F. W. Hackländer
Der Augenblick des Glücks – Aus den Memoiren eines fürstlichen Hofes
F. W. Hackländer

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Der Maler ging seiner Wege und war bald auf dem Kastellplatz. Es wurde ihm leicht, in einem dortigen Laden die nötige Erkundigung einzuziehen, und so erfuhr er denn, daß der Major von Fernow, Adjutant des Regenten, im ersten Stock desselben Hauses wohne, sowie weiter, daß dieser Herr gewöhnlich mittags um zwölf Uhr nach Hause komme. Herr Krimpf verfehlte nicht, sich um diese Stunde einzustellen und sich melden zu lassen.

Herr von Fernow empfing seinen Gast von gestern abend mit freundlichem Lächeln, und indem er es ihm leicht machte, über die kleinen Verlegenheiten hinwegzukommen, welche jenem die Erinnerung an seinen unzurechnungsfähigen Zustand verursachte, gab er ihm mit wenigen Worten der Anerkennung die beiden Photographien zurück, die, wie der geneigte Leser bereits weiß, vollkommen ausgedient und ihren Zweck erfüllt hatten.

Was die andere Sache anbelangt, so verfehlte der Major nicht, dem kleinen Maler die Zeilen des Kammerherrn zu übergeben, indem er ihm strenges Stillschweigen anempfahl und sich womöglich im Laufe des Nachmittags eine Antwort erbat.

Herr Krimpf wandte das Schreiben nach allen Seiten, und während seine rechte Hand nach der Stirn emporzuckte, erlaubte er sich die Bemerkung, er wolle allerdings die Zeilen übergeben, doch sei eine schriftliche Antwort nicht nötig, schwerlich würde sich auch das Mädchen zu einer solchen entschließen. Der Freund des Herrn Majors könne ja ohne allen Anstand in das Haus kommen, um irgend eine Bestellung oder einen Ankauf zu machen, und alsdann sehen, ob ihm das Glück günstig sei. Hierzu sei zwischen fünf und sechs Uhr nachmittags die beste Stunde.

Diesen Vorschlag fand Herr von Fernow in mehreren Beziehungen passend, und indem er sagte: »So kann die Bestimmung zwischen fünf und sechs Uhr als Antwort gelten,« empfahl er dem kleinen Maler dringend, das Billet auf alle Fälle zu übergeben und entließ ihn alsdann mit einem glänzenden Geschenk, welches anzunehmen sich übrigens Herr Krimpf mit Mund und Hand, das heißt mit der rechten Hand, weigerte, während die linke es langsam in die Rocktasche schob. Dann ging er nach Hause zurück, und während er der Pfahlgasse zuschlenderte, überlegte er, ob es in der That rätlich sei, das Briefchen an seine Adresse zu befördern.

»Eigentlich ist es unnötig,« sprach er bei sich selber. »Hat der Herr da drüben das Verlangen, sein Abenteuer mit Rosa zu bestehen, so mag in der That die Bemerkung, daß zwischen fünf und sechs Uhr die passendste Zeit ist, als Antwort gelten, und er kann thun, was ihm beliebt. Warum soll ich eigentlich die Kastanien aus dem Feuer holen? Weist sie den Brief zurück, so hat sie auch keine Verpflichtung, vor meinem Freund und Kollegen Böhler zu schweigen, und dann könnte ich doch mit demselben in sehr unangenehme Erörterungen geraten. Besser, wir behalten den Brief als Muster, wie vornehme Leute dergleichen Sachen schreiben.«

Mit diesen löblichen Vorsätzen stieg der Herr Krimpf langsam die Treppen hinauf und kam gerade zur rechten Zeit, um an dem bescheidenen Mittagsmahl der Familie teilzunehmen. Der Photograph war nicht froh gestimmt, und selbst Frau Böhler, die sonst alles in rosenfarbener Laune anzusehen pflegte, war etwas mißvergnügt. Unangenehmes war eigentlich nicht vorgefallen; nur hatte sich der Augenblick des Glücks, als jene beiden Herren damals in dem Atelier erschienen, noch nicht als solcher bewährt, denn es waren weder Nachbestellungen noch neue Kunden gekommen und die gespensterhafte Maschine blieb fast den ganzen Tag mit ihrem Tuche verhüllt.

Daß dem Herrn Krimpf sein Mittagessen ausnahmsweise gut geschmeckt habe, wollen wir gerade auch nicht behaupten. Er fühlte doch, wie schlecht er an seinem Freund und Kollegen gehandelt, und jetzt, wo die Sache eingeleitet war, konnte er sich hie und da eines lauten Herzklopfens nicht erwehren. Es war ein Glück, daß er nie jemand frei in die Augen schaute, sondern immer nur von der Seite blinzelte; denn heute wäre ihm das erstere, besonders als Heinrich Böhler freundschaftlich wie immer sein Brot mit ihm teilte, doch unmöglich gewesen.

Nach dem Mittagessen begab sich der Photograph in eine Kunsthandlung, für die er mehrere Bilder angefertigt hatte, und der kleine Maler nahm eine Arbeit vor, die ihm aber heute nicht besonders von der Hand gehen wollte. Er konnte weder einen ordentlichen Strich machen, noch eine rechte Farbmischung treffen. Auch horchte er immer auf die Uhr des benachbarten Kirchturmes, und wenn es ein Viertel weiter schlug, so war es ihm gerade, als schlage der Hammer auf sein eigenes Herz. Neben dem Bewußtsein des Unrechts, das er seinem Freunde zugefügt, und ebenso dem Mädchen, das ihm nie etwas zuleide gethan, begann auch eine wilde Eifersucht in seiner Brust aufzusteigen. Herr Krimpf hatte Phantasie, und er fing an, sich die Szene, die sich ja um fünf Uhr möglicherweise ereignen konnte, mit so wilden Farben auszumalen, daß er mühsam nach Atem schnappen mußte, und daß er fühlte, wie sein Haar auf der Stirn festklebte. Hatte er doch die Stunde zwischen fünf und sechs Uhr teuflisch gut gewählt! Da war Rosa fast immer allein zu Hause, denn um diese Zeit pflegte die alte Weiher ihre Nachbarinnen zu besuchen. – Teufel? warum raste heute die Zeit so außergewöhnlich schnell dahin! – Kaum war zwei Uhr vorüber und schon schlug es drei! Ja, im Uhrwerk muß das Räderleben ebenso heftig pulsieren, wie das Herz des kleinen Malers schlug. – Schon vier, dann halb fünf, und da er angestrengt in den unteren Stock hinablauschte, hörte er jetzt, wie die alte Frau Weiher ausging, um ihre Besuche in der Nachbarschaft zu machen. – Ah! es war entsetzlich heiß im vierten Stock! Auf der Treppe mußte es gewiß ein wenig kühler sein.

Rosa saß in ihrem Zimmer und war still und fleißig mit ihrer Stroharbeit beschäftigt. Wenn das Band, welches sie flocht, hätte reden können, so würde die spätere Besitzerin desselben von allerlei seltsamen Gedanken, die aus ihm heraustönten, überrascht worden sein; denn während Rosa die feinen Strohhalme kunstreich durcheinanderschob und befestigte, dachte und träumte sie unablässig, bald leise, bald laut, letzteres aber meistens in solchen Augenblicken, wenn sie die Hände mit der Arbeit in den Schoß sinken ließ, das liebe, frische Gesichtchen emporhob und mit den guten klaren Augen an das Stückchen Himmel emporblickte, das, von einem melancholischen Dachladen und von einem finsteren Schornstein eingerahmt, gerade dadurch recht heiter und blau herniederblickte. Es war eigentümlich, daß, wenn sie die Augen niedersinken ließ, sie fast ängstlich vermied, nach dem gegenüberliegenden Fenster zu blicken, und dann doch wieder verstohlen hinübersah. Auch fühlte sie ihr Herz heftiger schlagen, wenn sie dort zuweilen eine bekannte Gestalt gewahr wurde, die sich heute nachmittag häufiger als sonst sehen ließ und auf eine fast komische Art einen Blumenstrauß handhabte. Nicht um eine Million wäre sie ans Fenster gegangen. Sie hatte letzteres anfangs ganz unbewußt und unschuldig gethan; es war ihr wie eine kindische Spielerei vorgekommen, der sie in ihrer Phantasie gar keine Folge gegeben; und so wäre es auch geblieben, wenn der Photograph sie bei der neulichen Unterredung nicht aufmerksam gemacht und sie dadurch zu ihrem eigenen tiefen Erschrecken über eine Spielerei aufgeklärt hätte, die sie in der That nicht für der Rede wert gehalten und die doch nicht so ganz unschuldig war, wie sie anfänglich selbst geglaubt.

Ja, sie war häufiger ans Fenster getreten, als sie früher gethan und als gerade notwendig gewesen. Sie hatte anfänglich aus Neugierde hinübergeblickt, wenn er hergeschaut, und als er drüben auffallende Zeichen machte, da hatte sie zuerst noch einmal sehen wollen, ob ihr diese Zeichen wirklich galten, und darum fuhr sie mit der Hand über ihr dunkles Haar, als jener den Blumenstrauß vor seine Lippen brachte. Doch war sie über ihr eigenes Thun erschrocken, und daß sie eine derartige Zeichensprache so bald ohne Lehrmeister gelernt. Verstand sie doch vollkommen, wenn er drüben gestern das Zeichen des Schreibens gemacht, denn es war klar, daß er damit anzeigen wollte, er werde sich in den nächsten Tagen erlauben, einige Zeilen an sie zu richten. Was er aber heute nachmittag damit sagen wollte, daß er seinen Blumenstrauß in verschiedenen Pausen fünfmal an die Lippen gebracht, das wußte sie nicht. – War es ihr doch auch gleichgültig, denn mehr noch als die vorwurfsvollen Worte Heinrich Böhlers hatten sie ein paar Worte ihrer Mutter zurückgeschreckt, als diese noch heute morgen von einem unverhofften Glücke sprach, das oft einem armen und schönen Mädchen widerfahren könne, und sie hierauf sehr weitschweifig von Rosas Freundin, der Emma Schwertel erzählte, die nun doch ihren Lieutenant heiraten werde, welcher noch obendrein Baron sei. »Ja,« hatte sie hinzugesetzt, »der Herr Kammerherr Baron von Wenden ist sehr reich und so unabhängig, daß er nach keinem Menschen etwas zu fragen hat.« Rosa überlief es bei diesen Worten unheimlich, denn sie liebte ihren Verlobten innig, sie würde ihn in der That nicht verlassen haben, und wenn zehn Barone, zehn Wenden gekommen wären. Selbst daß sie lange warten mußte, bis er sich ein ordentliches Einkommen gesichert, selbst das hatte ihre Liebe stark gemacht, denn sie wußte, welche Mühe er sich gab, und welch Unglück ihn jedesmal betroffen, wenn er am Ziele seiner Wünsche zu sein schien. – Das konnte aber nicht immer so fortgehen; auch sie hoffte auf einen endlichen Augenblick des Glücks.

Da klopfte es leise an die Stubenthür, und da das nichts Außergewöhnliches war, so rief Rosa ein herzhaftes »Herein!« Wie ward ihr aber zu Mut, als sich nun die Thür öffnete und ihr Gegenüber, mit dem sie sich soeben beschäftigt, Herr von Wenden, in das Zimmer trat. Es war ihr, als sähe sie ein Gespenst, denn wenn sie auch thöricht genug gewesen war, aus einer Entfernung von guten hundert Schuhen nach ihm, der jetzt vor ihr stand, hinüberzulächeln, so war es ihr doch immer zu Mut gewesen, als sei das da drüben nur eine Phantasie, nur ein Bild, eine Art von Puppe, ein Automat, der wohl einen Blumenstrauß hin und her bewegen könne, aber der weder die Macht noch die Lust habe, in ihre Nähe zu kommen. Die Gasse, welche ihr Haus von dem seinigen trennte, war ihr immer als ein Abgrund erschienen, der nicht zu überschreiten sei, über den weder Weg noch Steg führe. Unter dem Schutze dieses Abgrunds war sie ans Fenster getreten, unter seinem Schutze hatte sie gelächelt, wenn der drüben gar zu possierliche Bewegungen machte. Und das Wesen stand jetzt vor ihr auf zwei Schuh Entfernung, sehr körperhaft, zierlich gekleidet, freundlich lächelnd und dem armen Mädchen einen solchen Schreck einjagend, daß sie unwillkürlich mit beiden Händen an ihr Herz fuhr.


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