Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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56

Zehn Minuten, nachdem sie gegangen, verließ auch Laudin die Kanzlei. Er fuhr in die Bank. Die Schalter waren geschlossen. Er ließ sich im Sekretariat anmelden und erkundigte sich, ob keine Möglichkeit sei, heute noch vierhundert Millionen zu beheben. Man bedauerte. Er wußte, daß er die Summe nicht in barem Geld liegen hatte, und ließ sich das Verzeichnis seiner Effekten bringen. Als er die Kurse nachsah, erkannte er, daß er nur mit erheblichen Verlusten verkaufen könne. Er zögerte, den Auftrag zu geben, und sagte, er werde morgen zur Börsenzeit telefonieren. Da er heute das Geld nicht mehr haben konnte, war es gleichgültig, zu welcher Stunde er es morgen flüssig machte. Aber seine Miene drückte aus, daß er es heute noch haben mußte und daß er entschlossen war, es zu erlangen. Er fuhr zu einem ihm bekannten Bankier, der eine Wechselstube am Ring besaß. Das Bureau war noch geöffnet, der Mann war aber nicht anwesend, und da Laudin dem stellvertretenden Beamten sagte, er habe in unaufschiebbarer Angelegenheit mit dem Chef zu sprechen, wurde dieser telephonisch in allen Himmelsrichtungen gesucht. Laudin wartete, die Finger beständig an der Handfläche reibend als seien sie eingeschlafen, mit den Zähnen an der Lippe nagend. Endlich kam der Mann. Sie gingen in sein Privatbureau. Auch hier Bedauern, ehrliches Bedauern. Die Kassa sei heute stark beansprucht gewesen, man habe nicht mehr soviel vorrätig, am Morgen stehe Laudin jede beliebige Summe zur Verfügung.

Er warf sich wieder in sein Auto und fuhr in die Kanzlei zurück. Sein Gesicht war wächsern; die Augen glänzten fiebrig. Er hatte offenbar seine ganze innere Freiheit und Überlegungskraft eingebüßt. Die Sonderbarkeit, daß er bei seinen Mitteln in drangvoller Situation nicht innerhalb von Stunden einer Geldsumme, die zur gewissen Stunde nötig war, habhaft werden konnte, schmeckte nach Gefahr und glich einem albern bösen Traum. »Man muß nun doch zum Juwelier,« murmelte er vor sich hin, als er sein Sprechzimmer betrat. Doch dies schien ihm ein verzweifelter Schritt, gegen den er sich wehrte, wie ihm anzumerken war. Da schlug er sich mit der Hand an die Stirn. Er sperrte den Wertheimschrank auf. Um elf Uhr vormittags hatte ein Klient, ein Großindustrieller, für den er einen Steuerprozeß geführt, sechshundert Millionen erlegt. Er hatte Doktor Kappusch ersuchen wollen, das Geld zu übernehmen und es heute noch bei der amtlichen Stelle einzuzahlen. Er hatte es vergessen. Nun lag es da. Seine Hände zitterten, als er die acht mit Schleifen versehenen Pakete herausnahm. Die Hände zitterten, weil er sich wie ein Defraudant vorkam. Vermutlich war ihm in diesem Augenblick nicht bewußt, daß er das Geld in jedem Moment ersetzen konnte und daß er nur Geld gegen Geld tauschte; die Gebärde selbst dünkte ihn verbrecherisch; dieses Geld, das in seinem Gewahrsam war und weil es in seinem Gewahrsam war, erschien ihm als fremdes Geld; auch wenn er anderes dafür hintun konnte; die Nacht, die verging, ehe er die Entnahme ungeschehen machte, war eine Nacht der Ehrlosigkeit und der Strafwürdigkeit. Unter dem Druck von außen und von der zerrissenen Vorstellungswelt her erzeugte sein Gemüt nur noch grelle Visionen, der Geist nur ungenügendes Licht.

Er verschloß den Schrank. Die Schlüssel entfielen ihm zweimal. Er hatte Hut und Mantel nicht abgelegt und verließ den Raum, nachdem er die Geldpakete zusammengelegt und in seiner Aktentasche untergebracht hatte. Kaum hatte er die Schwelle überschritten, so bewegte sich mit aufgehobenen Händen eine Frauengestalt auf ihn zu, von Rüdiger am Ärmel festgehalten. Er wich zurück, bebte zurück, als sei er noch in der zerrissenen Vorstellungswelt mit dem ungenügenden Licht, denn die Frau war leichenfahl, ihre Augen waren vor Verhärmtheit erloschen. »Herr Doktor, um Gottes Christi willen!« stammelte sie. Und Laudin: »Wer sind Sie, was wünschen Sie? Ich habe durchaus keine Zeit . . .« Und die Frau, beschwörend: »Herr Doktor, es ist etwas Entsetzliches passiert, mein Bruder . . .« Noch schroffer Laudin: »Sie hören doch, daß ich keine Minute Zeit habe!« Darauf die wankende Gestalt: »Ich bin die Karoline Lanz.« Laudin wehrte mit beiden Händen. »Morgen!« rief er ihr zu und war schon an ihr vorüber.

Aber das verhärmte, leichenfahle Gesicht wollte nicht von seinen Augen weg.

»In die Annagasse,« befahl er dem Chauffeur.

Es war sieben Uhr, als er vor der Atelierwohnung läutete. Die gnädige Frau könne nicht empfangen, sagte die Zofe, es war nicht mehr dieselbe, der er neulich Geld gegeben, die gnädige Frau fahre in einer Viertelstunde ins Theater und sei bei der Toilette. Er werde warten, bis die gnädige Frau fertig sei, erwiderte Laudin. Die gnädige Frau sei, bevor sie spiele, niemals zu sprechen, wandte die Zofe etwas süffisant ein. Er werde trotzdem warten, beharrte Laudin und ging in den Atelierraum.

Die Zofe zuckte die Achseln und schloß die Tür. Er wanderte mit großen Schritten auf und ab. Bisweilen sah er sich scheu um, als der Übeltäter und in der zerrissenen Vorstellungswelt schon verfolgte Defraudant, als der er sich fühlte. Nach einer Weile vernahm er Getuschel und Kleiderrauschen. Dann wurde die Eingangstür zugeschlagen. Er wartete noch ein paar Sekunden, und da alles still blieb, ging er hinaus. Leichter Parfümduft lag im Vorzimmer; Lus Parfüm. Geräuschlos kam die Zofe zum Vorschein. Sie meldete, abermals achselzuckend, mit einem Ton wie: ich habe meine Schuldigkeit getan, die gnädige Frau sei soeben weggefahren.

Langsam, sich manchmal am Geländer festhaltend als schwindle ihm, stieg er die Treppe hinab. Unschlüssig stand er im Torweg, die Tasche unterm Arm, und blickte sich verstört um. Das verhärmte Gesicht tauchte wieder auf. Er schüttelte ein wenig den Kopf und schaute in eine andere Richtung, wo es nicht mehr war. Vielleicht kam es ihm vor, als finge die Aktentasche unter dem linken Arm an zu brennen, denn er schob sie hastig unter den rechten. Er sah den verwunderten Blick des Chauffeurs auf sich ruhen, gab sich plötzlich einen Ruck und sagte: »Zum Theater.«

Als er dort den Wagen verließ, warf er einen Blick auf den Zettel, der an der Mauer neben dem Bühneneingang hing, und hatte in der nächsten Sekunde den Titel des Stückes vergessen. Er wußte nur, daß Lu in dem angezeigten Stück bis zum Schluß beschäftigt war.

Er ging in dem steinernen Korridor, der zu den Garderoben führte, auf und ab. Arbeiter in blauen Kitteln begegneten ihm oder überholten ihn. Aus einem Schacht drang befehlendes Geschrei. Zwei Feuerwehrmänner waren in eine schläfrige Unterhaltung vertieft. Mehrere junge Mädchen kamen unter Streiten und lautem Gelächter eine Treppe herunter.

Die Frist, die Lu genannt und bis zu der sie das Geld gebraucht hätte, war verstrichen. Dessen war sich Laudin ohne Zweifel bewußt. Es hatte keine praktische Wirksamkeit mehr, wenn er ihr die vierhundert Millionen noch an diesem Abend aushändigte; er konnte ebensogut den andern Tag abwarten. Er hätte am nächsten Tag die Summe flüssig machen und Lu einen Scheck übermitteln können. Es wäre dann nicht nötig gewesen, daß er hier im düster beleuchteten Korridor des Theaters mit einer Aktentasche voll Papiergeld auf und ab marschierte. Aber offenbar lagen die Dinge so, daß ihm der Gedanke unerträglich war, Lu könne sich von ihm im Stich gelassen fühlen. Da sie in einer unvergeßbaren Entäußerung, bei welcher sie ihm einen Blick in ihr geheimstes Wesen aufgetan (wie er zu dieser Stunde noch fest glaubte), auf seine Hilfeleistung verzichtet hatte, schien es ihm nächste und dringende Pflicht, sie von seiner Freundschaft und Bereitwilligkeit zu überzeugen und alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen, um ihr zu dienen. Das Geld in der Aktentasche war der sichtbare Beweis davon; ein kleiner Berg von Geld; das Sichtbare; das Greifbare. Daß er sich darauf stützte und verließ, deutete auf ein instinktives Verstehen der Natur der Schauspielerin hin, das ihn vielleicht erschreckt hätte, wenn es ihm ganz klar geworden wäre. Begehrtes sehen und greifen, das ist das Unwiderstehliche, das den Stolz nicht nur von Dirnen besiegt.

Durch eine nur angelehnte eiserne Tür hörte er minutenlang dauerndes Beifallsklatschen. Es klang wie Steinrutsch auf einer Geröllhalde. Der Akt war zu Ende. Er blieb stehen und überlegte. Er sagte zu sich selbst: ich will den nächsten Aktschluß abwarten. Er trat auf die Straße und setzte sich auf die Bank neben dem Eingang. Es verfloß eine halbe Stunde. Er erhob sich wieder und ging einige Male um das ganze Theater herum. Ein Zeitungsausrufer bot ihm ein Abendblatt an. Er kaufte es und schob es in die Rocktasche. Dann kehrte er in den Korridor zurück, ging aber diesmal bis zu den Garderoben. Er wußte, wo Lus Garderobe war, und ging vor der Tür auf und ab. Die Aufseherin, die ihn kannte, eine ältere Frau mit einem weißen Häubchen auf dem Kopf, kam aus einer Tür, die zur Bühne führte, grüßte und sah ihn fragend an. Er sagte, er habe Frau Dercum eine wichtige Nachricht zu überbringen, keine unangenehme, fügte er mit fast servilem Lächeln hinzu, als er die bedenkliche Miene der Frau gewahrte. Hier waren natürlich alle dienstbaren Geister über die zu schonenden Eigentümlichkeiten der Diva hinlänglich unterrichtet. Die Frau bot ihm einen Stuhl an. Er dankte und setzte sich. Er machte ein paarmal Bewegungen mit den Lippen als schmecke ihm der Speichel im Munde bitter. Der Fremdeste konnte beobachten, daß er unter einem Gefühl der Erniedrigung bis zu körperlichem Schmerz litt.

Er nahm das Abendblatt zur Hand. Das erste, worauf sein Blick fiel, war der fettgedruckte Titel: Ein Student wegen Banknotenfälschung verhaftet. Er las den Namen Konrad Lanz. Er ließ das Blatt sinken und drückte die linke Hand vor die Augen. Das leichenfahle verhärmte Antlitz erschien. Eine Weile verharrte er benommen, dann überflog er den Artikel, in welchem der Tatbestand mit ziemlicher Ausführlichkeit berichtet war.

Seit einigen Monaten, so hieß es in dem Bericht, sei der Behörde zur Kenntnis gelangt, daß in einer bestimmten Gegend der Stadt in regelmäßigen Zeitabständen falsche Noten in Verkehr gesetzt würden, und zwar Halbmillionenkronenscheine. Es seien eifrige Nachforschungen veranstaltet worden, die Verdachtsmomente hätten sich langsam verdichtet und heute habe man den Fälscher in der Person des Studenten und Doktoranden der Chemie, Konrad Lanz, festnehmen können. Der junge Mensch hause seit Jahren in einer ärmlichen Mansardenwohnung; er habe stets zurückgezogen und einfach gelebt und sich bei den Nachbarn wegen seiner Bescheidenheit und seines Fleißes großer Beliebtheit erfreut. Früher habe er die Zweizimmerwohnung ganz allein innegehabt, aber seit dem Herbst habe er seine Schwester und deren uneheliches Kind zu sich genommen und von seinem Verdienst, der in letzter Zeit verbrecherischer Art gewesen, während er sich vordem anständig, wenngleich mühevoll durch Stundengeben erhalten, auch die Existenz dieser beiden bestritten. Nachfragen in der Universität und im Laboratorium, bei Professoren und Kollegen, hätten das günstigste Ergebnis gehabt. Seine Führung sei untadelig gewesen, seiner wissenschaftlichen Begabung habe man hohes Lob gezollt, er habe mehrere Arbeiten in Fachzeitschriften veröffentlicht, die die Aufmerksamkeit der Gelehrten erregt, und in den Kreisen der Akademiker habe man sogar erzählt, daß er einer epochemachenden Entdeckung, von größter Tragweite für Industrie und Wirtschaft, auf der Spur sei. Um so unfaßlicher die Verirrung, die ihn in die Hände der Justiz geliefert.

Des weiteren berichtete der Reporter, daß die falschen Noten mit den primitivsten Hilfsmitteln der Maschinentechnik und Lithographie, zugleich jedoch mit einer so außerordentlichen Geschicklichkeit und zeichnerischen Präzision hergestellt waren, daß es in einzelnen Fällen nicht ganz leicht war, die Fälschung zu erkennen. Das Seltsamste aber war, daß Konrad Lanz, obwohl er aus dieser relativen Vollkommenheit seiner Falsifikate ganz andern Vorteil hätte ziehen und den Staat um gewaltige Summen hätte schädigen können, sich darauf beschränkt hatte, in jedem Monat nur drei gefälschte Noten zu verausgaben, genau so viel wie er für seinen und den Lebensunterhalt seiner Schwester und ihres Kindes unbedingt brauchte, genau so viel wie ihm nötig war, um seine Studien fortsetzen und seine Doktorarbeit beendigen zu können. Die Verlockung zu schnell erworbenem Reichtum und bequemem Leben war nach alledem für ihn nicht vorhanden; er wollte sich nur über Wasser halten, so lautete auch sein erstes Geständnis, um dann, wenn er an sein Ziel gelangt war, nach der entbehrungsreichsten Jugend, die sich erdenken läßt, eine seinen Fähigkeiten würdige Stellung zu erhalten und diesen sträflichen Teil seiner Existenz zu vergessen. Daß er jedem Anreiz, seine Fälscherkunst in gefährlichem Umfang zu mißbrauchen, widerstanden hatte, war schon jetzt mit einiger Sicherheit erwiesen, vor allem durch seine Schwester, die mit hingebender Treue an ihm hing, mit ihm und für ihn zitterte, die Nächte, die er der Erzeugung der falschen Noten widmen mußte, an seiner Seite verbrachte und bis auf den Heller über das verausgabte Geld Buch geführt hatte. Sie war vorläufig auf freiem Fuß belassen worden.

Mit eng zusammengezogenen Brauen, so daß sich über der Nasenwurzel drei tiefe Kerben bildeten, sah Laudin eine Weile ins Leere, dann las er den ganzen Bericht vom ersten bis zum letzten Wort noch einmal, fast mechanisch; wie überhaupt von diesem Moment an etwas Mechanisches in Bewegung und Haltung mehr und mehr hervortrat, als ob er mit gemindertem Bewußtsein, mit schwindendem jeweils, denke und handle und nur noch auf gewisse äußere Eindrücke oder zurückliegende Beschlüsse automatisch reagiere. Die Aktentasche lag auf seinen Knien; sie schien ihm allmählich schwerer zu werden; er betrachtete sie mit geistesabwesender Scheu, mit einer Art von Furcht; sie hätte ein Granitblock sein können, den man auf ihn gewälzt; er betrachtete sie, wie wenn das Leder transparent wäre und die acht Geldpakete darin etwas Schreckenerregendes. Dachte er vielleicht an die Not des Studenten Lanz, an dessen jahrelange Herzensqualen und das vergebliche Empor ehrgeiziger Pläne und Gedanken, und verglich er dies mit dem kleinen Berg von Geld auf seinen Knien, den er mit magischer Eile einer Komödiantin zur Befriedigung flüchtiger Lüste zu getragen? Ging sein Denken so weit? oder trieb es sich nur hektisch und irrlichternd in der zerrissenen Vorstellungswelt umher.

Näher, sausender, dauernder erhob sich das Beifallsklatschen. Gestalten stürmten von der Bühne her. »Vorhang auf!« brüllte jemand. Geschminkte Gesichter, bunte Gewänder tauchten auf, verschwanden, kamen wieder. Lachen, Durcheinanderreden, Schimpfen, Kommandorufe, Stimmen im Baß, Tenor, Diskant. Plötzlich stand Lu vor ihm. In ihren Augen war der Ausdruck sonderbarer schlüpfriger Neugier. Nickte sie ihm zu? Er sah schärfer hin. Er stand auf; er verneigte sich. Er sagte etwas in heiserem Ton, mit überartiger Miene. »Vorhang!« brüllte abermals jemand. Lu verschwand. Er stand noch immer mit derselben überartigen Miene. Es war nun deutlich das Mechanische, das ihn regierte. Lu kam wieder, stürzte in ihre Garderobe, rief einen Namen, steckte den Kopf zur Tür heraus, nickte Laudin ohne Lächeln zu, geringschätzig fast, mit fließendem Spott und jenem Schlüpfrigen, Lüsternen in den Augen, das aber ohne banalen sinnlichen Bezug war. Das braune bewegliche kühne Knabengesicht war nicht mehr kenntlich unter der Bemalung von Schminke und Puder, unter der fremdartigen Perücke. »Ah, Sie bringen das Versprochene, Doktor,« sagte sie mit klirrender Stimme und einer oberflächlichen, seltsam zweideutigen Verbindlichkeit, während sie der Garderobiere, die hinter ihr stand und eine Frage an sie richtete, zuwinkte, sie solle schweigen; »aber hier kann ich doch nichts damit anfangen, allerschätzbarster Freund; was soll ich hier damit machen?« Sie lachte erregt; durch ihr ganzes Wesen zitterte die Bühnenaufregung, etwas unwahr Lohendes, beinahe Wahnwitziges. »Sie wollen herein zu mir? (Laudin hatte gar kein Verlangen danach gezeigt.) Nein, das geht absolut nicht. Aber Sie sind wahrhaftig ein Engel, Doktor, ein Engel von einem Mann. Ach, da ist Ortelli,« sie wies auf den eleganten, besessen lächelnden Chef des Inseratenbureaus, der jetzt in den schmalen, von allerlei Menschen erfüllten Raum trat. »Max, du wirst gefälligst die Tasche von Doktor Laudin übernehmen und hier warten, bis wir zusammen nach Hause gehn. Hörst du, mein Lieber? Und Sie, Doktor, Sie kommen abends noch zu mir. Ich erwarte Sie bestimmt. Übrigens, warum sind Sie denn so bleich? So sieht man doch nicht aus. Einen Moment, bitte; einen Moment.«

Sie lief hurtig in die Garderobe, kam mit dem Schminktopf in der Hand ebenso rasch wieder, tauchte den Finger in die Schminke und malte, herzlich lachend und ehe sich Laudin dessen zu erwehren vermochte, zwei rote Flecke auf seine beiden Wangen. »Sie kommen also ganz bestimmt, Doktor,« sagte sie dabei schmeichelnd, »ab halb elf Uhr, ganz bestimmt.« Sie schlug die Tür der Garderobe zu.

Laudin stand vor der Tür. Die Aktentasche hatte er, mechanisch, dem beflissen lächelnden Ortelli übergeben.

Es überflutete ihn ein solches Gefühl siedendheißer Scham, er fühlte sich derart beschmutzt, über und über besudelt, daß er jedes erdenkliche Opfer an Leib, Gut und Leben gebracht hätte, wenn er sich in dieser Sekunde durch irgendein Mirakel hätte unsichtbar machen können.

Gleichwohl wußte er in finsterem Fatalismus, daß er kommen würde, so sicher, als ob sie ihm den Wunsch oder Befehl ins Hirn gebrannt hätte. Unfesten Schrittes entfernte er sich durch den steinernen, tunnelähnlichen Korridor, und als er auf der Straße stand, blickte er zum dumpfrot gefärbten Himmel empor, diesem verlagerten Himmel der Schlote und der unreinen Leidenschaften über einer Stadt, und fragte erstaunt, zögernd, ungläubig: »Ich?«


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