Herman Grimm
Das Leben Michelangelos
Herman Grimm

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IV

Der Kardinal di San Giorgio, von dem Michelangelo so gut aufgenommen worden war, gab sich in der Folge trotzdem nicht als den Mann zu erkennen, von dem etwas zu erwarten gewesen wäre. Er ließ zu der Zeit, als Michelangelo in Rom ankam, in der Nähe des Campo del Fiore einen umfangreichen Palast bauen, an dem er ihn leicht hätte beschäftigen können. Dies muß der »neue Bau« sein, von dem im Briefe an Lorenzo dei Medici die Rede ist. Schien der Kardinal anfangs Michelangelo dabei benutzen zu wollen, wie gleichfalls aus dem Briefe hervorgeht, so gab er ihm in der Folge trotzdem keine Aufträge. Auch zog er sich aus der Affäre mit Messer Baldassare auf wenig fürstliche Weise heraus. Er nötigte den Kaufmann, das Geld wieder herzugeben und die Statue zurückzunehmen. Michelangelo hatte erwartet, der Kardinal würde den Baldassare zwingen, ihm den unterschlagenen Rest zu zahlen. Nun war er vielleicht froh, seine dreißig Dukaten behalten zu dürfen. Auch von der lebensgroßen Figur, zu der er gleich in den ersten Tagen Marmor kaufte und die offenbar vom Kardinal bestellt worden war, wird nichts weiter gesagt. Es muß zwischen ihnen beiden irgend etwas vorgefallen sein, was dem Verhältnis einen Stoß gab. Denn Condivi, der nach Michelangelos eigenen Worten schrieb, spricht sich hart über das Benehmen des Kardinals aus, ohne jedoch nähere Angaben zumachen.

Nur in sehr mittelbarer Weise machte sich Michelangelo im Hause San Giorgios geltend. Vasari erzählt, derselbe habe einen Barbier gehabt, der sich aufs Malen gelegt, aber vom Zeichnen nichts verstanden hätte. Diesem habe Michelangelo den Karton zu dem heiligen Franziskus, wie er in der Verzückung die Wundmale empfängt, angefertigt. Varchi lobt das Bild in seiner Leichenrede auf Michelangelo. Lomazzo will den Karton gesehen haben und sagt, es sei ein strahlenausstreuender Serafim mit sechs Flügeln darauf. Da jedoch Condivi darüber schweigt und von Varchi und Lomazzo nicht bekannt ist, ob sie es in Rom selbst gesehen oder nur in Vasaris Buche darüber gelesen haben, so bleibt die Sache ungewiß. Möglich wäre, daß der heute in San Piero in Montorio, wo das Gemälde sich in der ersten Kapelle linker Hand befunden haben soll, sichtbare heilige Franziskus die letzten Reste dieser Malerei unter sich trägt.

Dagegen möchte ich in diese ersten römischen Zeiten eine Arbeit setzen, von der freilich niemand etwas erzählt, die aber unzweifelhaft von Michelangelo geschaffen worden ist und sich allen Merkmalen nach am besten hier einreiht: die Madonna des Nationalmuseums in London, welche, ehe sie an dieser Stelle einen festen Platz erhielt, in den Händen verschiedener Besitzer war, nach denen sie zeitweise genannt worden ist.

Es ist ein Temperabild und unvollendet. Die Komposition zerfällt in drei Teile: in der Mitte die Madonna, rechts und links von ihr je zwei jugendliche Gestalten dicht nebeneinander, Engel wenn man will. Die zur Linken sind nur in Umrissen da, die auf der anderen Seite aber vollendet und von so rührender Schönheit, daß sie zu dem Besten gehören, das Michelangelo hervorgebracht hat. Sei stehen dicht nebeneinander, zwei Knaben zwischen vierzehn und fünfzehn Jahren etwa, der vorn stehende im Profil sichtbar – die ganze Gestalt herab –, der hinter ihm en face; dieser hat seinem Genossen beide Hände auf die Schulter gelegt und blickt mit ihm zugleich auf ein Pergamentblatt, das derselbe mit beiden Händen vor sich hält, als läse er darin, auch hat er den Kopf etwas vorgeneigt und die Augen darauf niedergeheftet. Ein Notenblatt vielleicht, von dem beide singen; die halbgeöffneten Lippen könnten es andeuten. Die nackten Arme, die Hände, die das Blatt halten, von jugendlicher Magerkeit beide, aber mit einer Naturbeobachtung gemalt, die zu loben oder zu beschreiben unmöglich ist, reichten allein hin, um dieser Gestalt den höchsten Wert zu geben. Dazu aber der Kopf, die köstlich schlanke Figur, das leichte Gewand in anliegenden, vielfach geknickten Falten bis über die Knie herab, dann das Knie und das Bein und der Fuß; – es gibt eine Darstellung der Natur, die etwas fast zu Ergreifendes hat, – man fühlt tief im Herzen eine Liebe zu diesem Kinde und möchte die Hand ins Feuer legen, daß es rein und unschuldig sei. Das Gewand des anderen ist dunkel, es liegt ein Schatten über den Augen und im Auge selbst ein ganz anderer Charakter, doch nicht weniger liebenswürdig. Auch das Haar anders, die Locken dichter, dunkler und in Häkchen ausfahrend, während die des ersten sanfter und voller, hinter das Ohr zurückgestrichen, auf dem Nacken liegen.

Die Jungfrau sehen wir ganz von vorn. Ein heller Mantel ist auf der linken Schulter mit den Zipfeln zu einem starken Knoten zusammengebunden, verhüllt den rechten Arm beinahe und ist unten weitfaltig um und über die Knie geschlagen. Auf dem dunklen Haar liegt ein weißer Schleier, doch so, daß es ringsum sichtbar bleibt. Über ihren Schoß hin greift das Jesuskind nach dem Buche, das die Mutter in der Linken haltend ihm entzieht, wobei die Rechte, unter dem Mantel vorkommend, ihr behilflich wird. Es ist, als hätte auch sie selbst im Chor mitgesungen und eben das Blatt umwenden wollen, als das Kind ihr ins Buch griff, das sie leise nach links emporhält. Johannes steht rechts neben dem Jesuskinde mehr im Hintergrunde; ein Tierfell ist um das kleine Körperchen geschlagen, doch fast ohne es irgendwo zu verhüllen. Das Licht kommt von der Linken, dadurch fällt der Schatten, den die Gestalt der heiligen Jungfrau wirft, ein geringes über ihn.

Die beiden nur mit wenigen Linien angedeuteten Gestalten auf der anderen Seite neben der Madonna waren vielleicht Mädchen, im Gegensatze zu den Knaben dort. Von der Farbe kann ich nichts sagen, da ich nur Photographien vor Augen hatte.

Michelangelo hat viel unvollendete Werke hinterlassen. Seine heftige, oft abspringende Natur war schuld daran. Hier vielleicht mögen besondere Umstände mitgewirkt haben, die seinem Gedächtnisse jedoch wie das Bild selbst und die ganze so entfernt liegende Zeit nicht mehr zurückkehrten. Wüßte man, woher die Tafel stammt, so ließe sich möglicherweise dadurch mehr Licht gewinnen.

Michelangelos erste notorische Arbeit, die er in Rom ausgeführt hat, ist seine Statue des trunkenen Bacchus, die Arbeit wohl, an der er im August 1497 beschäftigt war. Er schreibt seinem Vater darüber. Nachdem er im Juli gemeldet, man solle ihn in Florenz nicht sobald zurückerwarten, weil der Kardinal noch immer nicht bezahlen wolle und man bei großen Herren nur allmählich mit seinen Ansprüchen aufkomme, meldet er sieben Wochen später, wie es ihm mit Piero dei Medici gegangen sei. Dieser habe ihm eine Statue in Auftrag gegeben, doch sei nichts daraus geworden, »weil ihm von seiten Pieros nicht gehalten worden sei, was er ihm anfangs zugesagt«, und deshalb, nachdem er obendrein bei dem Marmor Unglück gehabt und Geld verloren habe, arbeite er zu seinem eigenen Vergnügen jetzt an einer Figur.

Ist in der Tat der Bacchus hier gemeint, so fand sich auch ein Abnehmer dafür in der Person des Jacopo Galli, von Condivi ein Gentiluomo Romano »di bello ingegno« genannt, ein gebildeter, vornehmer Mann also. Dieser ließ das Werk für sich ausführen, das heute noch in unversehrtem Zustande erhalten ist, eine lebensgroße Gestalt, von der Michelangelos Zeitgenossen mit Bewunderung reden, während Neuere in diese unbedingte Anerkennung nicht einstimmen wollen.

Es ist kein göttlicher Rausch, von dem wir den Gott durchströmt sehen, kein heiliges Feuer der Trunkenheit, von dessen Gluten umhaucht uns die alten Dichter den die Welt durchziehenden Dionysos erblicken lassen, sondern das Taumeln eines weinerfüllten Menschen, der mit lächelndem Munde und matten Gliedern sich aufrecht zu erhalten strebt. Dennoch aber kein alter dicker Bauch, nichts Aufgeschwemmtes, sondern ein jugendlich schöngebildeter Körper. Mit der Antike verglichen, ein beinahe widerliches Abbild irdischer Schwäche, mit der Natur zusammengehalten, trotzdem das ideale Bild der von Wein erzeugten, zu den Wolken tragenden Fröhlichkeit.

Hören wir Condivi. »In jeder Hinsicht«, schreibt er, »ist dieser Bacchus der Gestalt und dem Ausdrucke nach den Worten der antiken Autoren entsprechend hingestellt. Das Antlitz voll heiterer Seligkeit, den Blick üppig und verlangend, wie bei denen der Fall zu sein pflegt, die den Wein lieben, hält er in der Rechten eine Schale, als wollte er trinken, und sieht sie an, als schlürfte er in Gedanken den Wein schon, dessen Schöpfer er ist. Deshalb trägt seine Stirne auch einen Kranz von Weinlaub. Über dem linken Arm hängt ein Tigerfell, weil ihm der Tiger, der den Wein liebt, heilig war. Mit der Hand hat er eine Traube gefaßt, von der ein kleiner hinter ihm stehender Satyr gewandt und listig die Beeren abnascht. Der Satyr ist wie ein siebenjähriges Kind, der Gott selber wie ein achtzehnjähriger Jüngling.«

Daß Condivi sich nur auf die antiken Schriftsteller und nicht auch auf die antiken Skulpturen beruft, ist ein Zeichen der Unbefangenheit, mit der man selbst in seinen Zeiten noch dem Altertum frei gegenüberstand. Man benutzte, was es darbot, sich aber durch es bestimmen zu lassen, fiel niemand ein. Szenen aus der griechischen Götterwelt wurden ebenso in die neueste Geschichte verlegt, wie dies mit den biblischen Erzählungen geschah. Mars ist ein nackter Florentiner, Venus eine nackte jugendliche Florentinerin, Cupido ein Kind ohne Kleider. Dem Künstler kam es nicht in den Sinn, die Natur, die er vor sich sah, etwa auf antike Muster hin verbessern zu wollen, zu »idealisieren«, wie heute der Handwerksausdruck lautet. Es wäre eine Unnatur gewesen, hätte Michelangelo einen trunkenen Bacchus anders darstellen wollen. Es ist ein vom Wein berauschter, nackter Jüngling. Er ist aufs Feinste ausgearbeitet. Seine Glieder sind rein und tadellos. Immerhin mag man sagen, die Natur des alten Donatello habe hier im jungen Michelangelo gewaltet. Aber wenn das Antlitz der Statue etwas gemein Natürliches an sich hat, so findet das darin seinen Grund, daß er einen silenenhaften Familienzug milde, aber erkenntlich hineinlegen wollte.

Gedenken wir aber noch einmal des schwärmenden Gottes der Griechen, dessen leuchtende Schönheit die empörten Schiffer bändigt und der die Tränen der verlassenen Ariadne trocknet. Durchdrungen von derartigen Anschauungen und befangen außerdem von der Erinnerung an die Werke der griechischen Bildhauer, deren zu Michelangelos Zeiten nur wenige bekannt waren, müssen wir heute uns künstlich erst auf seinen Standpunkt versetzen, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Michelangelos Statue steht heute in der Nationalgalerie in ebenso ungünstigem Lichte wie früher in den Uffizien. Shelley, der große englische Dichter, nennt sie in einem seiner Briefe ein empörendes Mißverständnis des Geistes und der Idee des Bacchus. Betrunken, brutal, albern, sei sie ein Bild der abscheulichsten Völlerei. Die untere Hälfte steif, die Art, wie die Schultern an Hals und Brust ansetzen, unharmonisch; kurz, die zusammenhanglose Phantasie eines Katholiken, der einen Bacchus göttlich habe darstellen wollen.

So ungerecht macht die Unkenntnis der näheren Umstände. Shelley kannte keine einzige der Bedingungen, unter denen dieses Werk entstanden war. Dennoch widerruft er sein Urteil selbst. »Die Arbeit aber, an sich betrachtet, hat Verdienste«, bemerkt er weiter. »Die Arme sind von vollendeter männlicher Schönheit, der Körper ist energisch modelliert, und alle Linien fließen kühn und wahrhaftig empfunden eine in die andere. Als Kunstwerk fehlt ihm nur die Einheit, als Bacchus alles.« Dieser Mangel an Einheit erschien Shelleys Augen gewiß nur deshalb als ein Fehler, weil die Statue am falschen Orte stand. Im Hofe des Palazzo Galli in Rom, wo sie noch zu Condivis Zeiten befindlich war, muß sie von der kühl hinunterströmenden Helligkeit des freien Himmels ganz anders umleuchtet gewesen sein. Der im Berliner Museum aufgestellte Abguß erlaubt, die Arbeit nun auch von der Rückseite zu betrachten. Die Beine und der Rücken zeigen hier eine bewunderungswürdige Feinheit der Ausführung.

Für denselben Galli arbeitete Michelangelo einen Cupido, der, nach fast drei Jahrhunderten des Verstecktseins, im Kensington-Museum wiederaufgetaucht ist, wohin er aus der Sammlung Campana in Rom gelangte. Daß er in dieser vorhanden war und woher er in sie kam, weiß und wußte niemand.

Ich kenne die Arbeit aus einem Gipsabguß sowie aus zwei vorzüglichen Photographien. Mit dem einen Knie auf dem Boden ruhend, stemmt Amor sich mit dem straffen Arme gegen die vordere Lehne des Wagens, auf dem er fährt, während er mit der anderen erhobenen Hand – die freilich heute restauriert ist – die Zügel der Tauben leicht hält, die einst vor dem Wagen vorn als Gespann sichtbar waren. Offenbar war er für einen hohen Standpunkt berechnet und darf deshalb auch im Abgusse nur von unten auf betrachtet werden. Wir haben nichts vor uns in ihm als einen Knaben von acht bis zehn Jahren, mit unendlicher Sorgfalt der Natur nachgebildet. Arme, Rücken, Schulter, Knie: alles flößt Bewunderung ein. Das Fleisch scheint weich, die Muskeln sind wie beweglich, das Momentane der Stellung ist in wunderbarer Kunst wiedergegeben.


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