Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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16

Am Tag des Begräbnisses kam Marlene erst gegen sechs Uhr abends nach Hause und begab sich in ihr Zimmer, wo Relly am Tisch saß und ihre Schularbeiten schrieb. Marlene setzte sich ihr gegenüber und stützte den Kopf in die Hand. Sie war blaß, und ihre Augen waren gerötet.

»Wie gehts Laura?« erkundigte sich Relly.

»Sie weint und weint und weint,« gab Marlene zur Antwort; »seit zwei Stunden hab ich mich bemüht, sie zu trösten. Sie hört nicht zu und weint. Frau Professor Arndt hat dem Doktor telefoniert.«

Relly schneuzte sich umständlich, schüttelte den Kopf und schrieb weiter.

»Fragmirnichtnach,« flüsterte Marlene.

Und Relly sagte: »Still, still, Marlene.« Sie sah sich im Zimmer um und schauderte.

Sie aßen kaum, sie schliefen kaum. Sie unterhielten sich immer nur über das eine. Sie erblickten immer nur das schöne Gesicht in der Starrheit des Todes, und schöner noch im Tod, da sie den Tod nicht kannten. Sie erinnerten sich seiner letzten Worte und wie er an der Tür noch einmal umgekehrt war, um Relly und Laura die Hand zu reichen.

Sie kannten den Tod nicht nur nicht, sie glaubten ihn auch nicht. Es war da etwas wie Verstellung im Spiel. Oder man dachte an heimliche Flucht und heimliches Wiederkommen nach märchenhaft langer Zeit. Nicht zu verwinden war der Schmerz des Abschieds und über alles quälend das Rätsel der Tat.

Sie lauschten den Andeutungen, die im Hause fielen. Sie lasen die Notizen in den Zeitungen. Sie fragten einander bang und hatten Scheu vor dem aufklärenden Wort. In der Schule wurde von dem Ereignis gesprochen, und mehr oder weniger geheimnisvoll wurde der Name der Schauspielerin genannt. Man wollte wissen, daß sich schon andere Männer ihretwegen umgebracht hatten oder sonstwie ins Verderben geraten waren. Ein besonders erfahrenes und für derlei Dinge interessiertes junges Mädchen aus der obersten Klasse konnte sogar erzählen, ein reicher und angesehener Großindustrieller, Konsul Altacher, ihre Eltern seien befreundet mit ihm, habe um derselben Schauspielerin willen seine Frau und seine drei Kinder verlassen.

Aber man erblickte hierin keine Schuld, in keinem Belang. Die junge Welt beugte sich, wenn auch mit leisem Grauen, vor einer heroischen Begebenheit. Es war nicht mehr die Zeit, in der die aufwachsenden Menschen die Opfer und Entäußerungen aus Leidenschaft an den Bildern einer steril gewordenen Literatur maßen. Es war eine andere Zeit. Das Lebendige hatte sein Maß in sich selbst und sprach zu den Seelen ohne schönfärbende Mittler. Sie hatten Augen, sie hatten Sinne und bedienten sich ihrer im Trotz gegen das Abgelebte.

Schweigend einig weihten sich die Schwestern dem Gedächtnis des geliebten Freundes. Wenn sie von ihm redeten, mußten sie die Gewähr des Alleinseins haben, und Relly sperrte dann auch noch die Tür zu. Sie zählten die Eigenschaften auf, die ihn von andern unterschieden, sie entsannen sich der Gespräche, die sie mit ihm geführt, gewisser wunderlicher oder komischer Gewohnheiten, die er gehabt, zum Beispiel, daß er häufig seine Fingergelenke habe knacken lassen, oder eines kleinen Sprachfehlers, Anstoßens mit der Zunge, und daß dieser Fehler an manchen Tagen stärker bemerkbar gewesen als an andern.

Es konnte sein, daß sie im Austausch solcher Erinnerungen herzlich zu lachen begannen. »Weißt du noch, wie blöd er dreinsah, wenn er die Brille herunternahm und die Gläser mit dem Taschentuch rieb?« fragte etwa Relly. Und Marlene ergänzte belustigt: »Und wie er dann statt der Brille das Taschentuch auf die Nase setzen wollte . . .« Sie schüttelten sich vor Lachen.

Doch in der Nacht, wenn die Lampe ausgelöscht war, schlüpfte Relly zur Schwester ins Bett, und sie hielten einander stundenlang umschlungen, angstvoll und stumm.

Es konnte indessen nicht verborgen bleiben, daß Relly eine gesteigerte Empfindlichkeit gegen die Eindrücke des täglichen Lebens zeigte. Bei lautem Geräusch fuhr sie zusammen. Leicht wechselte sie die Farbe; oft erschrak sie schon, wenn man sie rief. Sie fürchtete sich, durch finstere Räume zu gehen und hatte grundlose Anfälle von Zorn oder von Verdrießlichkeit.

Marlene wurde sichtlich verschlossener und im Umgang mit ihresgleichen wie mit Älteren wachsamer und ablehnender. Hatte Pia schon früher Anlaß gehabt, manchen wie sie glaubte unberechtigten Selbständigkeitsgelüsten der Tochter mit sanfter Bestimmtheit zu begegnen, so mußte sie jetzt eine fortwährende innere Auflehnung in ihr bekämpfen, die keine rechten Angriffspunkte bot und für die es also auch keine rechte Abwehr gab, wenigstens keine vernünftige und heilsame. Gegen Ende der Woche kam Marlene wieder einmal zu später Stunde heim, und als Pia sie fragte, weshalb sie so lange ausgeblieben sei, erklärte sie ruhig, sie habe mit Laura Arndt einen Spaziergang gemacht und sich an die Zeit nicht halten können. Pia bedeutete ihr darauf, sie finde die Rechtfertigung schon darum ungenügend, weil es nicht gebilligt werden könne, daß sie mit der Freundin unbegleitet und in den Abend hinein sich herumtreibe. Vielleicht ein unvorsichtiges Wort, herumtreiben; vielleicht bereute es Pia auch, als sie es ausgesprochen; doch Marlenes Erwiderung war überraschend in ihrer hochmütigen Schroffheit. »Es ist gleichgültig, ob es gebilligt wird oder nicht,« sagte sie; »außerdem hat ja jede von uns die andere begleitet.«

»Marlene!« rief Relly, die dabeistand, entrüstet aus.

Marlene zuckte die Achseln, und um den lieblichen Mund lagen Eigensinn und Härte. Pia schaute sie an. Leise fragte sie: »Würdest du so auch deinem Vater antworten, wenn er dich zur Rede gestellt hätte?«

»Vorausgesetzt, daß er sich dafür interessieren würde, was ich mit meiner freien Zeit anfange: ja,« gab Marlene zurück. »Dann käme es eben darauf an, ob wir uns verständigen könnten oder nicht.«

»Forderst du denn, daß er sich mit dir verständigt, wo er ein Recht hat, zu befehlen?« fragte Pia erstaunt.

»Es gibt kein Recht, zu befehlen,« versetzte Marlene, ungewöhnlich bleich und mit gesenkten Lidern; »wenn er befiehlt, muß ich gehorchen, aber dann ist es ein schlechter und unbrauchbarer Gehorsam. Was weiß er von mir?«

Pia schwieg und sah sie an.

»Was weiß er von mir?« wiederholte Marlene dringender, die rechte Hand ballend, ohne die Augen aufzuschlagen.

Pia verließ das Zimmer.

»Marlene, es war die Mutter,« flüsterte Relly verletzt.

Marlene riß Mantel, Hut und Handschuhe ab, warf sich auf ihr Bett und fing an, fassungslos zu schluchzen. Relly, sehr erschrocken, beugte sich über sie, streichelte ihr den Kopf und suchte sie mit vielen zärtlichen Worten zu beruhigen. »Man kann ihnen nichts klarmachen,« stammelte Marlene schluchzend in das Kissen, »es ist als wenn sie keine Schmerzen hätten. Es ist als wenn sie keine Seele hätten. Sie wissen nichts, und sie begreifen nichts . . .«

Dies alles hörte Pia, die vor der Türe stehengeblieben war, nicht um zu lauschen, sondern um bekümmert zu überlegen. Sie kehrte um und ging wieder ins Zimmer der Mädchen. Sie bat Relly, sie mit Marlene allein zu lassen, und Relly gehorchte mit einer Miene, die die Mutter aufmuntern und ihr danken sollte.

»Steh auf, Marlene, und komm zu mir,« sagte Pia, ohne ihre Ratlosigkeit verbergen zu wollen.

Marlene erhob sich und trat an den Tisch. »Sag mir jetzt nicht, daß ich unrecht hab, Mutter, denn ich weiß, ich hab unrecht,« flüsterte Marlene mit bekümmerter Schelmerei.

»Nun, und – Marlene? Meinst du, du hast dich schon entlastet, wenn du deinen Fehler zugibst? Das wäre ein zu billiger Preis, nicht wahr?«

Aber es zeigte sich, daß Marlene sich durchaus nicht entlasten wollte. Was sie glaubte zugestehen zu können, war ein Verstoß gegen die Form. Damit konnte Pia nicht zufrieden sein, obwohl Pia, wie die Dinge lagen und ungeschickt wie sie war zu jeder Art von feierlicher Inquisition, zur Nachgiebigkeit entschlossen schien.

Marlene brannte im Gegenteil darauf, sich auszusprechen, und nicht Anklagen hinnehmen wollte sie und als Schuldige zerknirscht vor der Mutter stehen, wie diese vielleicht erwartete, sondern selber Anklägerin sein und ihrem gepreßten Herzen Luft machen. Doch wie schwer war da die Sprache auch für sie; wie gefährlich die vielbenutzten Worte. Sie fühle sich nicht wohl; bedrückend sei ihr oft die Atmosphäre des elterlichen Heims; konnte sie deutlicher werden? in die vorsichtigsten Wendungen gekleidet, mußte es die Mutter verwunden, und es half dann nicht, mit Blick und Gebärde zu sänftigen. Wunderlicher Fall: die ahnungslose Mutter – das ahnungsvolle Kind. Die in die Dinge verkerkerte Frau; das junge Mädchen, das deren Unwürdigkeit und lähmendes Gewicht erkannte; das zaghaft auf den Vater wies als wie auf eine rätselhaft unkenntliche, sich selbst überlassene Figur und damit Unruhe, ja, ein erstes Aufflammen von Angst in der Gattin beschwor. So mußte Marlene gleich wieder alle Geschicklichkeit anwenden, um das Gesagte zu vertuschen. Nein, nicht so habe sie es gemeint . . . nicht so sei es aufzufassen . . . und mehr derartiges. Traurig ließ sie den Kopf hängen; an der Unmöglichkeit der Mitteilung verzweifelnd, schaute sie die Wand an.

Doch gab es das andre noch: Erziehung und was gebrechlich an ihr sei, gebrechlich und veraltet. Auf dieses Wort wies sie gleichsam mit dem Finger: veraltet. Nicht gegen den Zwang lehne sie sich auf; Zwang könne förderlich sein; wohl aber gegen den überflüssigen Zwang und den, der aus Gewohnheit und Bequemlichkeit geübt werde. »Ist es denn ein Verbrechen, wenn man das Falsche und Verkehrte von sich entfernen will, um nicht überflüssig zu leiden?« fragte sie in der Haltung eines Volkstribuns. Und dann das, was sie kühn als Unredlichkeit bezeichnete: »Muß ich deshalb, weil ich Nahrung, Kleidung, Wohnung und Pflege von meinen Eltern erhalte, ihnen meine Freiheit und meine Wahrheit ausliefern? Ist das nicht ein Handelsgeschäft, bei dem auf meine Schwäche und auf meine Abhängigkeit spekuliert wird? Bin ich darum weniger ein Mensch, ein Mensch mit Willen und Erkenntnis, weil ich genötigt bin, mich einer biologischen Tatsache zu fügen?«

Es war ein Glück, daß solch tönender Tirade ein ganz klein wenig Selbstspott beigemischt war, sonst wäre Pia in heillose Verlegenheit geraten. Halb unwillig, halb ironisch blickte sie in das vor Eifer glühende Gesicht der Tochter. »Ich bin dir nicht gewachsen, Marlene,« gestand sie seufzend; »es ist ja eine Schande, aber du machst mich mundtot mit deiner Suada. Worauf willst du eigentlich hinaus? Was soll geschehen? Was soll anders sein?«

»O vieles!« rief Marlene aus; »vieles sollte anders sein, vieles müßte geschehen.« Aber darüber könne sie nicht sprechen; die Worte in ihr fräßen einander auf. Man höre immer, auch von bedeutenden Leuten: die Verhältnisse sind wie sie sind, die Menschen sind wie sie sind; man vermag sie nicht zu ändern. Dabei könne man vor Trostlosigkeit ersticken. »Wirklich nicht, Mutter? Kann man sie wirklich nicht ändern? Bist du ganz, ganz durchdrungen davon? Zum Beispiel, antworte mir, Mutter, antworte aufrichtig: Glaubst du, daß Nikolaus hat sterben müssen? Daß sich daran nichts hat ändern lassen? Daß es nicht einen Menschen gibt, der es hätte verhindern können?«

»Wer denn, wie denn, Marlene?« fragte Pia beklommen.

»Ich sage nichts, Mutter,« wich Marlene zurück, über sich selbst erschrocken und mit zitternden Lippen Ausflüchte suchend; »es ist nur so . . . so grausam alles. Hat ihn denn sein Vater gekannt? So ein Mensch wie Nikolaus, er ist doch nicht so leicht zu lesen. Hat sich sein Vater bemüht, in ihm zu lesen? Oder hat er nichts von ihm gewußt? Vielleicht hat er nie nachgedacht über ihn. Und das ist furchtbar, Mutter, so furchtbar, daß ichs gar nicht ausdenken kann. Ob er ihn geliebt hat, wie der Vater sagt, kann ich nicht beurteilen. Was meinst du? Und wenn auch, war das wirkliche Liebe? Und wars wirkliche Liebe, dann genügt Liebe allein nicht. Dann muß mehr da sein, etwas, was den andern Menschen packt und mitnimmt, auch ein Zwang, ja, ja, aber der wunderbare Zwang, das Wirkliche eben, verstehst du mich, Mutter? Versteh mich doch!«

Das Wirkliche! Immer wieder dieses Wort: das Wirkliche! Was war es denn für ein Zauberwort im Munde einer Fünfzehnjährigen? Was schloß es auf oder was verhieß es? Pia schwieg betroffen. Der leidenschaftliche Aufruhr und Kummer in Marlenes Rede ließ sie ebensosehr verstummen wie vielleicht die Wahrheit darin, die mit ihrem eigenen dunklen Gefühl übereinstimmen mochte.

»Was ist dagegen zu tun, Kind?« fragte sie hilflos.

»Ach, Mutter,« erwiderte Marlene mit einem beinahe mitleidigen Lächeln, als hätten sie die Rollen vertauscht, die ihnen die Jahre zuerteilt. Sie schlang die Arme um Pias Hals und küßte sie auf die Wange. Und weinte wieder, doch aufatmend und gelöst.


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