Herman Grimm
Das Leben Michelangelos
Herman Grimm

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III

Es war gesagt, daß die Zwickel des Gewölbes immer zwischen den Fenstern hinab in die Seitenwände verliefen. An den breiten Wänden sind es deren je fünf, an den schmaleren ist es nur einer, der gerade in der Mitte liegt. Auf diese zwölf Gewölbespitzen hat Michelangelo zwölf ungeheure Gestalten gemalt, die, mit den Häuptern bis empor ans Gesims der von ihm erfundenen Architektur reichend, perspektivisch so gezeichnet sind, als säßen sie rings im Innern des großen Marmortempels droben und bedächten den Inhalt der Gemälde, die über ihnen in der Mitte der Decke liegen.

In den Märchen von den ältesten Zeiten der Erde erscheinen die Menschen schöner, riesenhafter und von einfacheren gewaltigeren Leidenschaften erfüllt als heute. Nur wenige waren es, die, über den unberührten Boden der Länder wandelnd, damals wie einsame Löwen dahingingen. Griechenland ist wie ein einziger Frühlingswald, aus dem der Olymp und die anderen Berge aufragen, von denen zu den Wellen eines sonnigen Meeres hinabrauschende Flüsse eilen; Asien ein ungeheurer Weidegrund für die Herden Abrahams oder der Schauplatz der Kämpfe vor Ilion, von deren Gedröhn die ganze Erde zitterte, daß Menschen und Götter ringsum heraneilen, um den Ausgang des Streites zu erwarten.

In den Sagen der Völker gibt es eine Epoche, wo das Menschliche und Göttliche sich vermählend eine solche riesenhafte Titanengeneration erschafft, die der unsrigen weit vorangehend, seit Jahrtausenden in tiefen Höhlen sitzt, um eines Tages neu heraufzusteigen.

Es ist, als hätte Michelangelo diese Schöpfung im Geiste gesehen, als er seine Sibyllen und Propheten malte. Lesend, sinnend oder zur Begeisterung entzückt, sitzen sie auf ihren Plätzen, als erfüllten sie Gedanken, über denen sich Jahrtausende brüten ließe. Man könnte denken, vor langen Zeiten seien diese Männer und Frauen hinabgestiegen in die verborgenen Klüfte der Erde, und in Nachdenken versinkend fänden sie, wenn sie einst erwachend neu emporsteigen werden, die Erde dann wieder rein und unberührt und ahnten gar nichts von dem, was innerhalb der zehn- oder zwanzigtausend Jahre, die sie verträumten, an menschlicher Geschichte da oben vorgegangen sei.

Ich beschreibe diese Gestalten nicht, deren ganze Reihe in Worten auszudrücken wohl möglich wäre, dennoch, wenn es richtig geschehen sollte, ein Stück Arbeit, dem ich mich kaum gewachsen fühle. Denn es erforderte nicht bloß eine deutliche Aufzählung dessen, was man von äußeren Attributen und von der Bewegung des Körpers an ihnen bemerkt, sondern eine Geschichte ihrer Darstellung in der italienischen Kunst und eine Vergleichung ihres Charakters, wie ihn die alten Schriften zeigen, mit Michelangelos Auffassung. Er kannte die Bibel und las sie immer wieder, er fand außerdem eine kirchliche Tradition vor über die Persönlichkeiten der Sibyllen und Propheten. Es bedürfte genauerer Studien, als ich sie gemacht habe, um hier zu erkennen, was ihm gegeben ward und was er aus sich selbst nahm.

Alle zwölf Gestalten zusammen scheinen die Vertiefung des menschlichen Geistes in die biblischen Geheimnisse auszudrücken, und zwar vom träumenden Ahnen der Dinge an, durch alle Stufen des bewußten Denkens hindurch bis zum Schauen der Wahrheit selber im Rausche der höchsten Entzückung. Die Idee, die Stufen irdischer Erkenntnis in verschiedenen Personen anwachsend gleichsam darzustellen, war keine ungewöhnliche. Reizend ist die Art, wie man die Tätigkeit der erhabensten Schriftstellerei in den vier Evangelisten darstellte. Das Kreuzgewölbe einer Kapelle teilt sich in vier zusammenstoßende Dreiecke. In der Mitte malte man das Symbol der Dreieinigkeit, in jedes der Dreiecke einen Evangelisten. Den einen, wie er einem Engel lauscht, dessen Worte ihm der Aufzeichnung wert erscheinen, den zweiten, wie er die Hand erhebt, um die Feder einzutauchen, den dritten, wie er sie eintaucht, den vierten endlich, wie er die Hand mit der Feder aufs Blatt gelegt und zu schreiben begonnen hat.

Hier aber, wo es sich um viel Höheres handelte, genügten zwölf Figuren kaum. Wir sehen den Propheten Jeremias, die Füße unter sich gekreuzt, vorgebeugt, den Ellenbogen des linken Armes auf den Schenkel aufsetzend und die Hand über dem Munde in den gewaltigen Bart des sich aufstützenden Hauptes vergraben, das Bild des tiefsten ruhigen Nachdenkens. Wir sehen im folgenden Zwickel des Gewölbes die persische Sibylle, eine alte, in Gewänder verhüllte Frau, die mit beiden Händen das Buch, in dem sie liest, dicht vor die Augen hinaufhält. Dann Ezechiel, mit heftig vorgeneigtem Oberkörper, die rechte Hand beweisend vorgestreckt, in der linken ein entrolltes Pergament haltend; es ist, als sähe man die Gedanken sich in seinem Geiste durcheinanderwälzen. Dann wieder ein Bild, wie die bloße Aufmerksamkeit unmerklich zur Begeisterung schwillt: die erythreische Sibylle, eine wundervolle jugendliche Frauengestalt.

Sie sitzt, im Profil gesehen, nach rechts gewandt; das eine Bein mit schwebendem, unbekleidetem Fuße ist über das andere gelegt, und in die schöngestreckten Falten des Gewandes, die durch diese Stellung um sie her gezogen werden, taucht die Hand des nackten, herabsinkenden rechten Armes ein, als ruhte sie darin. Vorgebeugt blättert sie mit der Rechten in einem Buche, das auf einem Pulte vor ihr liegt. Eine in Ketten darüber hängende Lampe zündet ein nackter Knabe mit einer Fackel an.

Dann der Prophet Joel, mit beiden Händen breit unter seinen Augen ein Pergament entrollend und um den unbärtigen Mund das Spiel der Muskeln, die das innerlich abwägende Zurechtlegen des Gelesenen andeuten. Dann Zacharias, in sein Buch ganz vertieft, als würde er nie wieder zu lesen aufhören. Dann die delphische Sibylle, jung, schön, ganz von vorn, den begeisterten Blick emporgerichtet, während ein sanfter Windstoß ihr Haar zur Seite wirft, über das ein meergrüner Schleier hängt, und den bläulichen Mantel gleichfalls wie ein Segel zu sanfter, voller Rundung aufbläst. Prachtvoll sind die Falten des dicht unter der Brust von einem Gürtel geschlossenen Gewandes. Dann Esaias, mit leicht gerunzelter Stirn, die linke Hand mit aufgestrecktem Zeigefinger, die rechte in die Blätter eines geschlossenen Buches greifend. Dann die cumäische Sibylle, mit halbgeöffnetem Munde unbewußt aussprechend, was sie liest. Dann Daniel.

Vor ihm ein Knabe, der auf dem Rücken ein aufgeschlagenes Buch ihm unter seine Augen hält; er aber, ein schöner Jüngling, seitwärts daran vorüber in die Tiefe starrend, scheint den Worten zu lauschen, die zu ihm auftönen, und vergessend, daß er gar keine Feder in den Händen halte, macht er mit der Rechten die Bewegung des Schreibens auf einem anderen Buche, das zu seiner Rechten auf einem Pulte liegt.

Dann die libysche Sibylle, die mit rascher Bewegung des ganzen Körpers nach einem hinter ihr liegenden Buche greift, als müsse sie auf der Stelle etwas nachlesen. Endlich Jonas, der rückwärts liegend, beinahe nackt, eben dem Rachen des Fisches entschleudert worden ist, der hinter ihm sichtbar wird. Das wiedergeschenkte Licht des Tages erfüllt ihn mit blendendem Entzücken; so sehen wir ihn im Sinne der Kirche als ein irdisches Symbol der Auferstehung und der Unsterblichkeit. Überaus kunstvoll ist die Verkürzung der Gestalt, die, auf der sich uns zuneigenden Wölbung gemalt, dennoch zurückzuweichen scheint.

Unter diesem Propheten, der die Mitte über einer der schmaleren Wände der Kapelle einnimmt, malte Michelangelo dreißig Jahre später das jüngste Gericht, das die ganze Wand von oben bis unten bedeckt, das Hauptwerk seines Alters, wie die Gemälde der Decke die Tat seiner Jugend sind. Würdige Symbole beides der Lebenszeit, in der er sie geschaffen hat. Denn wie es natürlich erscheinen muß, daß er in jüngeren Jahren den weit zurückliegenden göttlichen Anfang der Dinge ergriff und gestaltete, ebenso angemessen ist es, daß er als Greis den Schluß der unendlichen Zukunft darzustellen versuchte.


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