Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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55

Sie war nicht in den Parteienraum gegangen. Als ihr der Diener Rüdiger versichert hatte, Laudin müsse jeden Augenblick kommen, drang sie eigenmächtig in sein Sprechzimmer, ohne sich um die Bestürzung des alten Faktotums zu kümmern. Dort ging sie ungeduldig auf und ab.

»Sie hier, Lu?« rief Laudin überrascht, als er eintrat. Er schritt mit ausgestreckten Händen auf sie zu.

Ja; sie sei um drei Tage früher zurückgekehrt. Sie habe das Gastspiel abgebrochen. Sie habe Ärger und Unannehmlichkeiten gehabt. Überdies sei sie nicht in Stimmung gewesen. Sie habe gespielt wie ein Schwein. Sie sei in eine Affäre geraten. Sie habe ihm telegraphieren wollen, habe sich aber dann kurz entschlossen, selber zu kommen. Der Impresario und die Agenten rasen natürlich. Gut, mögen sie rasen. Es macht Spaß, wenn die Dummköpfe aus der Haut fahren; sie sind dann so leicht kenntlich. Die Affäre? Es handle sich um Geld; wieder einmal um Geld. Sie brauche bis sieben Uhr abends vierhundert Millionen.

Sie lehnte in spöttischer Pose am Pfosten des Bücherregals. Die Finger der rechten Hand spielten nervös mit der goldenen Kette am Gelenk der linken. Wie immer, wenn sie von Geldangelegenheiten sprach, veränderte sich etwas in den Augen; der goldbraune Untergrundsschimmer wurde grünlich. Der rasch wechselnde Ausdruck der Züge, von leidenschaftlicher Gereiztheit zu beobachtender Ruhe, von verhohlener Unbändigkeit zur Schmiegsamkeit, übertrug sich auf den ganzen Körper, auf ein Rascheln des Kleides, eine jähe Drehung der Schulter, ein blitzartiges Sichumwenden, ein hurtig hämmerndes Wippen der Fußspitze. Alles war in unaufhörlicher, durch alle Glieder rinnender Bewegung. Die Bewegung zu meistern, war dann Genuß.

»Wozu eine so bedeutende Summe und wozu die Dringlichkeit?« fragte Laudin stockend.

Wozu! wozu! Das ist eben die Art und Weise der »Affären.« Sie sind Abenteuer und Gefahr. Sie hat vor vierzehn Tagen beim Juwelier Eßlinger ein Smaragdgehänge gekauft, aber nicht gezahlt. Vor ihrer Reise hat sie Geld gebraucht, um einen andern Manichäer zu befriedigen. Sie hat den Schmuck verpfändet. Wie es zugegangen ist, mag der Teufel wissen, doch Eßlinger hat von der Pfändung Wind bekommen und die Frechheit gehabt, ihr zu depeschieren, wenn er bis zu der und der Stunde an dem und dem Tag nicht Schmuck oder Geld in Händen hat, wird er die polizeiliche Anzeige wegen betrügerischer Herauslockung erstatten. Man denke. Man stelle sich das vor. Ihr, Luise Dercum, dies! »Sie sehen also, wozu, liebster Freund!«

Laudin verfärbte sich. Er hatte sich hingesetzt und sah stumm zu Boden.

Sie näherte sich ihm. Plötzlich schluchzte sie auf. Sie drückte die Wange an seine Haare, durch die Gestalt lief ein Erbeben. »Bin ich denn nicht Laudins Lu, und soll ich mich nicht an ihn wenden dürfen, wenn sich mir die ganze Welt verfinstert?« rief sie mit dem Schmerz eines mißhandelten Kindes und klammerte sich mit beiden Händen an seine Schulter.

Bin ich denn nicht Laudins Lu! Wer hätte dem widerstehen sollen? Und die Tränen; das wehe Zucken des knabenhaft schlanken Leibes; das Übergossensein von Scham, Entrüstung, Reue; die wunderbare, flehende Hand, flehentlich in jeder Regung; was konnte daran gespielt sein; wo war da noch Kunst oder Lüge, Verstellung oder gelernte geübte Gebärde? Bin ich denn nicht Laudins Lu! Und die Stimme: melodische Verwirklichung; wie wenn in einem beängstigenden Traum eine farbige Fontäne emporlodert.

Laudin nahm die Hand und drückte sie inbrünstig an die Lippen. Er blickte zu ihr auf wie zu einem unendlich hoch über ihm stehenden Wesen. Er sagte, furchtsam fast: »Es ist unmöglich, das Geld heute noch zu beschaffen, Lu. Vier Uhr vorüber. Es ist zu spät.«

»Man kann zu Eßlinger gehen und bürgen,« sagte Lu. »Wenn Laudin bürgt, ist alles in Ordnung.«

Er erschrak. »Auch das ist unmöglich, Lu. Persönliche Einmischung in diesem Fall . . . Ich setze zuviel aufs Spiel. Sie müssen das verstehen.«

Lu preßte die Lippen zusammen. »Ich verstehe,« sagte sie frostig und stellte sich gerade. »Standesrücksichten. Der gute Ruf. Verstehe schon. Da muß ich eben sehn, wie ich mir helfe.« Achselzuckend griff sie nach dem Mantel.

»Einen Augenblick,« sagte Laudin und erhob sich. »Ich habe Ihnen meinen Beistand nicht verweigert, Lu. Es wird sich ein Ausweg finden lassen, obschon ich nicht leugne, daß es mich in ernstliche Verlegenheit bringt. Aber zuvor muß noch etwas anderes zwischen uns erledigt werden.«

Lu sah ihm kalt und gespannt ins Gesicht.

Er fuhr fort: »Ich habe schon einmal bei einer ähnlichen Gelegenheit den Versuch gemacht, eine Gegenleistung von Ihnen zu erlangen, Lu. Ein peinliches Präjudiz. Es sieht ein wenig wie Wurst wider Wurst aus, oder: schenkst du mir, schenk ich dir. Es handelt sich aber nicht wie damals um bloße Information, um mich advokatisch auszudrücken, eine Information zudem, bei der Sie mir leider zu entschlüpfen wußten; es geht um einen lebendigen Menschen heute, um das Leben, das von Ihrem Entschluß abhängig gemachte Leben eines Unglücklichen. Das zwingt mich, über die Peinlichkeit hinweg zu sehen . . .«

»Nun? was? was denn?« forschte Lu in äußerster Ungeduld, mit zusammengezogenen Brauen.

»Arnold Keller war bei mir, Lu.«

»Ah!« machte sie und warf den Kopf zurück. Ihre Züge verhärteten sich.

»Wenn ich für einige, vielleicht nicht ganz unerhebliche Dienste, die ich Ihnen leisten durfte, teure Lu, und für andere, die ich noch zu leisten hoffe –«

»Kein Wort weiter!« schnitt sie ihm die Rede ab. »Ich kenne das. Ich weiß, was das unappetitliche Scheusal will. Seit einer Woche bombardiert er mich mit Briefen, der Narr. Kommen Sie mir damit, so haben wir einander nichts mehr zu sagen, Doktor.«

»Ich wiederhole, es geht um sein Leben,« versetzte Laudin ruhig und fest; »ich hatte aus seinen Erzählungen den wahrsten Eindruck. Es ist mir nah gegangen, Lu, es hat mich erschüttert wie wenig Dinge zuvor . . .«

Lu verzog in Ekel das Gesicht. »Die Solidarität mit diesem Schmutzfinken macht Ihnen keine Ehre,« stieß sie verächtlich hervor. »Genug von ihm. Genug von seinesgleichen. Nicht die Fingerspitze von mir. Geben Sie sich keine Mühe.«

»Ich habe es ihm versprochen, ich habe ihm mein Fürwort zugesichert,« sagte Laudin mit einer Stimme und Haltung, in denen die Loyalität und Lauterkeit von zwanzig Jahren Sach- und Menschendienst lagen. »Sie dürfen ihn nicht zertreten.«

»Ei warum nicht gar! Was soll man denn mit einem Reptil anderes tun?«

»Und wenn Ihnen seine Existenz noch so lästig, noch so hassenswert erscheint, da ist ein Mensch, da ist ein Leben, und Sie besitzen nicht das Recht, das Leben eines Menschen zu vernichten.«

Lu brach in Gelächter aus. »Wirklich?« fragte sie und blickte Laudin mit herausfordernden und funkelnden Augen neugierig ins Gesicht; »wenn ich mir aber das Recht trotzdem nehme?«

»Ein Mensch, der nichts von Ihnen verlangt als toleriert zu werden,« fuhr Laudin eindringlich fort; »wie sagte er doch . . . was kann ihr denn an acht Tagen im Jahr gelegen sein? Er würde sich damit begnügen, wie ein Hund vor Ihrer Schwelle zu kauern. Mein Gott. Es ist eine fixe Idee, eine traurige, eine unnatürliche, es liegt etwas Sinnloses und Würdeloses darin; wahr, wahr; aber wer von uns hängt nicht unter Umständen sein Seelenheil an eine fixe Idee? Haben Sie Mitleid, Lu. Mitleid mit sich selber. Nehmen Sie die Verantwortung nicht auf sich; dieser Mensch macht Ernst. Schließen Sie Frieden mit ihm; Sie stehen in seiner Schuld. Soll ich daran glauben, daß ich irgend etwas für Sie bin, daß Sie eine Spur von Freundschaft für mich empfinden, so lassen Sie mich jetzt nicht vergebens gesprochen haben.« Er versuchte ein gütiges, gütig-bittendes Lächeln, das, schon im Versuch, von seiner abgründigen Bezauberung Zeugnis gab. Es verging im Entstehen, denn Lu, mit einer Pantherkatzenbewegung, Hals und Kopf vorgestreckt, konnte nicht erwarten, ihm zu antworten.

»Meinen Sie denn, sein Leben bedeutet mir was?« fragte sie böse triumphierend; »meinen Sie denn, irgend eines Mannes Leben bedeutet mir was? Nicht so viel!« Sie knipste mit den Fingern. »Nicht so viel wie unter den Nagel geht.«

Nun kam es wie Sturzflut, aus einem Mund, den die Worte gleichsam zerrissen, weil er sie nicht auf einmal fassen konnte. Angesammeltes von Jahren, hervorbrechend mit Wildheit. Da mischte sich Rohes und Niedriges mit Absurdem und Ursprünglichem, und mitten in blendendes Theater fiel ein Aufschrei wie aus der Tiefe des Volkes.

Laudin rang mit dem entfesselten Element; das Gefühl der Ohnmacht hinderte ihn nicht daran, es dämmen und niederzwingen zu wollen; das Gefühl der Bewunderung nicht, Bewunderung wie bei einem Vulkanausbruch, sich des Übermaßes in einer Regung von Scham zu erwehren. Er rang mit Miene und Gebärde, mit Blick und beschwörendem Stammeln. Er rang um jenes Leben, um jenen lebendigen Menschen, der ihm fremd war und zu dessen Anwalt er sich gemacht, und sah dabei aus, als sei er sich selber fremd, als stehe er auf einer halluzinierten Bühne und spiele als stumme Figur in einem Schauspiel, von dessen Inhalt er nur diese eine Szene erfuhr.

Schwer, wenn nicht unmöglich, zu ergründen, was Luise Dercum gerade in diesem Moment und bei dieser ihr im Innersten vielleicht ganz gleichgültigen Veranlassung so aus aller Form und Beherrschung trieb. Es konnte eine Laune sein; Anreiz von einem Erlebnis her, das mit dieser Sache gar nichts zu schaffen hatte; Bedürfnis, sich zu hören und zu spüren; Verlockung zur Mystifikation; das Gefallen, das sie bisweilen daran fand, die Oberfläche ihres Wesens zu trüben und undurchsichtig zu machen. Das Komplizierteste wie das Primitivste konnte Ursache sein, und ohne Zweifel wagte sie viel dabei, da sie gewissermaßen die ihr von ihrem Talent und ihrer Natur gezogenen Grenzen überschritt; ihr lag mehr das Rührende, Schmelzende, idyllisch Versunkene, träumerisch Beseelte und auf der andern Seite dann das Trotzige, Flinke, Funkelnde, pagenhaft Energische; das war ihr Register, nicht Sturm und Raserei. Aber diese Geschöpfe sind letzten Endes unberechenbar und unerforschlich; unter Umständen riskieren sie sogar einen handgreiflichen Vorteil, um die wollustspendende Kraft zu erproben, von der sie sich getragen fühlen.

Mitleid forderte Laudin? Die Erfahrungen haben ihr kein Mitleid übrig gelassen. Sie hat keinen Platz dafür. Sie hat Jugend und Blüte drangegeben. Damit hat sie bezahlt. Männer; sie kennt das Geschlecht. Sie ist durch die ganze Spießrutengasse gehetzt worden und ist aller Illusionen bar. Sie weiß nichts mehr von ihrem Vater (eine neue Variante der Vergangenheit!); Brüder hat sie nie gehabt (ebenfalls neu); das halbe Dutzend Freunde will sie ausnehmen, obwohl auch die manchmal die weißen Raben nicht waren, als die sie sich gegeben; aber die andern. Sie kennt die Physiognomien, die Allüren, die Lockspeisen, die Märchen, die Masken; sie kennt die Krämer und die Prinzen, die Börsenjobber und die Generäle, die Minister und Weinreisenden, Beamten und Pfaffen, Schriftsteller und Diplomaten, Tänzer und Professoren. Sie kennt die Biedern, die Derben, die Feinen, die Frommen, die Idealisten, die Heuchler, die Schwindler, die Perversen, die Geizhälse, die Verschwender, die Gecken, die Familienväter, die grünen Jungen, die Lämmer und die Wölfe. Was kennte sie nicht? Wimmeln sie doch um sie wie die Küchenschaben. Einige machen sich kostbar. Sie sind es nicht. Einige machen sich dämonisch. Das sind noch die Amüsantesten, wenn auch unfreiwillig. Einige schwören, daß sie vor Liebe sterben. Nimmt man sie beim Wort, so stellen sie sich dumm. Einige sterben wirklich. Mit denen hat man die meiste Schererei, und wozu wäre ihr Leben nütze gewesen, das sie hinwerfen wie einen alten Stiefel, weil man sich von ihnen nicht will mürb machen lassen? Jeden kann man mit falscher Münze kaufen, einem unverschämten kleinen Betrug von Vergnügen, so plump, daß man staunen müßte, graute einem nicht insgeheim davor. Wenn sie zurückblickt, hat sie nichts in der Hand; sie haben ihr die Seele aus dem Leib gestohlen und haben damit das Weite gesucht. Ein Weib wie sie kann niemals Mutter werden; das Erdreich ist verdorben bis tief hinunter. Sie kann auch eigentlich nicht mehr achten; die Männer haben sie den Menschen abspenstig gemacht. Sie kommt sich manchmal vor wie ein Stück Wild auf der Treibjagd; will sie durch die Kette brechen, muß sie ihre eingelernten Kunststücke zeigen. Sie erinnert sich an eine Nacht in Posen; es war während des Krieges; die Offiziere kamen ausgehungert von der Front; eine Gesellschaft halbbetrunkener Laffen stürmt ihre Wohnung, zwingt sie aus dem Bett, kaum hat sie Zeit, einen Fetzen umzuwerfen, unter Gejohle schleppen sie sie in das sogenannte Grand Hotel, und sie muß bei ihnen sitzen und soll ihnen Mätzchen vormachen bis in die Morgenfrühe, und sie geraten in Tobsucht, als sie sich ihnen nicht ausliefern will und ihnen den Papiergeldhaufen, den sie vor ihr ausschütten, vor die Füße wirft; dazu die Zigeunermusik und ein paar armselige polnische Jüdinnen, die den Kerlen ihre Verzweiflung vortanzen. Was noch? Was verlangt Laudin noch? Oh, sie kann ihn bedienen; von solcher Ware kann er haben, soviel er will. Soll sie sich schrecken lassen, wenn einer aus dem Treibergesindel, dem es zufällig gelungen ist, sie an den Ehepflock zu binden, wenn der mit weinerlichem Gefasel Rechte geltend macht und sich noch was drauf zugute tut, daß er das Bett ausnimmt und bloß den Tisch beansprucht? Soll sie etwa Tränen darüber vergießen? Zehn von solchen Leben wie seines in die eine Wagschale und noch nicht eine einzige Nacht von ihr in die andere! Acht Tage! Acht Tage können acht Jahrhunderte sein. In acht Tagen kann einen der Ekel umbringen. Für sie gibt es nicht kurze Zeit und lange Zeit, für sie gibt es nur volle und leere Zeit; Zeit, in der sie wächst, und Zeit, in der sie welkt. Sie wirft ihr Herz in die Sekunden, und das ist ihre Ewigkeit. So ist sie, so ist sie beschaffen, keiner weiß es, keiner hat es noch entdeckt, und kein Preis ist so hoch, daß sie das dafür hingeben möchte, was keiner noch von ihr besessen hat. Weiter hat sie nichts zu sagen. Auf Wiedersehen.

Bei den letzten Worten war sie eidechsenflink in den Mantel geschlüpft, und ehe Laudin ihr in den Weg hatte treten können, war sie draußen.

Es war ein unvergleichlicher Abgang. Auf der Stiege raffte sie sich hochaufatmend und lächelte im Genuß ihrer selbst und als fragte sie sich: was wird er jetzt tun?

Sie ihrerseits begab sich sogleich zum Juwelier Eßlinger, den sie mit dem Hinweis auf den Advokaten Laudin ohne sonderliche Mühe zu bewegen wußte, ihr zwei Tage Frist zu geben.


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