Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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Ernevoldt und May Ernevoldt waren bereits im Atelier, als Laudin kam. May wurde von Luise Dercum mit einem Buch hinausgeschickt; offenbar hatte sie es vorher selbst verlangt. Ernevoldt reichte Luise ein dünnes Heft, Laudin rückte seinen Stuhl aus dem Lichtkreis, und mit ihrer wunderbaren Stimme las die Schauspielerin das Folgende vor.

 

Es geschieht wohl selten, daß ein Mann mit so großen Erwartungen in die Ehe tritt, wie ich es getan habe. Ich habe in Konstanze nicht bloß die Nestbauerin und die Hegerin meines Behagens erblickt, Wunsch und Zuversicht wandten sich an höhere Sicherheit. Ich war damals, um mein dreißigstes Jahr herum, in gewisser Weise schon der Welt satt; ich hatte, als Herr über bedeutende Unternehmungen und ausgedehnte Geschäfte, schon zuviel Eigennutz, Streberei und Schlechtigkeit mitangesehen, war ihnen auch oftmals zum Opfer geworden, und so schwebte mir die Ehe als ein Burgwall vor, hinter dem ich mich glaubte verschanzen zu können, wenn mir das Getriebe zu hart an den Leib rückte. Ich mußte in dieser Beziehung meinen Irrtum bald erkennen, obschon ich in der ersten Zeit Anlaß zu ernsthafter Beklagung nicht hatte. Geben doch auch die ersten Jahre einer Ehe keineswegs den Ausschlag, höchstens die Richtung. Die Charaktere müssen sich erst aneinander entwickeln und gegeneinander schleifen; von beiden Seiten wird viel Rücksicht geboten und gefordert; das gemeinsame Leben ist noch neu, und das einzelne wird dem andern gern zugetragen; der Mann fühlt sich Meister, und die Rolle wird ihm nicht bestritten; Seele und Geist der Frau sind mit der Entfaltung ihrer Persönlichkeit beschäftigt, und es zeigt sich nur allmählich, welchen Weg sie als fertiger Mensch gehen wird; hier versäumen Männer das Entscheidende gewöhnlich, Zugriff und Lenkung zur rechten Stunde. Eines Tages wundern sie sich, daß ein anderer Mensch vor ihnen steht als sie ihn in ihrer halbtätigen Ruhe neben sich haben werden sehen.

Ich will also sagen, daß in einer mittleren gesellschaftlichen Schicht, sofern nicht Eigenschaften und Leidenschaften grell kontrastieren, die wahre Beschaffenheit der Ehe erst nach einem gemessenen Zeitraum beurteilt werden kann, auch von den Partnern selbst. An Konstanze entdeckte ich früh eine Neigung, die ich nicht anders bezeichnen kann denn als Begehrlichkeit, sich mit Menschen zu umgeben, und zwar mit Menschen der Gesellschaft. Sie liebte es, Mittelpunkt eines Kreises und Ziel von dessen Bewunderung zu sein. Sie liebte es, zu glänzen, nicht etwa durch Schmuck und Kleider, sondern durch Geist und Bildung. Sie war belesen und schätzte Belesenheit über alles, und wenn ich von Menschen der Gesellschaft gesprochen habe, die sie mit einer Art von Betriebsamkeit in ihre Nähe und in unser Haus zog, so meine ich damit eigentlich Leute eines gewissen Bildungsgrades, Gelehrte, Advokaten, Ärzte, Schriftsteller und Künstler. Ein Umgang, gegen den nicht viel einzuwenden ist, sollte man denken, und ein Ehrgeiz, der sich nicht an äußerlichem Schein genügen läßt. Aber es gibt einen Punkt, wo die geistigen Interessen nicht mehr den Kern unseres Wesens berühren und nur ein unruhiges pflichtenloses Eifern darstellen, das Bindungen schafft, wo gar keine sein dürfen, da ja ein gewisser sich selbst abgeschmeichelter Widerwille gegen die angebliche Banalität des Alltags zur Verneinung aller Regel und zur Auflösung der gesunden Notwendigkeiten führt. Ich hatte sonach nicht bloß egoistische Pantoffelbedenken, wenn ich an vielen Abenden das Haus voller Gäste fand, während ich müde heimkam, der Sammlung oder der friedlichen Aussprache bedürftig. Einhalt zu gebieten ist schwer. Man ist gleich Tyrann und Spielverderber, will man seine wichtigsten Rechte schützen. Läßt man hinwiederum gewähren, so wächst das bloß Mißliche rasch zur Lebenslast. Die erste Mahnung enthält schon den Zank, der erste Widerspruch schon die fortnagende Uneinigkeit; sprechen Blick und Miene nicht mehr wie sie sollen, ist das Glück bereits verwirkt. Es ist eigentümlich, wie alles, was Menschen verfehlen, ihrer unbeirrbaren Einstellung zu einem Grundzug ihrer Natur entstammt. So geschah es auch hier, daß die gewollten und auf alle Weise künstlich gesteigerten Spannungen des Geistes zur Unterschätzung und in weiterer Folge Geringschätzung des täglichen Gleichlaufs führten; daß das Wirtschaftswesen knarrte wie eine ewig rostige Tür; daß die dienenden Personen die überlegene Hand vermißten und zu einer Herrin kein Vertrauen fassen konnten, die zwischen verletzendem Hochmut und launenhafter Herablassung, zwischen Starrsinn und Schwäche kein Mittleres finden konnte. Das Wohl eines Hauses beruht aber auf den Menschen, die ihm dienen; es gibt eine Atmosphäre der bloßen Verrichtungen, und eine Frau kann sich nicht einbilden, ihr Reich zu regieren, wenn sie nichts weiter tut als ihren Leuten zu befehlen oder sie zu bezahlen. Konstanze ist immer in dem behaglichen Wahn geschwommen, daß sie sich einen Menschen gekauft habe, wenn sie ihn in ihre Dienste nahm, und daß er ihr dann mit Leib und Seele gehöre. Deshalb erregte jede Aufsässigkeit und Unwilligkeit sogleich ihren unmäßigen Zorn, und es zeigte sich, daß auch gutartige Personen ihr gegenüber alsbald die schlechten Seiten ihres Charakters hervorkehrten, wie von einem bösen Zauber angerührt. Sie litt selbst darunter und konnte es sich nicht erklären; sobald ich, der ich um die Ursache wußte, sie ihr schonend beizubringen suchte, wandte sich ihr Zorn auch gegen mich. Wenn immer wieder Zwist und Rebellion herrschten und Zofe oder Köchin oder Diener oder Kinderfrau oder Gärtner oder mehrere zugleich unter greulichen Auftritten, Drohungen und Geschrei das Haus verließen, um andern Platz zu machen, die anfangs sich bewährten, um dann aus einem für Konstanze rätselhaften Grund abermals zu versagen, ging sie so weit, mich meiner schwankenden Haltung wegen des stillen Einverständnisses mit den Hausangestellten zu verdächtigen, da sie den unglücklichen Hang hatte, überall gleich Verschwörung und Komplott zu wittern, ein Zug, der übrigens vielen unsicheren und lebensfremden Menschen eigen ist und der sich, wie ich erfahren habe, bis zur Verfolgungsmanie entwickelt, wenn der Betreffende nicht imstande ist, sich selbst zu sehen, wenn er sich, auf- und einblickslos, daran gewöhnt hat, sich selbst zum Maßstab der Dinge zu machen, eben weil er sich nicht sieht. Da hilft keine Belehrung und Führung; im Gegenteil, ein derart Verblendeter wird notwendigerweise jeden als seinen Feind betrachten, auch den er liebt oder zu lieben glaubt, der ihn auf der abschüssigen Bahn anhält und ihm über die traurigen Folgen seines Tuns die Augen öffnen möchte. Nun bin ich nichts weniger als ein Lehrer und Erzieher; ich habe ein ungeduldiges Herz, obschon ein geduldiges Gemüt, wenn man diesen Unterschied verstehen und gelten lassen will. Im Lauf der Zeit freilich hat sich die Ungeduld vielfach in Resignation gewandelt, da ich doch sah, daß den Menschen nicht beizukommen ist und jeder so unveränderlich bei seinen Eigenschaften verbleibt als müsse er ohne die geringfügigste unter ihnen sofort sterben; damals aber konnt ich mich oft nicht im Zügel halten, und namentlich wenn mein Gerechtigkeitsgefühl verletzt war, wurde ich nicht selten ungerecht. Ein Geständnis, das nicht so paradox ist, wie es klingt; der Trieb nach Gerechtigkeit setzt eine ängstliche Bemühung nach Gleichverteilung der seelischen Gewichte voraus, und die leiseste Verschiebung bringt die innere Natur in heillose Unordnung, so daß einem zumute wird als stürze das Weltgebäude zusammen. Wir überschätzen eben unsere Maße und Befugnisse schon, wenn wir ein Ideal in uns aufrichten, und das Gute in einem selbst enthält dann den Keim des Übels.

Es kann kein zureichendes Motiv für die Niederschrift dieser Erinnerungen geben außer dem einen, daß ich die Vergangenheit revidieren will, um den oder die Fehler bloßzulegen, die den Zusammenbruch meiner Ehe und damit die Verdüsterung meiner besten Mannesjahre verschuldet haben. Geht man bei einem solchen Unternehmen ehrlich zu Werke, so muß man tief in das Wurzelgeflecht der Existenz graben, und bei genauer Prüfung entdeckt man den entscheidenden Mißgriff dort, wo einstmals die Stimme des Instinkts sich warnend hat vernehmen lassen und man diese Stimme überhört hat. Einen Augenblick lang in jedem Leben ist Gott gegenwärtig und spricht mit uns; verstehen wir seinen Wink und Einspruch nicht, so ist auch keine Gnade über unseren Entschlüssen, und wir haben das Recht nicht mehr, uns über das Schicksal zu beklagen. Jede Wahl muß sich unter dem heiligen Bewußtsein der Verantwortung vollziehen, und was heißt denn Verantwortung anderes als dem unendlichen Wesen, das uns durchdringt, Antwort geben, wenn es uns fragt und zur Rede stellt. Überflüssig deutlicher zu sein; es stehen Wächter da, an die auch die Andeutung nicht heran darf.

Weil ich nun bei den Kindern halte, ist zu sagen, daß ich erst jetzt erkenne, wie schwer alles zu entwirren, zu beleuchten ist. In Fragen der Zucht und Erziehung gingen meine und Konstanzes Ansichten diametral auseinander. Das begann schon, als die Kinder im Säuglingsalter waren, und die Unvereinbarkeit wuchs mit den Jahren, bis sie zu offenbrüchigem Hader wurde. Allzusehr müßte ich mich ins Kleine und Kleinliche verirren, sollt ich es Mal für Mal oder nur Stufe für Stufe aufzeigen. In zerfasernde Bezichtigung würde ausarten, was doch unter ein großes Gesetz fällt, besser gesagt, unter ein großes Verhängnis. Dieses Schuld- und Ursachesuchen, wenn ein Kind unpäßlich war; der jedesmalige verzweifelte Appell an den Arzt; sich nicht genügen lassen an dem einen, der das Leiden nicht mit gewünschter Promptheit benennen konnte und hinter seinem Rücken einen zweiten, einen dritten berufend; alles Heil von der bestallten Wissenschaft erwarten und keins von der Natur und vom Stern; die Verzärtelung, die in der gesamten Welt und Menschheit ein bösartiges Element sah und alles Werden und Gelingen in die eigene Machtvollkommenheit setzte; keine Einrichtung für die Erwachsenden, die nicht von der Mutter erst zu begutachten war; kein Lehrer, keine Schule, kein Einfluß von außen, der die übertreibenden Ansprüche zu befriedigen vermochte; wo der mütterliche Schutzbezirk aufhörte, fing die Gefahr an, die Krankheit, der sittliche Verfall, die Unzulänglichkeit, die Unbill. Und wie sonderbar und traurig, daß dann dieselbe Mutter, die das Schicksal ihrer Kinder lenken zu können glaubte wie eine allesüberschauende Göttin, den Zuflüsterungen niedrigster Kreaturen ihr Ohr lieh und sich ihr starrer Wille immer denen beugte, die ihren Ideen, auch den absurdesten, zu schmeicheln und sie in den außerordentlichen Vorstellungen von ihrer eigenen Person und den verworrenen und getrübten von der übrigen Welt zu bestärken wußten. Erfuhr sie keinen Widerspruch, so konnte sie eine kindliche Treuherzigkeit an den Tag legen, wie überhaupt in der Ruhe etwas Harmloses und Gütiges über ihrem Wesen lag; die leiseste Bewegung aber störte die bösen Gedanken auf, und da mit den Jahren die Bewegung, vielfaches Sichumtun und Betreiben, mehr und mehr ihr Element wurde, so verlor und vergab sie sich auch darin, und nur sie allein war entsetzt, wenn sie beständig von Irrtum zu Irrtum stürzte, von Enttäuschung zu Enttäuschung. Versagende Kraft, versagende Autorität. Erhob sich der Selbstwille eines Kindes: Kampf und Versagen. Wo man sich höhere Beziehung vorlog, geschah Verlust der lebenswahren; wo man zu schweben wähnte, war klägliches Straucheln; kam dann der unvermeidliche Fall, so ergoß sich Vorwurf und Schmähung über den Gatten, den Hüter, den Träger, der nicht zur rechten Zeit da war, um zu verhüten und zu tragen. Da ging es in die Jahre zurück, um Beweise zu schaffen für Anklagen, die nicht bewiesen werden können, weil Schuld nicht dort liegt, wo sie gesucht wird; das ganze Gewebe des Daseins wird aufgerissen, in wenigen schmerzlichen Stunden einer Nacht oft, um eben diese Anklagen zu stützen, die keine Verteidigung zu entkräften vermag, obwohl nichts anderes verlangt wird als Verteidigung, da sie die Anklage legitimiert. Es kommt mehr fressender Jammer durch versöhnliches, ausgleichendes, erklärendes Reden in die Welt als Unglück dadurch, daß man dem andern vielleicht das Herz bricht, indem man ihn auf immer meidet. Aber Herzen werden nicht so schnell gebrochen. Es ist eine Legende.

Wie können doch Menschen sich an der Lüge betrinken, die ihr Tun und Lassen und Unterlassen vor ihren eigenen Augen rechtfertigt, sogar mit dem Schein des Edelmuts und Opfersinns umgibt; wie können sie sich an ihr bis zur Urteils-, bis zur Besinnungslosigkeit berauschen, und wie unaufhaltsam wird diese eine Lüge zum wuchernden Krebs, Lügengeschwür auf Lügengeschwür gebärend, bis die Seele aufhört, ihre gottgegebenen Funktionen zu erfüllen! Es gibt offenbar Frauen, denen zuviel aufgebürdet wird, wenn man Kinder mit ihnen zeugt. Als Geschöpfe für sich allein könnten sie in Ehren bestehen; gerade noch für die eigene Person langen sie mit ihren schwachen Kräften aus; gerade noch für sich selbst können sie einstehen und am Ende auch, in sich selber geschlossen, eine erfreuliche Entfaltung als Mitglieder einer nicht sehr anspruchsvollen Gesellschaft gewinnen. Bringen sie aber Kinder aus ihrem Leib hervor, so erscheinen sie sich auf einmal in einer vorher nie geahnten Weise wichtig, ja es dünkt ihnen das Wunder aller Wunder, daß sie, die selber noch um wirkliches Leben ringen und in rührender Unsicherheit sich selber kaum fassen und glauben, Lebendiges geschaffen haben. Sogleich wird Betreuung Leidenschaft, natürliche Pflicht feierlicher Dienst, Wachsamkeit Angst und Zugehörigkeit Verklärung. Die Nabelschnur wird nur körperlich durchschnitten; das Los der neuen Wesen ist, der Mutter unzertrennlich beigesellt zu sein, das Los der Mutter, nicht von ihnen zu lassen, in keinem Betracht, in keinem Augenblick, oder wenigstens vor der Welt sich so zu geben und zu fühlen. Das nun ist freilich nichts anderes als Schwäche, die sich zum Herkules auftreibt und in Phantasie und Gemüt Befugnisse an sich reißt, die nur zugestanden werden könnten, wenn man aus dem Leben ein Treibhaus, aus der Ehe ein Gefängnis, aus der Familie einen umgitterten Geflügelhof will werden lassen. Matriarchat unter besonderer Entrechtung des Mannes. Ach, die Henne, die mit den Flügeln ihre Küchlein bedeckt, zum Schutz vor irgendeinem Geier in der Luft oder Iltis auf dem Acker, wie oft sind wir ihr schon begegnet in allen bürgerlichen Bezirken; wie oft haben wir ihr gellendes Gackern vernommen, wenn sie sich auf ihren eingebildeten Thron gesetzt hat, um der göttlichen Vorsehung mit kühner Selbstgerechtigkeit ins Handwerk zu pfuschen. Ihre Hingabe ist grenzenlos (nur das Gitter setzt eine Grenze); ihr Weltgefühl, ihr Kunstgefühl, ihr Gemeinsinn, ihr Idealismus: über jeden Zweifel erhaben – bis zum Gitter; am Gitter steht der Posten und fordert euch Parole und Legitimation ab. Sie hat den Clan gestiftet, und der Geist des Clans gebietet auf der ganzen Linie; nirgends giltst du als wirkender Mensch; berufe dich nur auf dein Werk, du wirst es erleben; überall wirst du nach dem Clan gefragt und mußt Parole und Legitimation geben. Welches Blutes du auch seist, kommt nicht in Betracht; nur welcher Sippe Blut in dir fließt; erst sei Vater, Gatte, Sohn, Schwiegersohn, Oheim, Schwager, Vetter, Neffe, dann kannst du Mann, Mensch und Arbeiter sein.

Das ist der Triumph der Henne.

Die guten Frauen! sie meinen es gut, sie versichern so oft, daß sie es gut meinen. Warum sollten wir es ihnen nicht glauben? Sie wissen im Grunde, was sie ihren Kindern verdanken, und wenn sie ihre Geburten mit Schmerzen bezahlt haben, so werden sie bis ans Lebensende dafür entschädigt, daß sie in ihnen unschuldige und um desto unzerreißbarere Bindeglieder erlangt haben, die den Mann und Gatten, sofern er auch ein Vater ist, also Herz und Gewissen besitzt, auf Gnade und Ungnade in ihre Hände gibt. Sie scheinen es nicht zu wissen; sie wissen es doch. Sie scheinen es nicht zu mißbrauchen; sie mißbrauchen es doch. Poche nur einmal an die eherne Pforte und wolle, daß sie dich entläßt. Da mußt du auch eherne Arme haben, wenn sie dir nicht in Stücken von den Schultern fallen sollen, und vor allen Dingen darfst du dich nicht umdrehen wie jene Ritter im arabischen Märchen, die für ihre wehleidigen Ohren in Steine verwandelt wurden. Wir werden aber geliebt. Das ist der Anstoß, wie Hamlet sagt. Ja, wir werden geliebt. Aber geht mir doch mit diesem Begriff Liebe, der in die menschliche Sprache und Welt gesetzt ist wie eine Kulisse vor eine blühende Landschaft. Bestenfalls ist er ein prahlerischer Titel auf einem ungeheuern und geheimnisvollen Buch, das zu studieren sich wenige die Mühe nehmen. Oder wollt ihr euer Glück abhängig machen vom Vergnügen der Sinne und seinen Grad danach bemessen, so seid ihr wie der Wanderer in einer Eiswüste, der sich bei der Flamme eines Streichholzes vor dem Erfrierungstod schützen will.

Dieser Tod wäre mir sicher gewesen, und ohne Streichholz schließlich, hätt ich May Ernevoldt nicht getroffen. Es ziemt sich nicht, im einzelnen auseinanderzusetzen, wie die Rettung vor sich ging; es ist auch nicht von Belang an dieser Stelle. Es ziemt sich nur, ihr zu danken, und ich tue es täglich und stündlich. Sie hat mir unbekannte Gebiete der Seele aufgeschlossen, in jedem Sinn. Ich war an einer Wendung, einem Abschluß aller Wege; ich konnte ins Bodenlose stürzen. Sie war der freischwebende Vogel, der mir, den auf allen Seiten hoffnungabschneidend das Gitter umgab, den einzig übriggebliebenen Weg zeigte, den nach oben. Ich habe an ihr die Entdeckung gemacht, daß der sittliche und religiöse Mensch kein Gedächtnis für das erlittene Böse hat, Gedächtnis im generellen wie im individuellen Sinn. Er ist großmütig, das heißt, er ist frei von Sippe und Sippengeist, weil ihn eine tiefere Gebundenheit adelt und eine schweigsamere als die von nützlichen Gesetzen vorgeschriebene. Wenn ich es unternehme, dieses Wesen gegen alle Einflüsse äußerer Not zu sichern, so erfülle ich damit nicht einmal eine Pflicht; es ist so selbstverständlich wie daß ich meine eigene Person dagegen sichere. Nur der verstockte Geist des Clans wird darüber außer Rand und Band geraten. Was ich austeile, ist ja die Frucht meiner Arbeit und mein allereigenstes Gut. Die Hand möge verdorren, die sich ausstreckt, mir zu wehren.

Als ich Konstanze zum erstenmal, mit aller Schonung, die mir möglich war und erforderlich schien, von der Ratsamkeit der Lösung unserer Ehe sprach, verfiel sie in eine förmliche Raserei der Verzweiflung. Ich werde diese Stunde, diesen Anblick nie vergessen. Und das, sagte ich mir, nach solch unwiderruflichem Zerwürfnis, bei der vollkommenen Aussichtslosigkeit, Brücken zueinander zu schlagen, bei dem jahrelangen Hinwelken aller echten Gattenempfindung; welche schier unfaßbare Blindheit mußte da vorhanden sei und vorhanden gewesen sein! Oder war es nur die Macht eines Wortes? des Wortes, das da heißt: du bist mir verschrieben? wars an diesem Buchstaben, wo Phantasie und Menschlichkeit, Vernunft und Güte halt machten und durch keinen Zwang und keine Lockung weiter zu treiben waren? Ungroßmütig, unschenkend, augenlos in den Buchstaben verbissen? Wie wenn der freie Mensch nicht viel mehr gewähren könnte als der gekettete; wie wenn man den andern eher zu einem zuckenden Leichnam zertreten müßte, als daß man das eherne Tor aufriegelt, damit er wenigstens als freundlicher Gast zurückkehren kann.

Das Verhängnis liegt in der Institution. Ich glaube, ihre Formen entsprechen dem Leben nicht mehr. Und ich glaube, sie können nicht mehr lebendig gemacht und nicht mehr aufrecht erhalten werden. Was aber geschehen soll, wenn sie vollends zerstört sind, auch der armselige Schein, der noch von ihnen da ist, und wie das Neue aussehen soll, das unser Dasein neu gestalten müßte, weiß ich nicht. Ich werde auch die Wandlung nicht mehr erleben.


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