Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

26

Egyd Fraundorfer saß am Pianino im Wohnzimmer, als Laudin eintrat. Mit hohem, rundem Rücken saß er auf dem Stühlchen, den Kopf über die Tastatur gebückt, und hackte mit dem Zeigefinger eine Melodie, die er mühsam von einem geschriebenen Notenblatt auf dem Ständer ablas. Der kleine Hund kauerte daneben und verfolgte das Tun des ungeheuren Menschen mit aufmerksamem Staunen.

Frau Blum hatte herausgebracht, daß das Notenblatt von Nikolaus stammte und daß es eine kurz vor seinem Tode skizzierte Komposition war. Sie hatte Laudin verraten, daß Fraundorfer Stunden und Stunden damit zubrachte, die Noten zu entziffern und sich die melodischen Motive am Instrument anzueignen.

»Kaum zu glauben, was für eine verflucht schwere Sache das Klavierspielen ist, wenn man es nicht kann,« knurrte Fraundorfer, indem er sich ächzend erhob und mit Laudin ins andere Zimmer ging. »Ich dachte, man brauchte sich nur hinzusetzen und wär ein Busoni. Aber so ists mit allen Sachen. Nur die vollkommene Ignoranz erhält einem das Selbstbewußtsein. Begeben Sie sich in Ihre Koje, Herr Schmitt. Setz dich, Laudin.«

Er zog die Vorhänge zu, stellte Whisky und Sodawasser auf den Tisch, rückte die elektrische Lampe von der Mitte an den Rand, zündete eine Zigarre an und setzte sich paffend Laudin gegenüber. »Nun, was sagst du,« redete er den Freund an und wies mit weiter Gebärde in den Raum, »was sagst du zu der Reinlichkeit, die jetzt bei uns herrscht? Merkst du die Tyrannei des Besens, den unsere Frau Blum handhabt? Eine Furie, mein Lieber, eine Furie der Schmutzvertilgung. Sonst keine üble Dame.«

»Ja, ich sehe,« sagte Laudin lächelnd; »aber weshalb trägst du einen Stoppelbart, Egyd? Rasierst du dich nicht mehr? Oder fühlst du dich besonders wohl mit den Borsten auf dir?«

Fraundorfer rieb sich das Kinn. »Stört dich das junge Wachstum? Du verkehrst zuviel mit glatten Leuten. Man kann nicht zwei Dinge zugleich treiben. Man kann nicht Klavierspielen lernen und sich außerdem noch rasieren. Besonders wenn einem die Musik auf die Nerven fällt wie mir und man nur ein einziges Rasiermesser besitzt, das der Zahn der Zeit schartig genagt hat. Ich lasse jetzt das Messer eine Weile ausruhen, weißt du. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß alle Gebrauchsgegenstände viel zu viel gebraucht werden. Sie können sich nicht genügend ausruhen. Sie gehen in sich und funktionieren wieder, wenn sie ausgeruht sind. Das gilt nicht bloß für Rasiermesser, sondern auch für Stiefel, Hemdknöpfe, Zigarrenabschneider und Schreibfedern. Probiers mal, Laudin, all die Dinge, die man törichterweise für empfindungslos hält, werden dir dankbar sein. In meiner Geschichte der menschlichen Dummheit habe ich dieser Entdeckung einen ganzen Abschnitt gewidmet. Das Kapitel heißt: vom berechtigten Widerstand des Objekts.«

Er verbreitete sich noch weiter über das Thema und sprach auch von der Rachsucht und Rache der Dinge und wie dies in Erscheinung trete, zum Beispiel als Rost, oder, bei Büchern, als Fettflecke, oder als Riß in einem Stoffüberzug, oder als Versagen eines Türschlosses, was nichts anderes sei als eine seelische Kundgebung des Dinges; Ausdruck seiner Unzufriedenheit wegen Übergebrauch, Mißbrauch; Sklavenaufruhr. Bis endlich Laudin, wohl wissend, daß Fraundorfer nur darauf wartete, eine Wendung des Gesprächs erzwang und ohne Umschweife von seiner Unterredung mit Luise Dercum berichtete.

Er konnte, was sie ihm mitgeteilt hatte, fast Wort für Wort wiedergeben und enthielt sich jeder Seitenbemerkung.

Fraundorfer schüttelte von Zeit zu Zeit den Kopf. Als Laudin geendet hatte, sagte er, mit der vorgeschobenen Unterlippe die Worte gleichsam schaufelnd: »Ein sehr nettes Märchen. Aber ein Märchen.«

»Was für ein Anlaß wäre da für irgendwelches Märchen?« versetzte Laudin stirnrunzelnd; »bin ich ein Mann, dem man Märchen auftischt?«

»Bah,« paffte Fraundorfer, »du wärst nicht der erste, du wirst nicht der letzte sein. In der Gegend hast du keinen Boden unter den Füßen. Das farbenprächtige Gefieder blendet dich. Das Unwahrscheinliche liegt nicht außen. Drinnen liegt es; in der Mechanik liegt es. Man hört die Räder knirschen. Man hört die Schrauben klappern.«

»Ich stelle in Abrede, daß Luise Dercum mir die Wahrheit vorenthalten hätte,« sagte Laudin, indem er die Hand flach auf die Tischplatte breitete; »ich stelle es strikt in Abrede. Ich kann nicht einmal zugeben, daß eine Verschleierung stattgefunden hat. Ich bin meines Eindrucks sicher. Berufst du dich auf eine Erfahrung, die in neunzig Fällen unter hundert zutreffen kann, so beruf ich mich auf ein Gefühl, das mich in keinem Fall unter hundert zu täuschen vermag. Es ist eine Welt, die uns fremd ist; richtig. Mir vielleicht fremder noch als dir. Es ist eine in manchem Betracht anrüchige Welt, eine phosphoreszierende, die ohne unsere moralischen Schwerkraftsverhältnisse konstituiert ist. Gut. Doch diese Frau ist wie ein Pfeil, der sie durchschneidet und sie nicht berührt. Alles Vorurteil in Respekt. Es stützt sich oft genug auf blutige Striemen, die der soziale Körper aufweist, und in der Niederung, in der wir hausen, ist der Mensch schließlich doch nur, was er gilt. Aber auch dem Urteil seinen Respekt. Erscheinungen haben ihr Unleugbares. Wenn ich eine Person noch nicht zu erfassen imstande bin, und das muß ich allerdings einräumen, ich erfasse diese eigentümliche Frau nicht ganz, ich komme gewissermaßen nicht um sie herum und kann sie nicht durchschauen, so ist das doch kein Grund für mich, sie deshalb zu negieren, weil sie einer Schicht angehört, der mißtraut werden muß. Man hat sich eben dann doppelt zu bemühen. Man darf nicht vergessen, daß man einer genialen Natur begegnet ist.«

Fraundorfer schaute den Freund aufmerksam an. »Hm,« sagte er nach langer Pause. Dann, wieder nach einer Pause: »Und was sagst du dazu?« Er zog das Notenblatt heraus, vor dem er am Klavier gesessen und das er zusammengerollt in die Rocktasche gesteckt hatte. Er entrollte es, reichte es Laudin hin und deutete auf eine Stelle mitten unter den geschriebenen Noten. Da waren folgende Worte zu lesen: »Ach Lu, daß du mich erhört hast; wie soll ich dirs danken?« Und ein paar Linien weiter unten: »Das ist dein herrlicher Leib, den ich umschlinge, du Herrlichste, Süßeste.«

»Nun?« fragte Fraundorfer grimmig grinsend, als Laudin schwieg.

Als ob die Haut sich schälte, war von der Stirne aus eine fahle Färbung über Laudins Gesicht herabgeglitten. »Ich hoffe nicht, daß du darin einen vollwertigen Beweis erblickst,« brachte er ziemlich mühsam hervor. »So etwas wirkt freilich im ersten Moment verblüffend. Aber es ist nichts als eine Liebesphantasmagorie, der Traum einer leidenschaftlichen Seele mit vorausgenommener Erfüllung. Junge Künstler pflegen ihre Sehnsucht im Geiste zu verwirklichen. Das ist es. So ist es.«

»Also du bestehst auf Platonik um jeden Preis, mein verwandelter Dyskolos?«

Laudin erhob sich. Fast feierlich schlank stand er vor der verkauerten Fettmasse Fraundorfers, als er sprach: »So sage mir doch, aus welchem Grund sollte die Frau lügen? Sie ist frei. Sie ist unabhängig. Sie hat nichts und niemand zu fürchten. Was wäre da zu verschweigen oder zu verbergen? Was könnte sie daran entehren oder beschämen, wenn sie es gesteht? Solche Hemmungen existieren nicht einmal mehr in der bürgerlichen Sphäre. Warum sollte sie uns ein blümerantes X für ein unerhebliches, in ihren Augen unerhebliches U vormachen? Nur um der bloßen Lüge willen? Unsinn.«

Mit verkniffenen Augen, die Zigarre zwischen den bleckenden Zähnen, rief Fraundorfer: »Herr Schmitt, kommen Sie mal her!«

Das Hündchen trippelte unmutig aus seinem Korb zu Fraundorfers Stuhl. »Passen Sie auf, Herr Schmitt,« sagte dieser und beugte sich schnaufend zu dem Tier herab, »passen Sie gut auf. Unser Freund weiß noch nichts von der wahren Beschaffenheit der Lüge. Er kennt ihre Kraft nicht! Er kennt ihren Sinn nicht! Er kennt ihre ruchlose Eigenlebigkeit und lazertenhafte Ungreifbarkeit nicht. Er kennt nur die gemeine Wald-, Feld- und Wiesenlüge, bei der die Leute auf drei Schritt Distanz zielen und treffen. Die Ätherlüge kennt er nicht, die Weltraumlüge, die Dämonenlüge, die Lügenlüge! Was sagen Sie, Herr Schmitt? Es gibt noch Kinder! Große, vielgenannte, verhärtete Advokaten spazieren noch im Kindergarten der Begriffe; ich bin klein, mein Herz ist rein . . .«

»Egyd!« sagte Laudin entsetzt und wich zurück; »bist du betrunken?«

»Na ja, schön,« beruhigte sich Fraundorfer und warf die ausgebrannte Zigarre auf den Boden, »es war nur so ein Stoßseufzer. Phantasie auf der G-Saite. Apokalyptischer Ritt. Hast du sie übrigens nach dem Brandmal gefragt, deine geniale Natur?«

»Dazu bestand nach alledem keine Möglichkeit,« erwiderte Laudin zurückweisend; »ihr so nahe zu treten, erlaubten mir die Umstände nicht. Du scheinst die Situation in völlig falschem Licht zu sehen. Ansonsten ist mir der Weg nicht versperrt; Frau Dercum hat sich in einer sie selbst betreffenden Angelegenheit an mich gewendet, und da ich sie gewiß noch einige Male sehen und sprechen werde, kann ich in unserer Sache noch alle Recherchen übernehmen, die auf loyale Weise zu betreiben sind, und will es auch tun.«

Fraundorfer nickte. Sein Kopf sank auf die Brust. Er schien zu schlafen. Herr Schmitt trollte sich in seinen Unterschlupf. Laudins bemächtigte sich eine tiefe Verstimmung, und er blieb nur noch kurze Zeit. Fraundorfer reichte ihm schlaff die Hand, als er sich verabschiedete.


 << zurück weiter >>