Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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17

Laudin erhob sich und klappte das Aktenheft zu. Es war ein neuer Akt, den er jetzt erst hatte anlegen lassen. Der Name Altacher stand darauf. Vor einer Stunde war Frau Konsul Altacher bei ihm gewesen. Sie hatte ihm ein düsteres Familienbild entrollt, aber nur ein fragmentarisches, denn sie hatte vor Scham und Schmerz kaum zu sprechen vermocht. Sie war gekommen, um seinen Rat zu hören. Doch er hütete sich zu reden, da er ihre tiefe Unentschlossenheit wahrnahm. Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß die Menschen, wenn sie Rat heischen, vor nichts so große Angst haben als vor dem richtigen Weg, den man ihnen zeigt. Schließlich hatte sie ihm einen schriftlichen Bericht versprochen.

Auch der Name Luise Dercum war gefallen. Anstifterin? Verführerin? Schuldige? Nach den vorläufig nur scheuen Andeutungen Konstanze Altachers hätte man es glauben sollen. Aber Laudin bildete sich nie ein Urteil ohne hinlängliche Beweise.

Er war ziemlich erschöpft. Halb acht vorüber. Er erhob sich und wollte gehen. Da meldete der Diener, Frau Brigitte Hartmann bitte, noch vorgelassen zu werden. Er sah gequält vor sich hin. »Ganz unmöglich,« sagte er. Dann, nach kurzer Überlegung: »Führen Sie die Dame herein.«

Sie trug Stadtpelz und Stadthut. Ihre Hände staken in neuen grauen Handschuhen. Nur die Schuhe waren breit und ländlich. Auf die höfliche Einladung Laudins nahm sie Platz. Sie war etwas bedrückt und schien sich zu ärgern, daß sie es war. Von der ersten Sekunde an ließ sie den Advokaten nicht aus dem Auge als wäre er ein wildes Tier, das zu zähmen sie sich vorgenommen. Ihr Blick war stechend und unstet. Sie sagte, sie habe zu ihrem Sachwalter gehen gewollt, doch auf dem Wege habe sie beschlossen, vorher noch mit ihm, Doktor Laudin, zu reden. Mit Absicht habe sie eine Woche verstreichen lassen; alles mögliche sei ihr durch den Kopf gegangen. Seelenruhig, das könne sie behaupten, erwarte sie die gerichtliche Klage; ihr Gewissen sei rein, über ein reines Gewissen gehe ihr nichts. Indessen habe sie mit dem Anwalt, den sie zu Hartmanns Lebzeiten immer aufgesucht, die Beziehungen abgebrochen gehabt; seine Honorarforderungen seien, gelinde gesagt, übertrieben gewesen. Wie solle sie das viele Geld aufbringen; da müsse sie ja ihre Kinder berauben. Kinder kosteten soviel, namentlich, wenn man ihnen eine anständige Erziehung geben wolle, wie es ihre Mutterpflicht sei. Doktor Laudin aber sei ein gerecht denkender Mann und werde in dieser Beziehung ein Einsehen haben, zumal sie ja guten Willens und gekommen sei, sich mit der Lanz nach Tunlichkeit zu vereinbaren, falls deren Ansprüche sich in Grenzen hielten, über die man verhandeln könne.

Es war ein verworren klingendes, obschon sicherlich vorher erwogenes Drauflosreden, Mischung von allen möglichen schlau verhehlten Absichten, Widerspiel von Geiz und Vorsicht, Lüge und Furcht, Respekt vor dem unheimlichen Apparat des Rechts und Bemühung, ihm durch List zu entgehen, Bereitwilligkeit und, im selben Satz, Einschränkung der Zusagen bis zu einem Nichts, vor allem der naive Kniff, sich scheinbar dem Anwalt der Gegenpartei zur Verfügung zu stellen, um dadurch kostenlos oder wenigstens wohlfeil zu Informationen zu gelangen, vielleicht sogar seines Schutzes teilhaftig zu werden und nicht den Feind im Rücken zu haben.

Ohne Zweifel trieb sie auch eine abergläubische Vorstellung in den Machtbezirk dieses Mannes, von dem sie sich durchschaut fühlte und dem sie etwas wie Allwissenheit zuschrieb. Vermutlich war ein Bewußtsein von Schuld erst in ihr erwacht, seit er ihr gegenübergetreten war. In ihren irrlichternden Augen war ein Ausdruck, der von schlaflosen Nächten stammte, ein krankhaftes Verlangen nach Geständnissen, wenn auch nur nach halben und täuschenden, die ihr zugleich mit dem Schein der Rechtfertigung gewisse Vorteile sichern konnten. Frauen ihrer Art haben wenig Gelegenheit, von sich selbst und ihrem Leben zu sprechen; wenn sie es tun, stürzen alle Dämme ein, und sie entblößen sich unter Umständen bis zur Schamlosigkeit.

Laudin war darauf vorbereitet. Er hatte nur Ohr zu sein. Sie überhörte seine Bemerkung, er müsse erst erfahren, wie weit ihre Bereitwilligkeit im Hinblick auf eine Abfindung gehe, und sich darüber mit seiner Klientin beraten; sie schien nicht erwarten zu können, von dem zu reden, was sich in ihr angestaut, von der Unbill, die sie erlitten, dem Mißverständnis, dem sie ausgesetzt gewesen, den Opfern, die sie gebracht, von dem ganzen Martyrium der Ehe mit Hartmann.

Er habe keine Achtung vor ihr gehabt. Daran sei es schon zu Beginn gescheitert. Er habe nie gewußt, was einer Frau gebühre. Er sei ein Schwächling gewesen durch und durch. Stumm und taub sei er durchs Leben gegangen, keinen Menschen angesehen, keinem was zugetraut, alles bloß sich selber, ohne selber was zu leisten. Davon, daß man einmal heiter aufgelegt sein könne, unter die Leute gehen wolle, ein Vergnügen genießen wolle: keine Ahnung. Dösen, Brödeln und Maulen den ganzen Tag, das lange Jahr über. Da versumpfe man; da verlasse einen der Mut. In allem habe er versagt. Gebiete nicht die Religion, daß Mann und Weib sich einander nähern sollten? stehe nicht schon in der Bibel: vermischet euch und seid fruchtbar? Aber das sei ja nur ein Hangen und Bangen gewesen mit ihm, von Anfang an; später habe man sowieso verzichtet. Aber sie sei ja als eine junge Person in die Ehe getreten; das Blut fordere seine Rechte. Bei ihm aber? Was habe er danach gefragt. Warme Stube, warmes Essen, warmes Bett, im übrigen laß mich zufrieden. Das niste sich ins Gemüt. Es entstehe was Böses wie Geschwüre. Was ein richtiges Weib sei, bettle nicht um ihr Teil. Man habe seinen Stolz; doch der Herrgott lasse nicht mit sich spaßen, der Teufel auch nicht, der in jedem Menschen auf der Lauer sitze.

»Wissen Sie, was die Zeit ist, Herr Doktor?« fuhr sie mit wachsender Hast und Verkrampfung fort; »die Zeit ist der Dreschflegel, der uns klein schlägt. Wir kommen nicht weiter mit uns selber, wir kommen nicht weiter miteinander, einer macht dem andern das Leben sauer; die Zeit reißt einem die Seele in Fetzen. Hätt er geredet, so lang die Kinder noch nicht auf der Welt waren. Wer hats ihm verboten, bitte? Ich wär die letzte gewesen, die sich ihm aufgedrängt hätte. Ich kenne meine Würde. Mein Vater war Regierungsinspektor. Aber so? Nein. Eines schönen Tages: mit uns zweien kommts zu nichts Gutem. Nein. Danke. Bin ich ein hergelaufenes Mensch? frag ich ihn. Als eine Jungfrau bin ich dir angetraut worden, hab all mein Sach auf dich gestellt, bin keine, die man hinauswirft. Na, das war Öl ins Feuer. Um neun Uhr früh, der Herr Gemahl verschwunden. Kommt nicht mehr heim bis neun Uhr abends. Ich, mit meiner Müdigkeit, was mußte man sich schinden auf dem Hof, gute Nacht und ins Bett. Er hat sich die Schlafkammer oben eingerichtet, was doch schon gegen die gute Sitte ist, rumpelt hinauf. Trapp, trapp, marschiert herum. Ich, wieder aus den Federn, schrei hinauf: die Kinder schlafen. Eine Weile ist Ruh. Dann wieder: trapp, trapp. Er kommt herunter. An der Tür: Brigitte! Was ist los? Will mit dir reden. Schön, reden wir. Die Augen fallen mir zu, macht nichts, reden wir. Er setzt sich auf den Stuhl, fängt an zu reden. Von Olims Zeiten beginnts und hört auf mit seinem Elend und seinem Unglück. Wie ich das falsch gemacht und jenes verkehrt in die Hand genommen, damals beispielsweise, erinnerst du dich, wie dein seliger Schwager bei uns war? Ich kann mich nicht erinnern, wie soll man sich an jeden Dreck erinnern; er läßt nicht locker; das und das hast du gesagt, hättest du aber so und so gesagt, wär alles anders gewesen. Mir reißt die Geduld, ich schrei ihn an, da spricht er: jetzt sieht man ja, was für eine du bist und wie du deinem Mann die Hölle heiß machst. Und das geht so, eine Nacht wie die andere, durch alle sieben Tage der Woche und alle Wochen im Jahr. Einmal wirds elf Uhr, einmal Mitternacht, einmal zwei Uhr. Ich hab doch bloß zwei Arme und zwei Beine und einen einzigen Kopf, Herrgott im Himmel. Das Ende vom Lied jedesmal: laß dich scheiden. Wo juckts mich denn? Laß du dich scheiden. Bitte. Geh hin und klag. Was hab denn ich verbrochen? Wie komm ich dazu, mit dem schlechten Leumund dazustehn? Geschiedene Frau; danke. Aber nach und nach, gefoltert und gebraten wie man ist, sagt man schließlich zu allem ja und Amen. Und eines Tages nimmt man die zwei Buben auf den Arm und will sich in den Bach stürzen. Und wieder eines Tages holt man sich die Jagdflinte aus seiner Stube, um alle miteinander zu erschießen und zuletzt sich selber. Aber er kommt drauf. Beständig ist er hinter einem her. Ist ja bloß Komödie, sagt er. So, Komödie, sag ich, erwisch einen Glasscherben und schneid mir die Adern auf, vor ihm, vor seinen Augen, und alles schwimmt gleich im Blut. Da hat ers, Komödie. Die Narben kann man noch sehn, hier; bitte. Er schreit: ich geh nach Amerika, ich hab den Jammer satt, ist man denn der Sklav fürs ganze Leben, wenn man heiratet? Ei ja, mein Lieber, Ehe ist kein Kinderspiel, hättest dirs vorher überlegt. Ich, gutmütig, wie ich bin, lauf doch zum Advokaten, weil ich selber nicht Ruh und Frieden mehr hab und es in meinem Kopf aussieht wie in einer Rumpelkammer. Aber ich konnt nicht und konnt nicht. Was ist denn ein Weib? Ein armes Luder, der ganzen Welt ein Spott ohne den Mann. Unser Herrgott hat mich genug gestraft. Bin dagesessen, allein mit den Kindern, wie er dann endlich wegging mit seiner Geliebten; was das nur für Nachrede gegeben hat; wie die Leut sich die Mäuler zerrissen haben; in so einem Nest, bitte, wo jeder dem andern in die Fenster glotzt. Und das mit dem Testament, das will ich jetzt erzählen. Es ist die Wahrheit, Herr Doktor, die heilige Wahrheit. Die Augen im Kopf sollen mir verdorren, meine Kinder sollen keinen guten Tag mehr im Leben haben, wenn eine Silbe davon erlogen ist. Also es war am siebzehnten Oktober, in der Nacht, in derselben Nacht, wo Hartmann gestorben ist. Sie sehen also schon, daß ich mich dabei nicht irren kann. Bitte. Ich wache auf; es wird so gegen drei Uhr sein. Die Stunde stimmt ebenfalls; ich hab mich nachher erkundigt. Wie ich aufwache, mit Herzklopfen bis in den Hals, rührt sich was im Zimmer. Ich frag: ist wer da? Auf einmal steht Hartmann neben meinem Bett; Hartmann, wie er leibt und lebt. Ich will fragen: Mensch, woher kommst du, was führt dich her? aber die Kehle ist mir wie Leder, ich bring keinen Hauch heraus, ich schicke bloß ein stummes Stoßgebet zu meinem Schutzheiligen, weil ich sehe, es ist nicht der lebendige Hartmann, es ist sein Geist. Da winkt er mir bereits, und ich steh auf aus dem Bett, und er winkt wieder, ich soll ihm folgen; da geht er voraus, in die Kammer hinauf, ich hintennach, und wie er oben ist, weist er auf den Sekretär, weist auf die Lade, die zugeschlossen war, aber wie er mit dem Finger hinrührt, ist sie schon offen. Obenauf liegt ein Papier, drauf deutet er und spricht zu mir: räums weg, Brigitte, ich habe gesündigt gegen dich und meine Kinder, was mein ist, ist dein, und Mann und Weib müssen sein wie Ein Leib. So ist es gewesen, Herr Doktor, und so ist es geschehen, und was es für ein Papier war, weiß ich nicht, obs ein Testament war oder nicht, weiß ich nicht; am andern Tag war nichts dergleichen zu finden, ich habs nicht berührt, ich habs nicht gesehn, es war nichts da.«

Sie stürzte plötzlich auf die Knie nieder, packte, ehe er sich dessen erwehren konnte, Laudins Hand und zog sie an die Lippen. Dabei rief sie mit hoher schriller Stimme: »Erbarmen, Herr Doktor, ich bin ein verlorenes Weib, ich hab keinen Halt mehr im Leben, an nichts bin ich schuld, alles ist über mich gekommen, Erbarmen mit mir!« Und als sie den starren Ausdruck in seinem Gesicht gewahrte, die Miene, die nichts aussagte, nichts verriet, keine der Empfindungen, die diese Szene in ihm erregen mußte, fügte sie fast winselnd hinzu, indem sie abermals nach seiner Hand haschte, sie habe, auf Ehre und Seligkeit, nie was von dem Testament gewußt, habe es nie mit Augen gesehen, aber jetzt wolle sie noch einmal das ganze Haus durchsuchen, Stuben und Kammern, Schränke und Truhen, nur möge er nichts Schlechtes von ihr denken . . .

In diesem häßlichen Raum mit seinen häßlichen Möbeln und gepolsterten Türen, den Hunderten von Aktenfaszikeln und bis an die Decke ragenden Regalen voller Folianten, Gesetzbücher, Reichsgerichtsentscheidungen, hatte sich die Katharsis zahlloser Menschenschicksale abgespielt; waren zahllose düstere Berichte erklungen, Schilderungen von Leiden und Übeltaten, Geständnisse, diktiert von Haß und Liebe, Rachsucht und Reue; doch vielleicht nie zuvor hatte ein Auftritt in ihm stattgefunden, bei welchem sich entgegengesetzte Elemente der menschlichen Natur zu einem so finstern Wirrwarr vermengten, Verzweiflung und Verlogenheit, Schlauheit und Hysterie, Maßlosigkeit und provinzlerisches Kleinbürgertum, theatralischer Schmerz und wahrhaftiger, Demut und Wut, Gewissensangst und Heuchelei.

Laudin hatte ein Gläschen mit Lavendelsalz auf dem Tische stehen. Er nahm es und roch daran. »Stehen Sie auf, Frau Hartmann,« sagte er kalt. »Von alledem kann ich vorläufig nichts zur Kenntnis nehmen als die Erklärung Ihrer Bereitwilligkeit, sich gegebenenfalls, ich betone: gegebenenfalls, denn so weit sind wir ja noch nicht, sich mit der Karoline Lanz auszugleichen. Auf welche Summe beläuft sich das nachgelassene Vermögen Ihres verstorbenen Gatten?«

Brigitte Hartmann erhob sich. »Achtzig Millionen, scheint mir,« antwortete sie, enttäuscht von der sachlichen Wendung des Gesprächs.

»Das dürfte wohl zu gering veranschlagt sein,« sagte Laudin, die Flasche mit Riechsalz wieder an ihren Platz stellend; »es handelt sich meines Wissens um mehr als hundertfünfzig Millionen. Erörterungen hierüber haben jedoch keinen Zweck, da der wirkliche Bestand nicht verschleiert werden kann. Es ist also nur eine vorgreifende Frage, die ich an Sie stelle, die den Rechtsanspruch meiner Klientin unangetastet läßt; zu welcher Höhe der Abfindung würden Sie sich, gegebenenfalls, wiederhole ich, entschließen?«

Brigitte Hartmanns Miene wurde wieder verstockt. Das wisse sie nicht, erwiderte sie halblaut; das könne sie jetzt nicht sagen; das müsse überlegt werden; man müsse sehen. Zehn Millionen habe sie gedacht. Nun, wenn es dem Herrn Doktor zu wenig scheine, fügte sie rasch hinzu, als sie Laudins Achselzucken gewahrte, in Anbetracht des Kindes vielleicht etwas mehr. Ob sie wiederkommen dürfe, wenn sie sichs überlegt habe? ob nicht lieber der Herr Doktor sie, wie neulich, besuchen wolle? bei der Gelegenheit könne man friedlich verhandeln. Nein? Dem Herrn Doktor fehle natürlich die Zeit. Und eine so untergeordnete Person; natürlich. Bitte. Ob sie schreiben dürfe? Gut, sie werde dieser Tage schreiben. Sie empfehle sich dem Herrn Doktor. Sie danke ihm viel-vielmals für seine Geduld und Freundlichkeit. Bitte.

Damit ging sie. Laudin verbeugte sich und sah ihr nach, bis sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte. Er zog die Finger in die Handballen. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck des Ekels.


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