Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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Wahrscheinlich hatte Konstanze Altacher während ihrer Zusammenkunft mit May Ernevoldt dem jungen Mädchen bestimmte Vorschläge wegen einer pekuniären Abfindung gemacht, um so das Versprechen, das sie ihrem sterbenden Gatten gegeben, dem Buchstaben nach zu erfüllen. May war aber, wie erwähnt, durchaus nicht zu bewegen, darüber zu sprechen, ob aus Verachtung oder einem Gefühl der Demütigung, das sie bei dieser Gelegenheit erlitten, war nicht zu erfahren. Als Laudin ihr vorstellte, daß er, um eingreifen zu können, von allem Geschehenen bis ins einzelne wissen müsse, berief sie sich immer wieder auf Luise, die von ihr zur Mitteilung ermächtigt worden sei.

»Ich habe Ihnen noch viel zu erzählen,« sagte sie zu Laudin in vertrauensvoller Haltung, die sie nur gegen wenige Menschen zeigte, »und ich habe mir längst vorgenommen, es zu tun. Die Ehe Edmunds und seine Erlebnisse in der Ehe, das ist etwas, wovon ich innerlich nicht loskommen kann, es ist für mich wie ein Sinnbild von schuldigem und leidendem Dasein; eine ganze Passion. Wenn ich nur die Kraft dazu habe; es ist so viel drin enthalten, das Allerschmerzlichste und düsterste. Was er niedergeschrieben hat, gibt nur einen geringen Begriff von allem. Meine Ansichten über die Ehe sind dadurch von Grund aus geändert worden, obschon ich mit ihm selbst gerade darüber nie gesprochen habe; nur jetzt kommt es manchmal vor,« hier wurde ihre Stimme zu einem kaum verständlichen Flüstern, und ihre Augen versanken, »daß ich ihn rufe, um ihn zu fragen und mich mit ihm zu beraten. Denn für mich ist er ja nicht tot.«

Laudin wußte schon von Luise Dercum, daß sich May völlig in die Idee und den Glauben an eine geisterhafte Verbindung mit ihrem hingeschiedenen Freund eingelebt hatte. Es aus ihrem eigenen Mund bestätigt zu hören, überraschte ihn dennoch und bereitete ihm sogar, wie ihm anzumerken war, eine Sekunde lang ein widriges Gefühl der Scham, gegen das er stets anzukämpfen hatte, wenn er sah, daß sich Menschen über die natürliche Ordnung wirklich hinwegsetzten, wirklich in einer halb geträumten Überwelt existierten und daß dies nicht bloß auf einem Hörensagen beruhte, das man mit einem Kopfschütteln abtun konnte.

Man hatte ihm berichtet, daß Konstanze Altacher seit dem Tode ihres Gatten einen wahren Kultus mit seiner Gestalt treibe, alle Erinnerungen an ihn sammle, alle Briefe hervorsuche und abschreiben lasse, seine Meinungen und Aussprüche wie Orakel wiedergebe, in allen Räumen Photographien von ihm aufstelle, gerade so, als ob es Verehrungswürdigeres als seine Person nie für sie gegeben und sie nie etwas anderes getan hätte, als sein Wesen und seine Führung zum Maßstab und zur Richtschnur der ihren zu machen. Lag da der Wiederverleiblichung, dem Wiederheraufruf ins Irdische nicht ebenfalls eine das sittliche und natürliche Gesetz beleidigende Anmaßung zugrunde, obschon von anderer Weise, nicht eine weltentfremdete, sondern eine die Tatsachen verzerrende, das gewesene Leben umlügende? So mußte sich Laudin fragen, und in der Frage bereits zweifelte er vermutlich, ob er Lüge nennen dürfe, was allen Menschen für Pietät galt, ein Lügenwerk zumeist, das doch seine besondere Wahrheit in sich trug, wie sehr er auch entschlossen war, es zu verabscheuen, samt dem möglichen Wahrheitsgehalt sogar, da ihm diese Sorte Pietät nichts anderes bedeutete als eine freche Unterschlagung begangener Sünden. Es war der Dünkel, immer wieder der nämliche Dünkel, verkleidet, verlarvt, kaum zu identifizieren und gleichwohl in dieser Form so hassenswert wie in jeder.

Phänomen; dies war sein Phänomen; so hieß er es; sein Cauchemar; das bürgerliche Gespenst, unter dem er litt, vor dem er schauderte und gegen das er zu Feld zu ziehen entschlossen war.

Er sprach liebreich mit May, um sie über die Erwägungen zu täuschen, die sich auf seinen Zügen malten wie Krämpfe. Er wollte sie verstehen. Aber gleich einer Pflanze, die ihre Blüten nur in der Dämmerung öffnet und deren Lebensäußerungen nur auf membranhaftes Tasten beschränkt sind, wurde sie hiervon gar nicht berührt und schien auch nicht zu ahnen, wie scharf er ihre Äußerung von dem »Erscheinen« des toten Freundes aufs Korn genommen hatte und wie ihm daran gelegen war, zu erforschen, welche Haltung Luise Dercum gegen einen solchen Übergriff ins Irreale einnahm. Triste Obskurantismen, urteilte er als ein Mann, der seit jeher den Aufklärerweg gegangen war, und es lag viel von dem phantasielosen Haß des Akademikers und des Liberalen in seiner Abwehr. Von dem Punkt aus betrachtet, wo er stand, war ihm die Freundschaft zwischen Luise und May ein Rätsel. Er sagte sich zwar, daß er sich in dem gewöhnlichen männlichen Irrtum befinde, als setzte Freundschaft eine geistige Gleichartigkeit und geistige Bindung voraus und daß ein solches Erfordernis unter Frauen offenbar nicht gelte; aber hier waren die Wesensverschiedenheiten so unvereinbar, daß sich auch ein herzliches Verhältnis nicht recht erdenken ließ. Eine scheue, schreckhafte, einsamversponnene, entblutete Mimose; und ein Weib, das ganz Nerv, Bewegung, Feuer, Gegenwart, Sinnenhaftigkeit und Wirklichkeit war; keine Philosophie über die Anziehung des Gegensätzlichen konnte da hinlängliche Erklärungen schaffen.

Durch diese Gegenüberstellung, die er mit der ihm eigenen Gründlichkeit vornahm, wird klar erkennbar, in welchem Licht ihm Luise Dercum damals noch erschien. Zweifellos räumte er ihr in seinen Gedanken Rechte ein, die er jedem andern Menschen, besonders jeder andern Frau, verweigert hätte. Es war möglicherweise ihre Unabhängigkeit, die ihm vor allem imponierte. Unabhängige Charaktere waren nach seiner geprüften Erfahrung am seltensten in der Welt. Wo er ihnen begegnete, verzieh er einen gewissen Hochmut und eine stolze Härte, von denen sie, wie er auch an Luise konstatierte, meist nicht frei waren. Die spezifische weibliche Genialität, das Wandlungs- und Erhöhungswunder, das sich in der Schauspielerin verkündete, war nicht danach angetan, den Weg zu ihr zu erleichtern; es gebot dem Gefühl Laudins eine ehrfürchtige Entfernung, eine stete stille Reverenz, und dieser auserwählten Sendung sich unterzuordnen, nichts von Kritik, müßiger Vergleichung, keinen Tadel und keine Verletztheit daneben aufkommen zu lassen, dünkte ihm Pflicht zu sein. Ein paar Tage nach seinem letzten Gespräch mit Fraundorfer schrieb er an diesen, um in einer trotzigen Zusammenfassung den häßlichen Verdacht zu entkräften, den der Freund auf Luise Dercum geworfen:

»Endlich einmal eine Frau, endlich einmal ein Weib, ein freies und freischwebendes Herz endlich, und infolgedessen auch wahr, irgendwie und im tieferen Sinn schuldlos, wenn man etwas wie Schuldlosigkeit in der Kraft erblicken will, mit der ein Mensch triebhaft aus seiner Wurzel steigt. Jedenfalls ist da nichts Verzerrtes, nichts Verbogenes und Vergiertes, nicht das Klebrig-Heimliche wie bei den Sklavinnen des Geschlechts, den zu gesetzlichem Beischlaf verdammten und auf ihm bestehenden Bürgerinnen.«

Worte eines Bürgers indessen, der aus seiner Region einen Ausweg sucht und seine Vorwände nicht bemerkt oder nicht bemerken will.


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