Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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31

Ein paar Tage danach begannen sonderbare Belästigungen für Pia. Eine Person, die ihren Namen zu nennen sich weigerte, rief vormittags, mittags, abends, ja oft noch in der Nacht telephonisch an. Eine scharfe, gellende Stimme; die Stimme einer Frau. Sie verlangte, Frau Doktor Laudin zu sprechen, in einer dringlichen Sache, wie sie behauptete, einer Sache, die den Doktor Laudin betraf. Zwar wußte Pia, daß die meisten dieser angeblichen Dringlichkeiten bei Licht besehen Zudringlichkeiten waren; daß es sich dabei um Leute handelte, die Laudin aus irgendwelchen Gründen abgewiesen hatte und denen man in der Kanzlei den Weg zu ihm versperrte; doch war sie bei den ersten Anrufen der Unbekannten gutmütig genug, sich an den Apparat zitieren zu lassen. Auf ihre Frage nach dem Namen der Sprechenden erfolgte regelmäßig eine Pause; dann kam eigentümliches Gerede, halb verworren, halb unverschämt, Gemisch von Drohungen, Beschwerden und dunklen Andeutungen. Pia überließ den Verkehr mit der Lästigen dem Stubenmädchen; lehnte es das Mädchen ab, die verschiedentlichen Botschaften auszurichten, so wurde es von der Stimme mit Insulten überschüttet. Bisweilen wurde mitten im Gespräch abgeläutet; bisweilen hörte man nur unartikulierte Worte. In den späten Abendstunden gab es für Pia kein Entweichen, außer sie hätte riskieren wollen, wichtige Benachrichtigungen, allenfalls eine Mitteilung von Laudin zu versäumen. Immer häufiger wählte die Stimme die späten Stunden; mindestens zweimal an jedem Abend. Bei den ersten Worten klang sie gewöhnlich verstellt, dann drang die unsympathische Schärfe durch, und sobald Pia sie erkannte, legte sie den Hörer weg. Es erfaßte sie Abscheu gegen den Mechanismus und seine bösartige Gesicht- und Gestaltlosigkeit; von einem Draht und einer Glocke konnte man gequält werden; es gab fast keine Abwehr, es war so angeschmiedet, man wurde tückisch vergewaltigt; man mußte sich einfach fügen, dem Draht und der Glocke fügen, ob es auch noch so unsinnig und beschwerlich war. Allgemach wurde es so, daß sie zusammenschreckte, wenn das Signal kam; ja, daß sie nervös in die Stille horchte, jeden Augenblick den schrillen Laut erwartend.

Eines Abends dünkte es ihr zuviel. »Nennen Sie Ihren Namen und sagen Sie, was Sie von mir wünschen, oder ich werde mich an die Polizei wenden,« rief sie mit entrüsteter Ungeduld in den schwarzen Trichter. Das Wort Polizei schien sofort zu wirken. Die Stimme bekam etwas Süßliches. Gut, sie wolle sich nennen, sagte die Unbekannte; sie habe es bisher nicht für zweckmäßig gehalten; sie habe gehofft, einmal unter den vielen Malen werde vielleicht doch der Doktor Laudin in Person am Apparat sein; sie müsse ihn sprechen, ausführlich und privat; wolle die Frau Doktor ihm gütigst sagen, wer angeläutet habe, so seien weitläufige Erklärungen nicht nötig; sie solle nur sagen, die Frau Hartmann sei es; er wisse dann schon Bescheid. Sie könne auch in die Villa hinauskommen; sie scheue den Weg nicht, man möge ihr bloß eine Stunde bezeichnen, sie werde kommen. Der Brief, den ihr der Herr Doktor habe schreiben lassen, habe sie entsetzlich aufgeregt, sie sei einen Tag lang im Bett gelegen und habe sich nicht rühren können; solche Briefe seien Gift für sie; sie werde der Frau Doktor den Brief mit der Post zuschicken, da werde sie sich überzeugen können, wie ungerecht man sie, Brigitte Hartmann, behandle. Die Ungerechtigkeit schreie zum Himmel, und das von einem Mann wie Doktor Laudin, auf dessen Ehrenhaftigkeit sie hundert Eide geschworen hätte. Die Frau Doktor möge ihr antworten, wenn sie den Brief gelesen habe; Telephonnummer sechsundfünfzig zwei dreizehn; es hänge viel davon ab, daß sie, Brigitte Hartmann, mit Frau Doktor in Verbindung bleibe; sie sei auch willens, Frau Doktor zu besuchen und mit ihr allein zu sprechen; unter Umständen natürlich; und es sei nicht zum Vorteil des Herrn Doktor Laudin, wenn er dabei beharre, sie nicht zu empfangen und anzuhören; nein, durchaus läge es nicht in seinem Interesse, Frau Doktor werde schon sehen; es seien eben Dinge zu ihrer Kenntnis gelangt, die auch für die Frau Doktor ausschlaggebend sein dürften. Sie fühle sich erleichtert, daß sie endlich der Frau Doktor ihr gepreßtes Herz habe ausschütten können; die Frau Doktor gefalle ihr nämlich sehr; sie habe vorigen Sonntag die Frau Doktor in der Stadt gesehen; ihre Kusine habe sie ihr gezeigt. »Gute Nacht, Frau Doktor.«

Alles dies sprudelte wasserfallähnlich aus der Hörmuschel in Pias Ohr; in einer Art von Betäubung ließ sie es über sich ergehen. Es kümmerte sie nicht. Es ging ihr nichts nah daran. Es waren Laudins Geschäfte, entlegener Bezirk; Laudins Menschen, verschwommene Silhouetten; die Namen hatten keine ausgeprägtere Bedeutung als Namen in einem Adreßbuch; dran haftendes Schicksal war nicht viel mehr als Geklapper von Tellern in der Küche. Trotzdem war etwas Häßliches aufgespritzt; Pia schaute unwillkürlich ihre Hände an, als seien sie beschmutzt.

Am folgenden Nachmittag erhielt sie den Brief, Zuschrift der Kanzlei an Frau Brigitte Hartmann. »Sollten Sie sich bis zum 15. Januar in der Sache Karoline Lanz nicht in einem unsere Klientin befriedigenden Sinne entschieden haben, so würden wir uns gezwungen sehen, die Strafanzeige zu erstatten. Unter Darlegung des Sachverhalts an das für die Nachlaßabhandlung zuständige Gericht müßten wir den Antrag auf Ihre Vorladung und eidliche Aussage stellen. Wir werden unterdessen namens unserer Klientin bei der Bank, wo das Hartmannsche Vermögen erliegt, nachforschen lassen, ob Sie seit Entfernung oder dem Tod Ihres Gatten irgendeine Beziehung zu diesem Depot gehabt haben, und für alle Fälle werden wir dafür Sorge tragen, daß das Depot von Amts wegen gesperrt wird, was unter Vorlage des Totenscheines jederzeit geschehen kann. Wir sind Ihrer Rückäußerung gewärtig und zeichnen« usw.

Dazu hatte Brigitte Hartmann folgendes geschrieben: »Geehrte Frau Doktor sehen also, wie man mit mir umspringt. Ich bin fest entschlossen, mir einen derartigen Ton nicht gefallen zu lassen. Bin ich denn eine Hergelaufene, bitte? Nein, ich bin eine Mutter, genau so wie Sie, Frau Doktor, und als Mutter wie auch als Ehegattin habe ich mir nichts vorzuwerfen, höchstens, daß ich meine Pflichten immer viel zu ernst genommen habe. Andere dagegen treiben mit den heiligsten Gefühlen Schindluder, Leute, von denen es kein Mensch glauben sollte. So ist es, geehrte Frau Doktor. Zehnmal war ich bereits in der Kanzlei; Herr Doktor Laudin war nicht für mich zu sprechen, einfach nicht zu sprechen, eine Kränkung, für die ich gar keinen Ausdruck habe, zumal meine Verehrung für den Herrn Doktor unendlich ist. Ich höre, daß viele Parteien sich über Vernachlässigung beklagen; die wissen eben nicht, was ich weiß, was ich mich jedoch hüten werde, Frau Doktor zu verraten. Immerhin, was nicht ist, kann noch werden, ich bin keine, die ihr Licht unter den Scheffel stellt, und meine Augen hab ich dort, wo sie hingehören, schon weil man sich umtun muß in der Welt und zusehn, ob bei den Großen oben alles so moralisch ist wie sie uns glauben machen. Ich bin ja auch nicht auf der Wassersuppe hergeschwommen, bin von guter Familie, bitte, und habe Bildung genossen, worauf aber leider wenig Rücksicht genommen wird. Hoffe, daß Frau Doktor die offene Meinung nicht verübeln Ihrer achtungsvoll zugeneigten Brigitte Hartmann.«

Pia begriff von alledem nichts, nur hatte sie wieder, wie gestern, die Empfindung, von Unreinlichem berührt zu werden. Am nächsten Morgen, beim Frühstück, fragte sie Laudin: »Wer ist Brigitte Hartmann?« reichte ihm den Brief und berichtete in ein paar Worten, was für seltsamen Unfug die Betreffende seit einer Woche getrieben habe.

Laudin las den Brief, behielt ihn sogar länger in der Hand als Pia glaubte, daß es nötig gewesen wäre, und mit einer zornigen Spannung, die Pia abermals wunderte, sagte er: »Man muß auf Mittel sinnen, die Närrin unschädlich zu machen. Es ist denkbar, daß sie inzwischen die Frechheit noch weiter treibt und dich durch persönliches Erscheinen molestiert. In diesem Fall meide die Begegnung, meide den Anblick, meide sie wie die Pest. Aber ich werde nicht vergessen, sie vorher zur Ruhe zu bringen.«

Lächelnd und mit leisem Kopfschütteln sah ihn Pia an. »Ich hätte dir bestimmt nichts erzählt und dir auch den Brief nicht gezeigt, hätt ich geahnt, daß es dich erregt oder dir nur einen unangenehmen Augenblick bereitet,« antwortete sie. »Ich weiß nichts von der Frau, aber sie ist wohl ein armer Teufel, und an die Sorte wirst du gewöhnt sein. Sie scheint sich festgerannt zu haben und zappelt und winselt nach dir. Das kann dich doch nicht anfechten. Oder doch? Es beunruhigt dich etwas dabei; willst du mir nicht sagen, was es ist?«

Man hatte sich heute mit dem Frühstück ein wenig verspätet; die Kinder waren schon zur Schule aufgebrochen, die beiden Gatten saßen allein bei Tisch. Während Pia so fragte und in das große ernste Gesicht Laudins schaute, veränderte sich der heitere, in vieljähriger Morgengewöhnung sorglose oder sorgenabhaltende Ausdruck ihrer Züge, und plötzlich lag auf ihrer schönen Fräuleinstirn gleichsam ein trüber Widerschein dessen, wovon auch seine Stirn zerfurcht und zerwühlt war, ohne daß sie jedoch wußte und aufnahm, was es war. Es äußerte sich wie ein Akt inneren Gehorsams, und durch solche Akte werden die Gesichter von Eheleuten schließlich einander ähnlich. Einige Sekunden lang trafen sich ihre Blicke, und nach ungebührlich hingedehntem Schweigen sagte Laudin ungefähr:

Vollkommen irrig die Annahme, man habe hier ein irgendwie bemitleidenswertes Geschöpf vor sich. Gänzlich fehl am Ort sei Mitleid. Die trete auf, bewähre sich und stehe in floribus: eine Repräsentantin. Was sie tue, wolle, beanspruche und worin sie lebe und atme, sei Ergebnis alles Mittleren, aller zwischen den Klassen getroffenen Übereinkünfte, aller eisernen Regel, die im Lauf der Zeiten Rost angesetzt, aller Verträge, Bullen, Paragraphen, Vorschriften und Urkunden, die seit dem Bestand von Staaten ausgegeben und fixiert worden seien, um Recht in Zwang zu verkehren, Sicherheit in Angst und Sitte in Zuchthausgeist. Man könne getrost behaupten, daß durch die langsame und fleißige Minierarbeit besagter Repräsentantin und ihrer Hintersassen alle edle Freiwilligkeit zerstört worden sei und beständig weiter zerstört werde; vor ihr und ihren Hintersassen sei die Menschheit in Bausch und Bogen ein einziger Schuldner, sie habe das Gesetz gepachtet, die Moral, die Liebe, die Treue, die Frömmigkeit, den lieben Gott, und insofern sie mit ihrem irdischen Glück und bei der Erfüllung ihrer Forderungen zu kurz gekommen sei, stehe die ganze menschliche Gesellschaft bei ihr in der Kreide. Sie trage den Schuldschein wohlverwahrt am Busen und weise ihn bei jeder Gelegenheit vor; ohne Unterlaß in ihren angestammten Rechten beleidigt, sei sie der Shylock der bürgerlichen Welt, Shylock mit dem Schein.

Fraglich, ob Pia es verstand. Sozialkritische Ausführungen dieser Art mit symbolischem Gehalt gingen über ihren Horizont. Doch ruhte ihr Blick mit inniger Aufmerksamkeit auf Laudins Gesicht, und offenbar war es mehr der Ton seiner Rede, der bittere, müde, heimlich erregte Ton, als der Sinn, der sie betroffen machte. Möglicherweise waren die Worte gar nicht an sie gerichtet, sondern an eine imaginäre Zuhörerschaft; diesen Eindruck konnte man gewinnen, wenn man ihn ansah, wie er mit gesenkten Augen sprach, das Kinn auf die aufgestützte Hand gelegt, ein eigentümlich ferner und unvertrauter Mann plötzlich.

Man kann ja täglich beobachten, mit welcher verbissenen Hartnäckigkeit er auf seine Privilegien pocht, der weibliche Shylock mit dem Schein. Pia soll sich zum Beispiel die Mühe nicht verdrießen lassen, das charakteristische Schriftstück zu studieren, das sie ihr geschickt, dieses oder auch andere von derselben Observanz; es läuft immer auf dasselbe hinaus. Dieselben Fahnen werden geschwungen, dieselben Fanfaren geblasen, mit derselben wütenden Unerbittlichkeit dasselbe Festschießen auf dieselben Trophäen veranstaltet. Pflicht, Ehre, Gewissen, Mutterschaft, Aufopferung, Glaube, Religion, Heim und Herd, alles ist zu finden, alles wird aufgezeigt, nur nicht Stolz, nicht Würde, nicht Herzensgröße. Er ist unempfindlich gegen Gründe, der Shylock im Unterrock, er hört sie nicht, er hört den andern Menschen nicht, er sieht ihn nicht, er schwenkt bloß seinen Schein und will das kontraktlich zugesicherte Pfund Lebendfleisch haben. Für alles übrige ist er taub. Er alarmiert die Polizei, beschäftigt die Gerichte, und wenn er selbst sich gegen Polizei und Gericht vergeht, entfesselt er eine ungeheuerliche Flut von Rabulistik, ruft mit wildem Schmerzensgeschrei die ganze Gemeine zum Zeugen seiner Unschuld auf und bringt es schließlich fertig, das eigene Verbrechen mit dem Nimbus des Märyrertums zu schmücken. Es ergötzt Laudin, es lächert ihn bis zur Schadenfreude, wenn er sich Shylocks Umtriebe am Telephon vorstellt. Es ist so witzig, Frau Shylock am Telephon; sie macht sich alle staatlichen Vorteile und Erleichterungen zunutze, um ihrer Hauptleidenschaft zu fröhnen, als welche darin gipfelt, Menschen in Atem zu halten und zu Tributären ihres Unglücks zu machen. Frau Shylock will die ganze Welt um sich her dampfen sehen; sie trägt ein schmerzbewegtes Bild von sich selbst in der Brust und möchte, daß alle daran teilhaben und mit ihr um sie trauern. Gerade solche Vehikel wie das Telephon liebt Madame Shylock; auch Telegraph, Luftpost und Radio; die vergöttert sie nahezu, denn sie ermöglichen ihr eine unvergleichlich gesteigerte Betriebsamkeit gegen das schleppende Verfahren, bei dem sie groß geworden ist, eine Geschwindigkeit des Manifests, des Nachrichtendienstes, des Leutedurcheinanderbringens, die alles übertrifft, was sie sich in ihren ehemals bescheidenen Träumen hat beifallen lassen, da sie, mag sie unter Umständen äußerlich noch so hochgestiegen sein, in die Großindustrie oder gar in den Adel hinauf, im Grund ihrer Seele stets Plebejerin bleibt. Was ist Plebejertum anderes als das Pochen auf den Schein, den gestempelten Schein, in diesem wie fast in jedem Fall mit dem Hinblick auf Lebendfleisch –?

Pia hatte den Kopf gesenkt wie jemand, der in einen Steinregen geraten ist. Ihre Wangen waren blaß geworden; ihre Augen groß und rund. Es war als überlege sie: was ist das für ein Mann, der diese Worte spricht? Kenn ich ihn? Kenn ich ihn noch? Oder kenn ich ihn am Ende nicht mehr? Als wolle sie das Gehörte wegräumen und mit etwas Hausbackenem zudecken, sagte sie leise: »Der Schneider hat wissen lassen, du sollst zur Anprobe kommen, Friedrich. Es freut mich, daß du wieder einmal an deine Equipierung denkst. Seit zwei Jahren hast du dir keinen neuen Anzug machen lassen. Es war schon eine Schande. Obwohl mir Egyd Fraundorfer neulich sagte, als ich wegen seines skandalösen Aussehens mit ihm zankte, ein Mann in seinen Jahren gehe nicht ohne zwingende Not zum Schneider; es sei immer ein Fluchtversuch, wenn ers doch täte, oder ein Betrugsversuch. So ein Unsinn, so ein spitziger Fraundorferscher Unsinn.«

Laudin blickte empor. »Ja, es ist ein Unsinn,« sagte er. »Vielleicht, vielleicht ist auch ein Korn Wahrheit drin. Wir wollen es aber nicht untersuchen, Pia.«

Er erhob sich und küßte sie auf die Stirn. Einer ihr selbst unerklärlichen Regung nachgebend, als müsse sie ihn an diesem Tag irgendwie beschützen, fragte sie, ob sie ihn in die Stadt begleiten solle. Er schüttelte den Kopf.


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