Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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53

Er kehrte in die Bibliothek zurück, sehr blaß, machte Licht, setzte sich an den Schreibtisch und stützte den Kopf in die Hand, genau so, wie er in dem kleinen Vorstadtcafé gesessen war. Nach einer Weile blickte er empor: er hörte auf der Straße, dicht vor den Fenstern, einen regelmäßig auf- und abgehenden Schritt. Er glaubte zuerst, es sei ein patrouillierender Schutzmann, aber da sich die Schritte nicht vom Haus, kaum vom Bereich der Fenster entfernten, erhob er sich, schob den Vorhang beiseite und blickte hinaus. Eben ging der nächtliche Wanderer vorüber, blieb stehen und sah herauf. Im Schein der Laterne, die vor der Tür des schmalen Vorgartens stand, war er zu erkennen; Egyd Fraundorfer. Auf seinem Kopf saß ein Schlapphut mit ungeheurem Rand; Laudin kannte den Hut; eine Zigarre glomm im Mundwinkel; unten, neben den riesigen Füßen, bewegte sich wie ein winziger weißer Schatten Herr Schmitt.

In nervöser Hast öffnete Laudin das Fenster. »Du, Egyd?«

»Freilich ich, wer sonst,« krächzte die vom Trinken und Rauchen landsknechthaft rauhe Stimme des nächtlichen Wanderers.

»So spät . . . Was . . . ist etwas geschehen? Und warum gehst du denn auf der Straße auf und ab –?«

»Schwierig, um zwei Uhr nachts in ein Haus zu gelangen, ohne von seinen sämtlichen Bewohnern für einen verdächtigen Narren angesehen und verwünscht zu werden, mein Bester. Ich ging da so ein bißchen spazieren, damit der Herr Schmitt einmal Luft schnappen kann. Da führte mich denn der Weg wie von selbst in deine Gegend. Ist ziemlich weit, gewiß. Aber man hat ja seine Gedanken bei sich. Und weil ich in deinem Zimmer Licht sah, dacht ich mir: könntest dich mal wieder dem Dyskolos in Erinnerung bringen.«

»Willst du nicht hereinkommen?«

»Wenn es dir nicht unbequem ist . . . darüber ließe sich reden. Mit der heutigen Nacht ist ohnehin nicht mehr viel anzufangen. Hopp, Herr Schmitt. Entschließen Sie sich.«

Laudin ging leise hinaus, öffnete leise Haus und Gartentor und führte Fraundorfer herein, nachdem er ihn stumm ermahnt hatte, ebenfalls leise zu sein. Mantel, Stock und Hut nahm er ihm erst in der Bibliothek ab. Der Sturm hatte das Fenster zugeschlagen, riß es jetzt lärmend wieder auf; er ging hin und klinkte es vorsichtig ein. Dann sagte er zu Fraundorfer, er könne ihm nur Kognak anbieten, wenn er damit vorlieb nehmen wolle.

»›Nur‹ ist gut,« meckerte Fraundorfer, der sich tief in die Ecke des Ledersofas geworfen und Herrn Schmitt einen Platz neben seinem Oberschenkel angewiesen hatte.

Laudin holte die Kognakflasche und schenkte ein. »Wie lebst du? was treibst du?« fragte er mit erzwungener Unbefangenheit.

»Wie ich lebe?« erwiderte Fraundorfer und kratzte sich den Kopf; »das weiß ich wahrhaftig nicht. Wie soll ich das wissen? Gestern war ein Herr bei mir; Verleger. Hatte gehört, daß ich ein Buch schreibe. Wollte es haben. Anständige Bedingungen. Aber er redete und redete, mir wurde schwül im Magen, und schließlich sagte ich ihm: ›Nun sind Sie ja bereits eine gute Weile hier, lieber Herr, jetzt könnten Sie eigentlich wieder fortgehn.‹ Er wurde rot vor Zorn, sprang auf und schrie erbost: ›Zum Kuckuck, Doktor, die Leute haben recht, Sie sind nicht bei Verstande.‹ Da siehst du. Da hast du die Meinung der Welt über mich. Zuletzt vielleicht auch meine eigene.« Er lehnte sich zurück, starrte auf die Zimmerdecke und drehte die Daumen umeinander.

Da Laudin nicht antwortete, sagte er nach langem Drehen: »Ganz gut. Laß uns schweigen. Bis einem von beiden was Nennenswertes einfällt, wird geschwiegen. Einzig richtige Lösung des Problems.« Seine Stimme klang hart und fast verächtlich. Wieder nach einer Pause warf er den Zigarrenstummel auf den Teppich und fing an, leise vor sich hinzuträllern und mit den Stiefelspitzen den Takt am Tischbein dazu zu schlagen.

Laudin hob den Stummel auf und warf ihn in den Ofen. Noch zu dem Heizloch herabgebeugt und in das schwarze Ofeninnere blickend, als läse er dort die Worte, sagte er: »Ich nehme natürlich nicht an, Egyd, daß dich Zufall oder Ungefähr ans Haus geführt hat. Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich eine Absicht darin vermute. Ich wills nicht untersuchen. Die Stunde ist sonderbar gewählt. Du konntest nicht darauf rechnen, mich wach zu finden, noch weniger, zu einer Unterhaltung bereit zu finden. Ich bin müde. Ich bin durchwegs müde. Wenn ich noch nicht zu Bett gegangen bin, ist der Grund einfach der, daß ich zu müde dazu bin. Und daß ich den Schlaf fürchte, einen Schlaf, der den Namen verhöhnt. Du bist nun hier, Egyd. Ich betrachte es als eine Art Fügung. Ich möchte dir, damit du ein für alle Male informiert bist, reinen Wein über mich einschenken.«

»Sprich, Sohn der Themis,« sagte Fraundorfer trocken und tat als unterdrücke er ein Gähnen.

Laudin erhob sich. Er ging zur Tür gegen den Korridor, öffnete sie unhörbar und lauschte hinaus; er ging zur Tür ins Nebenzimmer und tat das Gleiche. Sodann schritt er wieder zum Ofen, ließ sich auf die geschnitzte Bank nieder und begann: »Seit ich das letztemal bei dir war, haben sich Dinge ereignet, die mir den Weg zu dir unmöglich gemacht haben. Es wäre in jedem Fall ein schwerer Gang für mich gewesen und, da ich dir den Bescheid nicht bringen konnte, den du von mir erwarten durftest, auch ein demütigender Gang. Darum demütigend, weil ich eine Einsicht gewonnen hatte, nicht auf einmal, sondern allmählich, mit der ich mich dir gegenüber ins Unrecht gesetzt sah, ohne daß ich andererseits die Kraft und den Mut hatte, dir diese Einsicht, diese Kenntnis, wenn du willst, zu vermitteln. Ich habe mich in der dazwischenliegenden Zeit jammervoll verstrickt. Ich habe . . . ich . . . nun, ich leiste Verzicht auf das schmückende Mäntelchen, ich habe meine Selbstachtung verloren. Wärs nur das. Ich fürchte, es ist mehr. Ich fürchte, ich habe mich selbst verloren. Du lächelst so merkwürdig. Du meinst offenbar, das hätte ich ja gewollt und erstrebt. Nein, lieber Freund. Verlieren? Nein. Sein Selbst verlieren oder gar es wegwerfen bedeutet nicht, sich seiner zu entledigen, bedeutet nicht: ein neues, ein andres, vielleicht höheres eintauschen, bedeutet nur grenzenlos, über jeden Begriff und jede Vorstellung hinaus arm werden. Und was es noch bedeutet! Es ist als ob du mit der rechten deine linke und mit der linken die rechte Hand nähmst, um sie beide aus den Gelenken zu reißen. Unter anderm nur. Es gab keine Rettung vor der Frau. Ohne Zweifel hast du die Lage vom ersten Augenblick an richtig eingeschätzt. Ich war verblendet und wollte es sein. Die schmerzlichen Ursachen laß ich beiseite. Es handelt sich jetzt nicht um die Analyse meiner Existenz, dieser Zermalmung zwischen den beiden Mühlrädern Recht und Gesellschaft. Das führt zu weit. An einem bestimmten Punkt verfiel ich dieser Frau, mußte ihr verfallen. Es ist eine Leidenschaft, ich erkenne es mit Entsetzen, wie sie verhängnisvoller nicht gedacht werden kann. Ich habe mich erniedrigt. Ich habe mich befleckt. Ich habe mich in Geschäfte verstrickt, bei deren bloßer Erwähnung mir früher die Schamröte aufgestiegen wäre. Ich habe Prozesse übernommen und führe Streitfälle, daß mich in Stunden der Besinnung die Lust befällt, über den Ozean zu fliehen und mich auf einer einsamen Insel zu vergraben. Ich bin genötigt, mir von den übelberufensten Vertretern meines Standes Unverblümtheiten sagen zu lassen, bei denen mir kalt ums Herz wird und die mir jeden Bissen Speise vergiften. Ich pflege Umgang mit Menschen und drücke ihnen achtungsvoll die Hand, die nur das Glück oder ihre Unverschämtheit vor dem Zuchthaus bewahrt haben. Ich sinke zum Laufburschen in Alkovenangelegenheiten herab und zum Geldgeber in fragwürdigen Projekten. Ich bin das Gespött meiner Beamten und das Bedauern meiner ehemaligen Freunde. Ich fürchte den Blick meiner Töchter, zittere vor jeder Begegnung mit meiner Frau und fühle mich fremd in meinem Haus. Ich weiß es und kann es nicht ändern. Für ein Lächeln von Lu würde ich vielleicht, wie die Dinge stehn, zum Verbrecher werden. Wenn sie von der Bühne kommt und ihr Genie um sie flammt und der Schmerz oder der Jubel ihrer Stimme mich getroffen hat, die Wahrheit der erdichteten Gestalt mich aus allen Fugen gerissen hat, vergesse ich, was sie ist oder was sie nicht ist, was sie tut und was sie sinnt, und die ganze Welt scheint mir aus Silber gebaut. Es ist eine Faszination. So nennt man es wohl, wenn man um Bezeichnungen verlegen ist. Aber ich habe noch nicht einen Finger ihrer Hand anders berührt als in Ehrfurcht. Der Gedanke an sinnliche Gewährung und Beziehung . . . ich weiß nicht, ob ich ihn je gehegt habe. Er hat etwas Schauriges für mich, wie das Ende vom Ende, wie eine Art von Tod, die man noch nicht kennt, oder Umsturz aller Lebenselemente. Lache über mich, lache. Auch ich könnte lachen, wenn ich nicht Angst hätte, daß was Bedenklicheres draus wird als Lachen. Denn eins kommt ja noch hinzu. Ich sehe. Es sind keine farbigen Schleier mehr vor meinen Augen. Wahrheit und Unschuld, ha ja, schön, brechen wir in das Gelächter aus, wenn es uns kitzelt im Hals. Und trotzdem. Aber ist es richtig, zu sagen: trotzdem? Ich will lieber sagen: deshalb. Hattest du, wenn dich ein Mensch beharrlich und ohne Unterlaß belogen und betrogen hat, nie das Gefühl, du müßtest hingehn und ihm die Brust aufschlitzen, um endlich doch die Wahrheit aus ihm herauszuholen? Ist nie der Trieb in dir gewesen, dieser fürchterliche Trieb, dem verworfenen Menschen nachzufolgen und ihn um- und umzukehren, bis er seine Schlechtigkeit abtut und sich verwandelt? Auch das ist eine Faszination, und vielleicht die unheilbarste, weil das Mittel sie auszutilgen an der Natur selbst scheitert.«

Er schwieg, stand auf, atmete tief, setzte sich wieder hin und drückte die Hände vor die Augen.

»Hm,« sagte Fraundorfer; dann lange Zeit nichts mehr.

Dann erhob er sich schwerfällig, zog schnaufend den Mantel an, setzte den Schlapphut auf, ergriff den Stock.

»Gehst du?« fragte Laudin tonlos.

»Drei Uhr vorüber,« sagte Fraundorfer.

»Ich verstehe, daß du genug hast,« erwiderte die tonlose Stimme.

»Wir könnten ja gelegentlich einmal das Roß anders aufzäumen,« krächzte Fraundorfer, indem er sich mit beiden Händen auf den Stock stützte und einen Buckel machte; »ich meine, was das Heilmittel betrifft. Wobei sichs allerdings fragt, bis zu welcher Grenze die Erweiterung des Erkenntnisfehlers sich noch mit jener traurigen Sorte von . . . wie beliebtest dus zu nennen? von Faszination verträgt.«

»Wo willst du hinaus?«

»Vor etlichen Wochen war dein Kollege bei mir. Heimeran oder wie er heißt. Eitler Geselle übrigens. Habt ihr denn nur noch Friseurgeister auf Lager? Der machte mich auf Weitbrecht aufmerksam. Wegen Nikolaus.«

»Weitbrecht –?«

»Du kennst doch Weitbrecht? Natürlich. Eben der. Nikolaus war bei ihm. Zwei Tage . . . vorher. Begreifst du noch nichts?«

»Nichts. Willst du damit sagen, daß . . .?«

»Was sollt ich anderes sagen wollen –?«

». . . sagen, daß . . .?« Die Stimmen drangen wie zwei Messer aufeinander ein.

»Halte vor allem einmal fest, unbestechlicher Sohn der Themis, daß mir Nikolaus noch Anfang August das Geständnis gemacht hat, ein für seine Jahre und unser Verhältnis immerhin bemerkenswertes Geständnis, daß er bis dahin noch keine Frau berührt hatte. Er kam eines Nachts später als es seine Gewohnheit war nach Hause. Ich weiß nicht mehr, welcher Teufel mich damals ritt oder was für Mucken mir im Kopfe saßen, genug an dem, ich ging hinüber zu ihm, hielt ihm eine kleine väterliche Predigt, im Sinne der Sanität etwa, und sprach von der Gefahr, die ein junger Mensch unter gewissen Umständen laufe. Ganz gemütlich. Ganz kameradschaftlich. Er lag im Bett und las, den Arm aufgestützt, ich seh ihn noch vor mir, und schaut auf und mustert mich ein bißchen ironisch und wird rot und sagt, wörtlich: ›Du hast vorläufig keinen Grund, dich zu sorgen, Vater; ich bin noch so, wie ich am Tag meiner Konfirmation war.‹ Da stand ich da, blamiert, riß das Maul auf und konnte mich wieder trollen. Muß ich noch deutlicher sein, damit du endlich begreifst –?«

Laudins Gesicht sah aus wie das einer Leiche. Er schien ganz langsam nur, Laut für Laut, zu fassen, was er gehört hatte. Dann reckte er sich auf. Er lächelte seltsam hochmütig und sagte in eisigem Ton: »Erlaube mir um unserer alten Freundschaft willen, daß ich diese Ungeheuerlichkeit ad acta lege. Ich kann sie nicht notieren. Ich bin, wie ich inne werde, der Menschheit in mir noch einen Überrest von Respekt und Glauben schuldig. Ich bin weit genug gegangen in dem, was ich dir entschleiert habe. In das Jauchengebiet der unbewiesenen verleumderischen Gerüchte kann ich dir nicht folgen. Es ist Selbsterhaltungstrieb. Ich nehme natürlich an, daß du nur das gutgläubige Opfer bist.«

Fraundorfer, noch immer auf den Stock gestützt und nach vorn gekrümmt, wobei sein massiger Körper ein wenig schwankte, sah ihn mit einer hämischen und finstern Neugier an. »Schön,« sagte er, »nimm es also an. Nimm es bis auf weiteres an. Bis auf Widerruf. Einigen wir uns dahin: bis auf Widerruf. Herr Schmitt weiß, daß ich gegen Widerruf nichts zu erinnern habe. Ich möchte nur noch folgendes feststellen. Ich habe den Besuch bei jenem Professor Weitbrecht bis dato unterlassen. Warum? Na, von wegen Widerruf. Oder besser, von wegen der Unwiderruflichkeit. Ich hatte bis dato eine verdammte Scheu davor. Ich werde mich aber nunmehr doch zu dem Mann verfrachten müssen. Vielleicht nicht gleich. Vielleicht nicht morgen. Pedanterie, gleich morgen etwas tun zu wollen, was man sich heute vornimmt. Vielleicht in drei, vielleicht in vier Tagen. Möglicherweise aber doch morgen; wer kanns wissen. Wenn ich aber einmal bei ihm gewesen bin, Freund Laudin, und wenn der Würfel gefallen ist, ich meine, wenn da nicht bloß ein verleumderisches Gerücht, sondern eine . . . eine Unwiderruflichkeit resultiert, dann . . . nun, vielleicht schaff ich dann meinerseits auch mal eine Unwiderruflichkeit. Gute Nacht. Du tust mir leid, Dyskolos. Allons, Herr Schmitt!«

Er drehte sich um. Laudin begleitete ihn stumm hinaus.


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