Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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Ungeachtet seiner Erschöpfung fand Laudin noch Kraft zu dem einen, das ihm an diesem Tag zu tun übrigblieb und das ihm vermutlich als das Unerläßlichste von allem erschien.

Kein Zweifel, er hätte einen andern Weg wählen können, um den Zweck zu erreichen, der ihm vorschwebte und von dem er sich allerdings genaue Rechenschaft aus irgendwelchen Gründen nicht ablegte. Einen minder öffentlichen, minder provokanten und geschäftig übelwollender Nachrede minder ausgesetzten Weg. In einer gleichmütigeren, sozusagen trivialeren oder in gewisser Hinsicht weltlicheren Verfassung hätte er sicher denselben Bedenken Raum gegeben, deren sich, nachher freilich, auch die bestgesinnten unter seinen Freunden nicht entschlagen konnten.

Es ist damals über den Fall viel geredet und geschrieben worden. So ungewöhnlich der Vorgang an sich war, daß ein Anwalt von Ruf und bedeutender Wirksamkeit am Tage der Verhandlung und im Gerichtssaal die Vertretung seines Klienten niederlegte, haftete ihm doch andererseits eine eigentümliche Aktualität an, da sich wenige Wochen zuvor bei einem großen Betrugsprozeß in Rom genau das nämliche ereignet hatte. Auch dort hatte ein Verteidiger von Rang und Namen im letzten Moment erklärt, er sei nicht imstande, die Interessen seines Klienten in wünschbarer Weise zu vertreten, da er nach neuerlichem sorgfältigen Studium der Akten und nach Prüfung seines Gewissens nicht mit jener Überzeugung plädieren könne, die er von sich selber, die sein Schutzbefohlener von ihm fordern müsse. Zu gleicher Zeit und ganz unabhängig von dieser wirklichen Begebenheit machte ein Schauspiel Aufsehen, das über viele in- und ausländische Bühnen ging und worin derselbe seelisch-geistige Konflikt den Charakter einer Problemstellung angenommen hatte.

Gegenstand allgemeiner Debatte war vornehmlich, ob ein Advokat vom menschlichen wie vom beruflichen Standpunkt aus das Recht zu solcher Handlung habe, schon gar in einem so gefährlichen, für die Nächstbeteiligten geradezu verhängnisvollen Moment, wie der Beginn der Gerichtssitzung einer ist. Obwohl die Angelegenheit, der sich Laudin im letzten Augenblick versagte, anfangs durchaus kein sensationelles Gepräge trug, ein einfacher Zivilprozeß um Geld- und Nachlaßstreitigkeiten, wirbelte sein überraschendes und, wie man fand, etwas theatralisches Auftreten viel Staub auf; das Publikum äußerte sich teils mit Entrüstung, teils mit Befremden über die unerhörte Begebenheit; man brachte sie in Zusammenhang mit nicht sehr ehrenvollen Gerüchten, die über Laudin liefen und die jetzt aus der Heimlichkeit hervorbrachen wie Ungeziefer aus einem baufälligen Haus; später beschäftigte sich auch die Advokatenkammer mit der Sache und produzierte eine stattliche Anzahl von gelehrten Gutachten und Deduktionen.

Laudin selbst dachte nicht an die Folgen seines Tuns. Am Tag und zur Stunde des Geschehens waren keinerlei Gedanken oder Betrachtungen in ihm. Vielleicht hatte er noch nie derart unter dem Eindruck einer Zwangsvorstellung gehandelt. Es war wie der unabänderliche Räderlauf eines Mechanismus, der dann auf einmal stillsteht, wenn das Triebwerk seine vorbestimmte Aufgabe gelöst hat. Es ging nicht um das einzelne, an diesem Termin zur Verhandlung anberaumte Faktum; der besondere Rechtsfall Altacher kontra Ernevoldt war völlig gleichgültig; von Belang war die Szene; mehr noch das ins Gehirn geätzte Bild von ihr; Unscheinbarkeiten gaben stärkeren Ausschlag als was unmittelbar vor der Entscheidung stand; das Haus, die Amtsstuben überschwemmten den Geist mit freudlosen Erinnerungen. Die staub- und modergeschwängerte Luft, hatte sie nicht zahllose Male den Aufschwung gelähmt, das reinere Wollen erstickt? Die Nummern und Namen an den Türen, die gedruckten Anzeigen an den Mauern der Korridore, unzählige Male ist das Auge darüber hinweggeglitten und hat einen Eindruck von uralt Verlebtem und von hoffnungsloser Wiederholung mit fortgenommen. Da ist eine Siebzehn; sie sieht aus und hat stets so ausgesehen wie ein krummgeschlagener Mensch, der sich an einem Pfahl festhält; seit Ewigkeiten (obwohl sie vielleicht nicht länger als ein Jahr dahängt) zeigt die magistratische Kundmachung einen widerlichen braunen Fleck mitten im Text; die vierte Treppe auf der Stiege zum zweiten Stock ist hohler ausgetreten als die übrigen; man hat sich zahllose Male darüber geärgert, daß das Geländer an einer bestimmten Stelle splissig ist und die Hand ritzt, wenn sie daran entlang gleitet. Die Gesichter von Amtsdienern, die sich niemals verändern; die Schreiber und Sekretäre, die auf eine wichtige Manier vertraulich sind; das Fenster eines gegenüberliegenden Hauses, an dem seit vielen Jahren ein bärtiger Mann mit einem Käppchen steht und die Pfeife stopft, als ob er niemals, zu keiner Zeit seines Lebens, etwas anderes getan und seit seiner Geburt so ausgesehen hätte wie jetzt.

In den zwielichtigen Gängen sitzen die Parteien, still, geduldig, bescheiden, resigniert. Es scheint, als hätten die gleichen Menschen seit vielen Jahren hier ihre Wohnstätten errichtet, um zu warten, bloß um zu warten. Es ist wie eine Vorhölle, Hölle des Wartens. Das Warten verleiht ihnen den spezifischen Ausdruck des Grams, der in allen Gesichtern ist, vom Warten sind sie müde, gleichgültig und seelenlos geworden. Warten ist ihr Schicksal. Sie sehen die Nummern an, Nummer siebzehn, oder Nummer sechsundvierzig (die aussieht wie eine gichtische alte Frau, die sich auf einen Stuhl setzen will), die Namen der Referenten, Sekretäre, Richter, die Anzeigen und Aufschriften, und ihre Phantasie und ihre Lebenslust sind daran langsam verdorrt.

Es ist Laudin zumut, wie wenn er durch ein Spalier von Klienten und Klientinnen ginge; eine Reihe ohne Ende. Sie haben sich alle versammelt wie bei einer Gedenkfeier; schattenhaft stehen sie da, schattenhaft er selber, geht er vorüber. Alle blicken ihn mit erwartungsvoller Miene an; alle fordern von ihm die Ordnung ihrer Existenz, gerechtes Maß und genügenden Teil. Aber er ist nicht der Richter; er hat keine Gewalt über das Gesetz. Er verhehlt ihnen seine Ohnmacht nicht, Unzulänglichkeit des Mittlers und Maklers; doch sie schütteln den Kopf und finden, daß er um ihret-, das heißt jeder um seinetwillen, dem Gesetz ein Schnippchen schlagen, den erlösenden Spruch beschleunigen könne. Ihre dreiste Illusion verletzt ihn, die tausendmal wiederholte Forderung langweilt ihn; er ist trotzdem höflich, hilfsbereit, auswegkundig, denn er weiß, sie warten, warten. Worauf? Bis sich drinnen im Zimmer Nummer zwanzig eine träge Masse regt; bis unzählige Papiere überprüft, unsinniges Menschenleid Buchstabe bei Buchstabe registriert ist. Man muß glauben, daß auch die Engel im Himmel und die Teufel in der Hölle nichts anderes tun als warten, während dort die Seelen um Einlaß flehen und hier im Feuerkessel schmoren.

Ist denn das alles, was er seit zwanzig und mehr Jahren vollbracht hat: mit den Wartenden warten? Und dafür gesichertes Auskommen, Effekten auf der Bank, Villa und Automobil, Ansehen und Zulauf?

Es geht nicht an, Geld zu verdienen mit dem Halbrecht, mit dem Mißrecht, mit dem Fehlrecht, mit dem Unrecht. Wenn er sich auch einbilden darf, daß er die Unwissenden und die Wehrlosen gegen die Ein- und Übergriffe der tönernen Gewalten nach bestem Vornehmen geschützt hat, so war er selber doch allzusehr das Opfer, um sich weiterhin in diesem Trost mit einigem Anstand halten zu können.

Wo wollte das hin?

Er erinnert sich plötzlich, auf dem Stück Flur zwischen Nummer zweiundsechzig und vierundzwanzig (äußerst sonderbar, daß es gerade diese nicht sehr bedeutende, nicht sehr merkwürdige Erinnerung ist, die ihn hier überfällt), daß vor acht oder neun Jahren an derselben Stelle einer seiner Klienten erregt auf ihn zugetreten ist, um ihm zu sagen: »Legen Sie es doch dem Richter nahe, daß es das ist und nichts anderes, was mir Leben und Glück zerstört hat, das und nichts anderes: die herunterhängenden Strümpfe. Vor der Welt war sie eine Modedame; trug nur die neuesten Pariser Toiletten; zu Hause ging sie mit herunterhängenden Strümpfen herum. Ich kann es nicht länger ertragen; ich werde wahnsinnig, wenn ich die Strümpfe sehe, die faltig über die Knöchel hängen.« Natürlich wurde der Mann mit seinem Scheidungsbegehren abgewiesen; er war vielleicht schon immer verrückt gewesen, da er einen andern Grund für seinen krankhaften Widerwillen nicht hatte nennen können; aber tags darauf brachte er sich um; wegen der herunterhängenden Strümpfe. Aber die Strümpfe sind nur ein Zeichen für vieles Nichtige und Lächerliche, woran Leben und Freiheit genau so zuschanden werden wie an offiziell gewürdigter Tragik mit Betrug und Mord.

Er hat nichts in der Hand als diese Fakten und die Kette seiner halben Niederlagen vor ihrer brutalen Realität. Vieles getan, nichts gewirkt; rechtschaffen gewollt, schlechtschaffen bestanden; immer bloß Teil für Teil, nie Ganzes für Ganzes; dem Purpur Proselyten geworben, das Skelett dahinter verheimlicht; denn er, wenn keiner sonst, er mußte wissen, daß das Skelett dahinter war. (Man bemerkt, wie er das fremde Wahr- und Wachgesicht, verwirrt durch eigenes Erlebnis, sich zu eigen gemacht hat.) Somit hatte das Geschick eine diamantene Logik bewiesen, als es ihn Kopf und Herz an der menschgewordenen Lüge zerschellen ließ und die giftige Seuche in ihr, die einem strahlend Emporsteigenden leiblich den Tod gebracht, ihm, dem Hinabgehenden, den Geist zerfressen und den Weg auf ewig verfinstert hat.

Das Urteil war gefällt und rechtskräftig geworden.

Seine Traurigkeit war so tief wie ein Brunnen; sie ging immer tiefer hinunter, immer tiefer, bis dorthin, wo nichts mehr war als die Schwärze des Todes.

Als er, am Anwaltstisch stehend, in militärisch aufrechter Haltung, das Gesicht weiß wie eine Gipsmaske, seinen inhaltsschweren Entschluß verkündigte, war es, als rede er nicht zum Gericht, sondern ausschließlich zu dem ihm wuchtig und triumphierend gegenüberstehenden Doktor David Kerkowetz, und als sei die Lostrennung von dieser Sache in Wahrheit nichts anderes als die endgültige Lostrennung von dessen Person und Bereich. May Ernevoldt war nicht erschienen. Bernt Ernevoldt war nicht einmal für die amtliche Zustellung erreichbar gewesen.

Unfern von Kerkowetz saß Konstanze Altacher, schwarz gekleidet, den schwarzen Schleier über die Stirn gehoben, Laudin mit großen, dringlichen, unruhigen, wahrheitlosen Dulderinnenaugen anschauend. Da war es nun, das Phänomen, leibhaftig; da war der Dünkel, Dünkel des Schmerzes, des Besser- und des Überwissens, sich selbst hätschelnde, die Menschen verwirrende Dünkel, der Haß gebärende, Völker verdummende, Nationen erniedrigende, der augenlose, spiegellose, strahllose und unbekämpfbare Dünkel, siegreich am Ende, wenigstens dem Scheine nach und hier mit Laudins Zutun und durch seinen Entschluß.

Hier konnte nur der Besiegte Sieger sein.

Er fuhr dann nach Hause, will sagen in die Wohnung der Frau von Damrosch und legte sich fiebernd zu Bett. Es gelang ihm, seinen Zustand vor seiner Hauswirtin zu verbergen. Am Abend, es mochte schon ziemlich spät sein, das bleierne Hindämmern war einem leeren Hinträumen gewichen, klopfte es behutsam an die Tür.

Es war Pia, die von Egyd Fraundorfer kam.


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