Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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52

Will er, auf der Straße stehend, den einen Fuß schon auf dem Trittbrett des Autos, noch einmal umkehren? Hat er etwas vergessen bei May? Es sieht so aus. Vielleicht will er an May noch eine Frage richten: Was war das neulich, was meinten Sie mit dem »Ja glauben Sie denn, das ist alles?«

An jenem Abend hat er ihr die Rede abgeschnitten. Nicht das allein, er hat die Flucht davor ergriffen, mit der panischen Eile eines Menschen etwa, der in der Dunkelheit auf einen Schienenweg geraten ist und fünfzig Meter vor sich die Laternen einer Schnellzugslokomotive gewahrt. Nicht hören, nicht erfassen, nicht wissen; ist das Laudinsche Art? Vermutlich aber hat die Panik in seinem Gehirn fortgewirkt, und es kann geschehen, daß er aus dem Schlaf auffahrend mit verstörten Augen um sich schaut und zaghaft vor sich hin fragt: was denn noch? was noch, wenn das nicht alles ist? Daß er darauf im Augenblick keine Antwort erhalten kann, ist das einzig Tröstliche bei der Sache, die einzige Möglichkeit, noch einen Rest von Schlaf zu finden.

Auch das ist nicht Laudinsche Art. Was wäre überhaupt noch von dieser Art vorhanden, der rühmenswerten und oft gerühmten? Hätte er es ehedem über sich gebracht, korrekt, warmherzig und seinen Versprechungen getreu, wie ihn alle Welt kannte, den Freund wochenlang zu meiden und ohne Nachricht zu lassen, den einsamen Mann da hinten in der Sechsschimmelgasse, im vierten Stock einer Mietskaserne, der einem Schatten nachtrauert und sich die Miene des eisigen Stoikers gibt? Es ist, als fürchte er dessen Antlitz nicht weniger als die Antwort auf jenes »Was noch, wenn das nicht alles ist?«

Er hat einige Male den Versuch unternommen, an Fraundorfer zu schreiben. Das geschriebene Wort kann mehrdeutiger geformt werden als das gesprochene mit seinem Aug-in-Aug-Sein, mit dem Verrat in Miene, Blick und Ton. Es läßt sich breiter und allgemeiner fassen, und man kann sorgfältiger überlegen, bevor man es anwendet. Er hat also ungefähr geschrieben, Egyd Fraundorfer möge ihm die berufliche Verhinderung zugute halten, auch eine gewisse geistige Benommenheit, die in diesen Tagen Herrschaft über ihn erlangt habe; es dränge ihn aber usw.; er werde bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit usw. Es klang, als Ausflucht, ein wenig abgeschmackt und billig; darum hieß es in einem andern Konzept, er müsse gestehen, er habe sich in seinen ursprünglichen Voraussetzungen geirrt; durch ein Spiel unvermuteter Umstände habe die traurige Angelegenheit einen neuen Aspekt gewonnen, aber sein Urteil könne noch kein endgültiges sein, er mahne zur Geduld usw. Keiner von diesen Briefen wurde abgeschickt. Sie lagen in einer Mappe, und die Mappe zu öffnen wurde ihrem Verfasser nach und nach zur Pein. Was tut man mit einer Mappe, deren Anblick lästig wird? Man versperrt sie in einer Schublade und übergibt sie dem Staub.

Nicht so kann man mit dem lebendigen Bild des Menschen verfahren. Wahrscheinlich, um ihm auszuweichen und seiner stummen Forderung durch ein sichtbares Bemühen zu genügen, tritt Laudin an manchen Tagen den Weg zur Behausung des Freundes an. Einmal ist er sogar bis zum Toreingang gekommen. Allein dort ist er umgekehrt. Er ist die Straße weitergegangen mit einer Miene als graue ihm. Ohne Zweifel graute ihm; vor der Stiege; vor dem schrittweisen Emporklimmen auf der öden alten kalten Stiege; vor den Flurwänden mit ihrem rissigen Kalkbewurf und vor dem Fenster, das im vierten Stock offen steht, damit man aus der Tiefe und dem Rund der Höfe das Schwatzen der Mägde, das Klirren von Geschirr und das Rauschen von Wasserleitungen um so deutlicher vernehmen kann. So wie es damals gewesen ist, als er, vor dem toten Jünglingskörper, mit lauter Stimme: Warum? gefragt hat.

Dann muß man oben läuten; dann erscheint, schwarz und hager, Frau Blum und beginnt indiskret-diskret zu raunen; aus der Küche schwelt Fettgeruch; aus den Wohnräumen dringt bleiern-übernächtige Luft, und alle Gegenstände springen wollend, fordernd, vorwurfsvoll auf den Besucher zu, den Säumer. Nein. Das ist Grauen.

Wenn es nur zu Hause anders wäre. Nicht gerade, als ob auch dort das Grauen läge; es ist doch das Heim, das behütete Asyl, der wohlbereitete Friede. Aber etwas dem Grauen Verwandtes muß es sein, wie wenn ein tiefes, dämmeriges, zwiespältiges Licht über allem flimmerte. Dasselbe Licht, das manchmal in Lu Dercums Augen ist, wenn das Goldbraune verschwimmt, das lebensvoll Feurige, und etwas Blasses dahinter hervorquillt, etwas Gelbliches und Abgelebtes, als ob man träumte, man sei unter Wasser und der Sonnenschein zerspalte sich in fasriges Gespinst.

Da ist Marlene mit ihrer leuchtenden Geschäftigkeit; aber von ihm abgewandt. Wie wenn sie sich im stillen gesagt hätte: den Vater, den wollen wir einmal für eine Weile streichen. Es liegt beinahe etwas Feindliches darin, wie sie sich munter mit gleichgültigen Personen unterhält, ein trotzig-überlegenes: ich brauche dich nicht; bei aller Artigkeit, die sie ihm bezeigt. Aber diese Artigkeit hat keine auf ihn gerichteten Augen.

Und da ist Relly, wachsam und ernst, verläßlich und geschwind. Sie hat es im Nu erspäht, wenn das Salz auf dem Tisch fehlt; flitzt hinaus und ist im Nu mit dem Salzfaß wieder da. Aber weshalb schaut sie ihn so forschend an? Es besteht kein Grund zu so forschendem Blick, wenn man das Salzfaß auf den Tisch stellt. Was willst du, Relly? willst du etwas? Nein, nichts. Treuherzig verwundert klingt dies, aber dahinter ist eine Verlegenheit, eine Beklommenheit, eine unabänderliche, nie verstummende Frage.

Wie erwachsen sie wird; es ist, als sähe man sie täglich um ein Stück größer werden. Marlene erzählt, daß sie im Bad die Zehen beider Füße aneinanderlegt, in einer Reihe, wobei sie die Fersen nach auswärts hält und tiefsinnig sagt: »Zehn muß unbedingt mehr sein als zwei mal fünf.« Aber schon ringt sich in Rumpf und Gliedern das Weib vom Kinde los; auf der Stirn zittert ahnungsvoll die Unruhe des Geschlechts.

Das eben ist das Gefährliche an diesen Wesen, das Werden und Herankommen, Selbstwerden und Selbstsein. Bald reckt sich die Pranke, die sie hinüberschleudern wird zu den Fertigen; zu den Gewordenen; also zu den Verlorenen. Derlei Bedrückungen bleiben fern, wenn er den kleinen Hubert auf dem Arm hält; das Tor der Welt schlägt zu, man tritt in ein märchenhaftes Reich, wo Lachen und Weinen so nah beieinander sind wie Daumen und Zeigefinger und Liebkosungen den Zaubermitteln ähneln, durch die man Vergessen erlangt. Es ist so angenehm, den nackten Körper zu berühren; der ganze Leib gleicht einem seltsamen warmen Juwel, einem lebendigen Edelstein, und er kann es nicht wagen zu glauben, daß es das nämliche starke, dauerhafte, sich selbst bestimmende Leben ist, das in ihm und denen seiner Art wohnt, Männern und Frauen. Vater wie Mutter spielen eine sonderbar ohnmächtige Rolle demgegenüber; sie wollen einen Stoff formen und einen Geist bilden, der fremden Gesetzen gehorcht, noch nicht ergründeten, und wenn eines Tages Stoff und Geist beginnen, sich in ihre züchtende Hand zu schmiegen, ist das Geheimnishafte vielleicht, das von unschuldiger Urwelt stammt, bereits davon abgestreift.

Laudin spricht mit Pia darüber. Pia hört zu und scheint nichts begriffen zu haben. Kann sein, daß sie an eine zerrissene Vorhangschnur denkt. Das Töchterchen des Gärtners hat durch einen ungeschickten Wurf mit dem Ball eines der Terrassenfenster zerbrochen; kann sein, daß sie daran denkt. Laudins Worte bekommen einen ermüdeten Klang. Pia steht auf und macht sich im Zimmer zu schaffen. Ihre Gebärden sind aber noch bei ihm, und sie sagt etwas, in ihrem klaren, leichten Ton, was ihn ermuntern soll, fortzufahren, was jedoch keinen Zusammenhang mit seinen geäußerten Gedanken hat. Sie ist offenbar zerstreut. »Hast du Rot aufgelegt, Pia?« fragt Laudin mit scheu-überraschtem Lächeln, indem er sich ihr nähert. »Bemerkst du es erst heute?« versetzt sie, ebenfalls lächelnd, doch seltsam zurückweichend; »ich tue es seit einiger Zeit schon; ich mag nicht so blaß sein des Morgens.« Alles an ihr weicht zurück, ihre Hände, ihre Augen; sie scheint es selbst nicht zu wissen. Sie vermeidet es, ihm zu nahe zu kommen; sie lehnt sich nicht mehr auf seine Schulter, wenn er am Sonntagvormittag ihre Wochenrechnungen durchsieht. Ihr Gesicht ist nicht mehr das gleiche, wenn sie sich umwendet, wie wenn sie vor ihm steht. Er hat nicht acht darauf. Sie steht mit dem Rücken gegen ihn, und in dem Rücken ist etwas Widerstrebendes, ein Unbehagen, eine Fluchtbewegung. Er achtet es nicht. Er spürt nicht die Gewalt, mit der sie sich hält, den Entschluß nicht, mit dem sie ihn freundlich begrüßt, er kann natürlich auch nicht sehen, daß ihr Gesicht in den Schatten taucht, wenn sie hinter sich die Tür des Zimmers schließt, in dem er sich befindet.

Sie ist die gewohnte Erscheinung. Alles was Gewohnheit im Leben ist, regelmäßige Wiederkehr des Gleichen, verkörpert sie. Daß sie da ist, daß sie kommt und geht, ist selbstverständlich geworden. Er weiß, wie sie sitzt, wie sie aufsteht, wie sie den Kopf zur Seite neigt, wenn sie bestimmte Dinge sagt, und welcher Worte sie sich mit Vorliebe bedient. Er kennt ihre Art zu denken und Schlüsse zu ziehen, ihre einfachen, nie tief dringenden, aber auch niemals schiefen Urteile über Menschen, und er weiß am Beginn jedes Gespräches mit ihr, wie es enden wird; er kennt das Wort, das Lächeln, den aufmerksam harrenden Blick. Er kennt und weiß es nicht bloß zur gegebenen Zeit, er glaubt es für alle Zeiten zu wissen. Die Möglichkeit einer Veränderung liegt nicht im Bereich seiner Vorstellungskraft.

Nach wie vor zeigt er sich höflich und ritterlich im Umgang mit ihr. Aber es ist etwas Gespanntes und zugleich Mechanisches in der altgeübten Form; man weiß nie genau, was sie verbirgt, und es gibt Augenblicke, wo sie wie ein Firnis wirkt, der Sprünge bekommen hat. Er zeigt ja auch einen gewissen Sachrespekt gegenüber seinem Schreibtisch, seiner Zigarrenkiste und seinem Papiermesser, und es gibt Augenblicke, wo es ihm keinen Unterschied zu machen scheint, ob er mit Menschen oder mit Sachen verkehrt. Mit seiner angenehmen Würde bei Tisch präsidierend, versinkt er plötzlich in ein Schweigen, das allen wie Zentnerlast spürbar wird, die Stirn ist bewölkt, der vom Schnurrbart dick umbuschte Mund preßt sich zusammen, die Augen blicken stier, die Haltung ist erschöpft. Marlene und Relly wagen nicht, von einer Osterreise zu sprechen, die sie schon lange planen und auf die sie sich klopfenden Herzens freuen; er hat sich in letzter Zeit häufig über die wachsenden Ausgaben des Haushalts tadelnd geäußert, einmal sogar mit einer Miene, bei der ihnen angst und bang geworden ist, geäußert wie ein Mann, der sich verzweifelt umschaut, ob ihm keine Hilfe wird gegen die Peitschenschläge, die auf seine Schultern niedersausen. Vielleicht ist es düstere Reminiszenz an das Wort vom Zugochsen, das er im Gespräch mit Fraundorfer einst gebraucht hat.

Bei alledem ist ihm aber zumute, als ob ihn Pia verfolge; nicht in Wirklichkeit verfolge, sondern wie ein Geist. Er legt sich keine Rechenschaft darüber ab, verzichtet auf die Prüfung des Tatsächlichen; er beläßt es bei der schürfenden Empfindung. Da dünkt ihm, Pia habe sich vervielfältigt, gehe bald in der, bald in jener Verkleidung hinter ihm her; ihre großen grauen Augen sind immerfort still auf ihn gerichtet, der Blick will bis auf den Grund seiner Seele dringen; er wehrt sich; schließt sich zu; flieht; verkriecht sich; aber es gibt kein Entweichen; sie ist immer da, in der Kanzlei, im Theater, im Auto, bei Gericht, bei den Konferenzen, im Wachen, im Schlaf, im Traum, unablässig will der große stille Blick leidenschaftlich ernst in den Grund seiner Seele eindringen; deshalb senkt er so scheu die Lider, wenn die wirkliche Pia ihm gegenübersteht oder sitzt, und seine Züge verkrampfen sich zu einer Pein, von der er glaubt, daß sie sich demnächst in einem Aufschrei, einem ratlos-erbitterten und gequälten »Laß mich, Frau!« wird Luft verschaffen müssen.

In einer Sturmnacht, vier Tage nach dem letzten Gespräch mit May, kam er spät nach Hause. Er hatte bis Mitternacht allein in der Kanzlei gearbeitet, dann hatte er ein kleines Vorstadtcafé aufgesucht und dort anderthalb Stunden vor sich hingebrütet. Als er die Tür seines Schlafzimmers aufmachte, sah er eine Gestalt in der Dunkelheit sich erheben und in lautloser Eile durch die Tür zur Bibliothek entschwinden. Sie war offenbar am Tisch gesessen, so in Sinnen verloren, daß sie seinen Schritt im Flur überhört hatte. Er drehte den Schalter auf, aber von der Gestalt, es konnte niemand anders als Pia sein, war nichts mehr zu sehen und zu hören.

Er verblieb ein paar Sekunden lang an der Tür. Dann ging er, zögernd, gesenkten Kopfes durch die finstere Bibliothek und noch zwei finstere Räume zu Pias Schlafzimmer. Er klopfte leise. Es kam keine Antwort. Er drückte auf die Klinke. Die Tür war von innen zugesperrt.


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