Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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30

Pia hatte schon mit dem Mittagessen vergebens auf Laudin gewartet. Er hatte zu kommen versprochen, doch um halb zwei Uhr war aus der Kanzlei telefoniert worden, er sei verhindert, werde aber zum Abendessen nach Hause kommen. Um dreiviertel acht Uhr abends sagte er wieder ab, diesmal selbst, und seine Stimme klang, wie schon seit einiger Zeit übrigens, verändert; rauher, trockener. Er bat Pia, sie möge keinesfalls auf ihn rechnen; es werde spät werden, bis er sich freimachen könne.

Pia antwortete freundlich, obschon im Ton des Bedauerns; mehr als freundliches Bedauern durfte es nicht sein, wenn sie nicht fürchten mußte, den abgearbeiteten Mann zu verstimmen.

So ging es nun den vierten Tag. An den Tagen vorher hatte man ihn auch nur wenig gesehen. Relly äußerte gelegentlich, sie habe beinahe vergessen, wie der Vater aussehe. Sie entwickelte Marlene einen Plan; sie wollte frühmorgens, mit dem Zwerg Uistiti auf dem Arm, vor seinem Bett erscheinen, lebendes memento familiae. Einer solchen Mahnung werde er vermutlich nicht widerstehen. Marlene war jedoch mit Wichtigerem beschäftigt und zeigte für Rellys Scherzhaftigkeiten nur geringes Verständnis. Auch Pia hörte darüber hinweg, über die Klage wie über den Anschlag; nicht einmal das gewohnte, im Verweisen bereits verzeihende Lächeln stellte sich ein, das Relly durch ihre Reden gern auf die Lippen der Mutter zauberte.

Als sie Laudin gegen Mitternacht kommen hörte, löschte Pia das Licht noch eine ganze Weile nicht aus, trotzdem sie müde war, und mehr denn in der üblichen Weise müde; vielleicht ein wenig erschöpft; ein wenig zernagt von den Pflichten und Forderungen, von den Dingen, dem beständigen hadernden anmaßenden Geplapper der Dinge. Sie mochte denken, daß er ihr noch einen Besuch abstatten, eine Viertelstunde an ihrem Bett sitzen werde. Sie hatte Grund und Recht, es zu denken, da es doch so und so oft geschehen war, an soundso vielen Tagen in soundso vielen Jahren.

Aber es geschah heute nicht, wie es gestern, vorgestern und vorvorgestern nicht geschehen war. Einige Minuten nach halb eins machte sie finster und versuchte zu schlafen. Als der Schlaf endlich kam, war es kein richtiger Schlaf. Es gibt eine Art von Schlaf, der wie ein Zimmer mit offenen Türen ist, worin es zieht und worin man sich unbehaglich fühlt.


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