Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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Laudin schrieb an Fraundorfer:

»Da ich in den nächsten Tagen schwer abkommen kann, will ich dir nur in Kürze melden, daß mich Luise Dercum auf meine schriftliche Anfrage schriftlich gebeten hat, Mittwoch nachmittag um fünf Uhr bei ihr vorzusprechen. Ich werde natürlich der Aufforderung Folge leisten. Übrigens habe ich die Künstlerin gestern auf der Bühne gesehen und verhehle dir nicht, daß sie einen höchst ungewöhnlichen Eindruck auf mich gemacht hat. Ich hätte es, vorher befragt, für ausgeschlossen gehalten, daß man in dieser Rolle, es war das Kleistsche Käthchen, den Zuschauer so vollkommen in gegenwärtiges Leben versetzen könne, wie es hier geschah. Ich bin kein Kritiker von Metier, bin im Gegenteil, was das Theater betrifft, blutiger Laie und infolge meiner Überlastung in den letzten Jahren immer seltener des Genusses guter Aufführungen teilhaftig geworden, aber es scheint mir hier auch nicht angebracht, in üblicher Weise Vorzüge und Fehler gegeneinander abzuwägen, sondern da darf sich der geplagte Alltagsmensch einmal restlos dem höchsten geistigen Vergnügen überlassen. Man darf mit Fug bezweifeln, ob es auf dem heutigen Theater derartiges zum zweitenmal gibt, solche Anmut, eine so rührende Erscheinung, so seelenvolle Stimme, solche Gewalt der Leidenschaft und des Herzens, solche Natur mit einem Wort, bei solcher Kunst. Genug davon; es hat mich erfrischt und aufgerüttelt. Man muß dankbar sein, wenn einem aus dem Unrat der Welt, mit der einer wie ich zu tun hat, eine Glücksleuchte wie diese entgegentritt, obschon es bloß einen kurzen Abend währt. Zu meiner Überraschung hörte ich, daß Luise Dercum kein Mädchen ist, wie auch du zu glauben scheinst, sondern eine verheiratete Frau. (Nichts ist unglaubhafter, wenn man sie auf der Bühne sieht.) Ihr Mann, ein Schauspieler namens Keller, soll sich in Berlin im Irrenhaus befinden. Es sind hierüber die häßlichsten Gerüchte im Umlauf, die ich aber nicht einmal andeuten mag, um nicht möglicherweise an der in unserer Welt üblichen Verleumdungssucht mitschuldig zu werden. Gott zum Gruß, mein Lieber; ich hoffe, dich in den nächsten Tagen aufsuchen zu können.«


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