie rasch Herr von Wenden, indem er zudringlich wurde. »Ein Glück, schöne Rosa, das auch Ihnen nicht wie ein Unglück vorkommen soll.« Indem er das sagte, trachtete er danach, seinen Arm abermals um ihren Leib zu legen, sie an sich zu ziehen, während seine Lippen sich ihrem Gesichte näherten. Doch war es nur ein Augenblick, daß er also trachtete, und kein Augenblick des Glücks. Denn das junge Mädchen, welches eine Sekunde mit entsetzt aufgerissenen Augen um sich schaute, stieß ihn gleich darauf so heftig von sich, daß er mit einem außerordentlich überraschten Gesicht zurücktaumelte, wobei er sich nicht enthalten konnte, auszurufen: »Aber, mein Fräulein, was soll denn das bedeuten?«

»Das soll bedeuten, Herr Baron von Wenden,« antwortete plötzlich die Stimme eines Mannes hinter seinem Rücken, »daß es für einen so gescheiten Mann sehr unklug ist, sich Unarten gegen ein armes wehrloses Mädchen zu erlauben, sie in ihrem Zimmer zu überraschen, wenn man zufällig erfahren, daß ihre Mutter ausgegangen ist.«

Nachdem Rosa soeben mit dem plötzlichen Auflodern eines wilden, ihr selbst unbegreiflichen Zornes den Kammerherrn von sich gestoßen, hatte sie beide Hände vor ihre Augen gedrückt, und es war ihr gerade, als wanke sie hin und her und müsse im nächsten Augenblicke zusammenstürzen. Da traf auch sie die Stimme, die wir soeben vernommen, und schlug tröstend und rettend an ihr Herz. Sie streckte ihre Hände leidenschaftlich von sich ab, und indem sie sich an die Brust des unvermutet Eingetretenen warf, rief sie aus: »O, Heinrich, schütze mich, rette mich!«

»Beides will ich, meine liebe, liebe Rosa,« sprach sanft Herr Böhler, und während er sie mit dem rechten Arm umschlang, wandte er sich mit einer Bewegung der linken Hand gegen Herrn von Wenden, indem er sagte: »Sie sehen, Herr Baron, daß für Sie hier weiter nichts zu suchen ist.«

Der Kammerherr machte ein äußerst seltsames Gesicht. Es hatte in erhöhter Potenz denselben Ausdruck, wie wenn man in frühester Jugend aufs allerunvermutetste bei einem sehr schlimmen Streich überrascht wird. Es war das Gefühl eines ertappten Schulbubens, das ihn überschlich, und das auf seinem Gesichte sich zeigte in ziemlich verwirrten Blicken, in einer langen Nase und einer albern herabhängenden Unterlippe. Herr von Wenden sah in diesem Augenblicke weder schön noch liebenswürdig aus. Rosa, die schüchtern nach ihm hinschaute, drückte darauf ihr Gesicht fast schaudernd wieder an die Brust des Photographen und war gründlich und auf immer geheilt von allen Fensterbeobachtungen und von allen Versuchen des Telegraphierens, die so unschuldig aussehen und doch so gefährlich werden können.

Herr von Wenden verschwand, »und schnell war seine Spur verloren.«

Wir wollen nicht behaupten, daß sich Rosa, als sie mit Herrn Böhler allein war, nicht ein klein wenig geschämt hätte; sie mochte ihren Kopf nicht aufheben, und der Photograph brauchte bedeutende Anstrengungen, ehe er so weit kam, in ihre Augen blicken zu können. Warum brauchte er aber auch das Geschäft des Kopfaufrichtens schwerer zu machen, als gerade notwendig war! Warum brauchte er sie auf die Stirn zu küssen, als sich diese langsam erhob! Warum später auf die geschlossenen Augen und dann auf die leicht zuckenden Lippen – warum? Wir sind eigentlich nicht im stande, hierüber eine genügende Antwort zugeben, und können dem verehrlichen Leser nur bemerken, daß er es vielleicht gerade so gemacht haben würde in einem ähnlichen Augenblick des Glücks.

Herr Krimpf hatte von dem Moment an, wo er auf die Treppe gegangen war, um kühlere Luft zu atmen, die Qualen eines Verdammten durchgemacht; er hatte gesehen, wie der Herr von drüben leise die Treppe heraufschlich, er hörte ihn anklopfen, er hörte Rosa »Herein!« rufen, und als sich die Thür hinter dem Besuch geschlossen, hoffte er angsterfüllt mit klopfendem Herzen auf einen lauten Aufschrei des Mädchens und dann auf das plötzliche Wiedererscheinen des unwillkommenen Besuches draußen vor der Thür. Aber der Baron erschien nicht so bald wieder. Da hatten seine Hände bald das Geländer krampfhaft erfaßt, bald hatten sie wild nach seinem Kopfe, nach seinen Haaren gezuckt, da hatte er gefühlt, wie es hier außen auf der Treppe unendlich viel heißer sei als drinnen im Zimmer, denn der Schweiß rann ihm von der Stirn herab. Auch klappten seine Zähne zusammen, und wenn er zu lachen versuchte, so klang das gerade, als wenn ein anderer Mensch mit den Zähnen knirscht. Herr Krimpf verwünschte sich selber, weil er die Hand zu dem geboten, was geschehen; ja er verwünschte sich und schlug sich jetzt heftig vor die Stirn, um gleich darauf wieder angstvoll in das Haus hinabzulauschen. Dabei wäre es fast possierlich anzusehen gewesen, wie er jetzt langsam Stufe um Stufe die Treppe hinabschlich, um vielleicht an der Zimmerthür lauschen zu können, und wie er gleich darauf, tief unten im Hause ein Geräusch vernehmend, angstvoll wie ein gejagter Affe und mit der Behendigkeit dieses Tieres aufwärts floh. Da vernahm er bekannte Tritte, da sah er Herrn Böhler die Treppe heraufsteigen und vor dem Zimmer Rosas stehen bleiben; da bemerkte er, wie derselbe sich lauschend niederbeugte, was er sonst nie gethan, da sah er ihn die Thür leise öffnen und eintreten. Und als er das sah, biß er sich heftig in den Daumen seiner rechten Hand und murmelte mit gepreßter Stimme: »Die Würfel sind gefallen: ist das für mich ein Augenblick des Glücks oder ein Augenblick des Unglücks?«


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