Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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21

Am Mittwoch vormittag erhielt Laudin einige Zeilen von Luise Dercum, in der monumentalen Schrift, die ihm schon, als er sie das erstemal erblickt, imponiert hatte. Sie bat ihn, seinen Besuch bis zum Anfang der nächsten Woche zu verschieben; sie werde ihm den Tag noch mitteilen. Bis dahin sei sie zu sehr beschäftigt, um ihn empfangen zu können, auch müsse sie gegen Ende der Woche für zwei Tage verreisen.

Am selben Tag fand er gleichzeitig zwei Briefe von Brigitte Hartmann auf seinem Tisch in der Kanzlei. Er hatte sie kaum zu lesen begonnen, da ließ sich Konrad Lanz melden. Vorher aber mußte er noch einen jungen Anwalt empfangen, der im Auftrag der Frau Konstanze Altacher kam. Frau Altacher schien, wie viele Frauen der bürgerlichen und hochbürgerlichen Kreise, eine beinahe krankhafte Vorliebe für Advokaten und eingehende Besprechungen mit ihnen zu hegen. Es schien auch, daß sie keinem so recht traute, trotz ihres ausgeprägten Hanges, oder daß sie dem einzelnen nur so lange ihr Ohr lieh und ihr Herz ausschüttete, als er ihr zu Willen war und mit ihr übereinstimmte.

Als Laudin wieder allein war, nahm er die beiden Briefe der Frau Hartmann noch einmal zur Hand und las sie kopfschüttelnd durch. Er rief sogar seinen Sozius, den Doktor Heimeran, um dessen Ansicht über die wunderlichen Schriftstücke zu hören. Heimeran, ein magerer, großer, vergrämt aussehender Mann mit einem Schädel kahl und lang wie ein Ei, gab der Meinung Ausdruck, daß man es hier mit einer gefährlichen Querulantin mit Erscheinungen von Schwachsinn zu tun habe.

Doktor Heimeran hatte die Neigung, an der Mehrzahl aller Menschen psychische und geistige Anomalien nachzuweisen. Nach seiner Behauptung gab es unter hundert erwachsenen Individuen nicht drei, die in dieser Beziehung als gesund zu bezeichnen waren, und was die moralischen Eigenschaften anlangte, sah er nicht rosiger.

Die Briefe der Frau Hartmann waren in einem sonderbaren Stil abgefaßt; gebildete, ja verstiegene Wendungen wechselten mit bäurischen und trivialen; orthographische Fehler waren hie und da wohl korrigiert, aber damit keineswegs getilgt; so hatte sie zum Beispiel Resuldat geschrieben, das Wort dann ausgestrichen und durch Ressultat ersetzt; auf eine Zeile oder einen Absatz von fast serviler Unterwürfigkeit und Demut folgte ein frecher Anwurf, eine verhüllte Drohung, eine höhnische Herausforderung. Selbstquälereien standen neben Äußerungen der Dünkelhaftigkeit. Laudin hatte oft schon die Beobachtung gemacht, daß Frauen, denen es auf irgendeine Art gelungen ist, den Mann, dem sie angehört haben und der sie enttäuscht oder verlassen hat, ins Unglück zu bringen, einem unerträglichen Dünkel verfallen, auch dann, wenn sie selbst dabei unglücklich geworden sind. Er hatte diesen Zug auch an Konstanze Altacher bemerkt, obwohl ihm hier die Vermutung vorerst nicht erlaubt war, daß sie die Schuld am Zusammenbruch der Ehe trug. Aber die Wahrnehmung jenes Dünkels hatte jedenfalls seinen Argwohn erregt.

Brigitte Hartmann teilte ihm mit, sie könne sich nach reiflicher Erwägung der Umstände zu einer Abfindung der Karoline Lanz doch nicht entschließen. Die Lanz sei ein gemeines Weib und habe den armen Hartmann einfach beschwatzt und verführt. Sie, Brigitte, sehe sich nicht veranlaßt, die Schlechtigkeit eines Menschen zu prämieren. Außerdem habe sie selber Nahrungssorgen. Sie wolle der Lanz Kleider von sich schenken, auch etwas Wäsche. Wäre die Lanz eine anständige Person, so hätte sie sich nicht mit einem verheirateten Mann abgegeben, hätte wenigstens gewartet, bis die Scheidung erfolgt sei. Für das Kind könne sie sich nicht interessieren. Wer wolle überhaupt beweisen, daß es wirklich Hartmanns Kind sei? Solche Frauenzimmer verstünden es schlau, eine Sünde durch die andere auszuwischen. Sie betrachte die Lanz als Verderberin ihres ehelichen Friedens; sie fluche ihr; ihr und ihrem Kind. Der hochgeehrte Herr Doktor Laudin werde das Gefühl einer Mutter und eines echten weiblichen Herzens würdigen.

Laudin sagte später zu Doktor Heimeran: »Wenn der liebe Gott alle Weiber, die sich bei Begehung aller möglichen Schändlichkeiten und Unmenschlichkeiten auf ihre Mutterschaftsgefühle berufen, in seinen Schutz nehmen wollte, wäre die Tatsache, daß eine Frau Kinder hat, hinreichend, um die Hälfte aller Männer in Galeerensträflinge zu verwandeln.«

Ganz anders der andere Brief, unzusammenhängender, unheimlicher. Er war offenbar später geschrieben, denn er fing damit an, daß der Vorschlag einer Besprechung mit Karoline Lanz gemacht wurde. Sie wolle die Lanz sehen und je nach deren Benehmen ihr eigenes Verhalten einrichten. Der Dünkel in seiner strahlendsten Form demnach: als Straf- und Sittenrichter auftretend. Bedingung für diese Nachgiebigkeit Brigitte Hartmanns (kein Zugeständnis ohne Bedingung) war aber die Anwesenheit des hochverehrten Doktor Laudin. Er solle entscheiden; sein Wort solle gelten; ihm unterwerfe sie sich; erkläre er sie für sachfällig, wolle sie büßen (als ob diese Sachfälligkeit strittig gewesen wäre); in ihm erblicke sie gewissermaßen das Ideal eines Mannes und Menschen (Ideahl geschrieben); aber auch er möge sich vor ihr in acht nehmen und ihr nicht länger einen blauen Dunst mit Duplikat usw. vorreden; sie sei am Ende ihrer Kräfte; man habe sie so lange gehetzt, daß sie vor einem Verzweiflungsschritt nicht zurückscheue, sie nicht, nein. Sie halte nicht viel vom Leben, auf Schliche und Finten lasse sie sich nicht ein; aufrichtig müsse man mit ihr verfahren, so wie auch sie aufrichtig vorgehe; ein gutes Wort des hochgeschätzten Herrn Doktor, und sie sei zu allem Guten zu haben, wenn nicht, werde man sie von einer Seite kennenlernen, daß ihre Feinde sich erschrocken aus dem Staub machen würden. Sie habe ihren Stolz, obschon sie bereit sei, vor dem Namen Laudin sich zu beugen; für ihn alles, für Hartmanns Kebse und das Bankert nichts, nicht das Schwarze unterm Nagel; nein. In diesem Sinne erwarte sie Bescheid als des Doktor Laudin ergebene Dienerin. Und als Postskriptum: ihr Anwalt (bei dem sie also doch gewesen war) habe ihr von jeder Vereinbarung mit der Lanz abgeraten. Ein Testament habe ihres Wissens nicht existiert, sie könne ein solches daher auch nicht beseitigt haben. Den Eid scheue sie nicht. Wenn ihr der Herr Doktor Laudin dieses antun wolle: bitte; sie sehe dem Unvermeidlichen mit Ruhe entgegen. Im übrigen bemerke sie, daß sie den Hartmannshof verpachtet und sich für die nächsten Monate bei ihrer Kusine in der Josefstadt, Lange Gasse 20, eingemietet habe.

»Ein sehr zu fürchtendes Weib,« murmelte Laudin, als er zu Ende gelesen hatte; weit entfernt, derlei Schriftsätze zu verachten, in denen der ausschweifende Selbstgenuß des Schreibers mit der finstern Lust, Menschen zu beschäftigen, sich paart, mußte er in diesem besonderen die Zeichen tobender Instinkte erblicken, verwürgter Rachsucht und vergifteter Erotik, deren Folgen nicht abzusehen waren.

Er läutete dem Diener. »Herr Lanz,« befahl er.

Konrad Lanz war in seinem Äußeren ziemlich verändert. Er trug einen neuen Mantel, einen neuen Anzug, die Haare waren geschoren und das Gesicht im Gegensatz zu den früheren Malen, wo er zu Laudin gekommen, sorgfältig rasiert. Doch hatten die Züge eine eigentümliche Starrheit, Erstarrung beinahe, und eine gelbliche Blässe wie bei jemand, der sich eben erst vom Krankenbett erhoben hat. Laudin, davon betroffen, erkundigte sich nach seinem Befinden; zu Boden schauend, erwiderte Lanz, es gehe ihm gut; seine Umstände hätten sich seit einiger Zeit wesentlich verbessert; er habe neue Schüler gefunden und seine Tätigkeit sei einträglicher geworden. Er danke Doktor Laudin für die freundliche Teilnahme.

Er hob die Augen nicht ein einziges Mal empor. Als er auf Laudins Aufforderung Platz nahm, schien es wie wenn das Teppichmuster sein gespanntes Interesse erweckte. Laudin heftete einen forschenden Blick auf ihn, bevor er ihn anredete.

»Sie wünschen Bescheid über den Fortgang Ihrer Angelegenheit,« sagte er; »ich kann Ihnen leider noch nichts Bestimmtes mitteilen. Das Verhalten der Frau Hartmann muß als das einer nicht ganz zurechnungsfähigen Person bezeichnet werden. Sie geht mit dem Gedanken einer mündlichen Auseinandersetzung mit Ihrer Schwester um –«

»Davon verspreche ich mir gar nichts,« fiel Lanz ein.

»Ich auch nicht. Aber es macht den Eindruck, als wäre sie in nachhaltigen Schrecken geraten, und daran können wir vielleicht einige Hoffnung knüpfen. Eine mäßige Summe wird sich auf jeden Fall von der Dame erhandeln lassen. Nur müssen Sie Geduld haben.«

»Gewiß, Herr Doktor. An Geduld soll es nicht fehlen. Was für eine klägliche Rolle würde ich auch vor Ihnen spielen, wollt ich ungeduldig sein. Nicht aus Ungeduld bin ich gekommen. Es liegt mir etwas im Sinn. Ich habe manchmal trübe Ahnungen. Stößt mir irgend etwas zu, ich bin ja mit dem Herzen nicht recht in Ordnung, so steht Karoline allein in der Welt. Ich wollte Sie innigst gebeten haben, Herr Doktor Laudin, meiner Schwester in diesem Fall Ihren Beistand nicht zu entziehen. Es ist vielleicht nur eine Hypochondrie von mir, wahrscheinlich sogar; außerdem ist es mir peinlich genug, Ihre Güte immer wieder mißbrauchen zu müssen, aber man hat ja keinen Menschen, absolut niemand, und wenn Sie mir diese Beruhigung geben könnten, wäre ich Ihnen unaussprechlich dankbar.«

Abermals traf ein forschender Blick Laudins den Studenten. »Seien Sie unbesorgt,« erwiderte er, »ich werde Ihre Schwester nicht im Stich lassen.« Und eine Bewegung des jungen Mannes abwehrend: »Sie dürfen Ihr Leben nicht durch Gewichte beschweren, die Sie selber erzeugen; es fehlt ja an den andern nicht. Kopf hoch, lieber Lanz. Übrigens erinnere ich mich: Sie waren doch als ganz junger Bursche ein vortrefflicher Zeichner; es ist nicht anzunehmen, daß Sie diese Fertigkeit verloren haben. Nun habe ich gestern zufällig erfahren, daß man im anatomischen Institut eine Hilfskraft sucht, jemand, der gewisse Präparate zeichnerisch aufnimmt, die sich zur photographischen Wiedergabe nicht eignen. Hätten Sie Lust dazu, so könnte ich Sie empfehlen.«

Lanz, der sich bei der Erwähnung seines zeichnerischen Talents verfärbt hatte, so, daß das Gelb seiner Wangen grau wurde, und mit dem Taschentuch über die Stirn gefahren war, sagte hastig: »Ich habe für die nächsten Monate nur ein einziges Ziel, Herr Doktor, nämlich mein Examen abzulegen. Ich hänge an meinem Studium, ich hänge an dieser Wissenschaft; mit Leib und Seele, darf ich wohl sagen. Ich muß fertig werden. Ich muß endlich zeigen, daß ich wer bin, daß etwas in mir steckt. Wenn ich nun neben den Unterrichtsstunden –«

»Ich verstehe,« unterbrach ihn Laudin. »So leben Sie wohl. Falls sich in der Affäre Hartmann Neues ereignet, werden Sie davon hören.« Er drückte dem Studenten die Hand, und dieser entfernte sich nach einer tiefen Verbeugung.

Nach einer Weile, als er sich vom Sessel erhob, gewahrte Laudin ein Briefkuvert auf dem Boden. Es lag unter dem Stuhl, auf dem Konrad Lanz gesessen war. Er hob es auf, und da das Kuvert nicht verklebt war, nahm er achtlos den Brief heraus, ohne vermutlich daran zu denken, daß der Student den Brief verloren haben mußte, als er das Taschentuch aus der Tasche gezogen. Zu seiner Verwunderung las er das Folgende: »Geehrte gnädige Frau, da ich mich nunmehr entschlossen habe, meine ganze Zeit dem Studium zu widmen, ist es mir nicht mehr möglich, den Nachhilfsunterricht Ihres Sohnes fernerhin zu übernehmen. Ich habe auch alle übrigen Stunden abgesagt und glaube damit einem Gebot höherer Pflicht nachgekommen zu sein. Indem ich für das mir stets bewiesene Wohlwollen danke, bin ich Ihr ergebener Konrad Lanz.«

»Wie merkwürdig,« sagte Laudin vor sich hin; »er hat doch ausdrücklich von neuen Schülern gesprochen . . . ausdrücklich von seinen Unterrichtsstunden, als ich ihm das Angebot machte . . . was für Lügen? wozu? wie merkwürdig . . .« Da der Brief mit einer Marke versehen und adressiert war, klebte er ihn zu und warf ihn auf den Tisch, zu den andern Briefen, die expediert werden sollten.

Auf der Heimfahrt ließ er das Auto vor einem Blumengeschäft halten. Im Augenblick aber, als er die Türklinke des Ladens gefaßt hatte, schüttelte er den Kopf, murmelte fast erschrocken vor sich hin: »Das geht keinesfalls,« und kehrte wieder zum Wagen zurück.


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