Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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Ernevoldt und seine Schwester waren gekommen, um eine Vollmacht zu unterschreiben. Außerdem hatte May am Abend zuvor eine Zusammenkunft mit Konstanze Altacher gehabt (diese hatte den ausdrücklichen Wunsch geäußert, das junge Mädchen zu sehen), und sie hätte darüber berichten sollen. Aber es erwies sich, daß sie hierzu nicht fähig war. Sie hatte den Verlauf der Unterredung gleich nachher Luise Dercum mitgeteilt; sie konnte es nicht über sich bringen, es ein zweites Mal zu tun, und Luise hatte sich bereit erklärt, Laudin von allem zu unterrichten. Nach Bernt Ernevoldts Andeutungen hatte es eine peinliche Szene gegeben, mit Tränen und Reminiszenzen, Verwünschungen und Beschwörungen, Versöhnungsangebot und Verzichtsforderungen, alles in einem und demselben Atem, und May war vollkommen krank zurückgekehrt.

Laudin hätte gern Genaueres gehört, da ihm der Charakter Konstanze Altachers nach und nach ein dunkles, in seinem ganzen Umfang ihm selbst noch nicht recht verständliches Interesse einzuflößen begann. Nicht weniger als es, in anderer Art und anderer Lebensschicht, bei Brigitte Hartmann der Fall war. Es war als ob eine unendliche Anzahl von Frauen, die in Jahren und Jahrzehnten schattenspielhaft an ihm vorübergezogen war, sich allmählich zu diesen beiden Figuren verdichtet hätte, gleichsam zwei verschiedenen Fleischwerdungen eines Weltzustandes, und als ob er dadurch erst zu dem durch nichts wieder zu beseitigenden Bewußtsein gelangt wäre, durch diese Krönungs- oder Gipfelfiguren nämlich, daß in der Verstrickung mit ihren Geschicken unergründlich Übles an ihm geschehen war.

Er hatte durch Ernevoldt wie auch durch unmittelbare Zeugen, vornehmlich einen ihm befreundeten Notar, in Erfahrung gebracht, was sich einen oder zwei Tage vor Konsul Altachers Tod im Sanatorium zugetragen hatte. Frau Konstanze war während der Anwesenheit zweier Schwäger und eines älteren Bruders ihres Mannes an dessen Krankenbett erschienen, hatte ihn schluchzend umschlungen und mit Liebkosungen beinahe erstickt, wie überhaupt ihr Betragen beängstigend exaltiert gewesen war; zu gleicher Zeit hatte sie ihn auf den Knien und mit aufgehobenen Händen angefleht, seinen Entschluß, sich scheiden zu lassen, aufzugeben, denn dazu werde sie niemals und unter keinen Umständen ihre Einwilligung geben. Die Verwandten hatten sich vorher geeinigt, in Ruhe mit Edmund Altacher zu sprechen; sie waren auf das unangenehmste überrascht, als Konstanze plötzlich ins Zimmer stürzte, um so mehr, als sie ihnen feierlich zugesagt hatte, die Intervention, die man um ihretwillen unternahm, nicht durch ihr unvermutetes Erscheinen zu gefährden. Aber wahrscheinlich war sie von irgendeiner Seite her benachrichtigt worden, daß Altacher um dieselbe Stunde den Notar bestellt hatte, und vor nichts hatte sie so große Furcht als vor der Abfassung des Testaments. Diese zu verhindern, glaubte nur sie imstande zu sein. Deshalb war sie gekommen. Aber sie war nicht allein gekommen. Im Korridor warteten die drei Töchter, die sie gezwungen hatte, sie zu begleiten, die sonst ihren Vater wohl täglich besucht hatten, aber ohne die Mutter, da sie wußten, wie ungünstig ihre Nähe und Gegenwart auf sein Befinden wirkte. Nur mit Widerstreben hatte Altacher die Verwandtenabordnung empfangen; die Ärzte hatten nicht unterlassen, ihn auf die Folgen etwaiger Erregungen aufmerksam zu machen. Vermutlich aber sträubten sie sich nur zum Schein, weil sie ihn für verloren hielten und es andererseits seinen Zustand vielleicht wohltuend beeinflußte, wenn er seine Familienangelegenheiten ordnen konnte. Somit war es auch Konstanze möglich, zu ihrem Mann zu dringen; über seine ausdrückliche Bitte, ihm eine Zeitlang fernzubleiben, dachte sie sich bei dieser Gelegenheit hinwegsetzen zu müssen; der Gattin darf man die Tür nicht verschließen, sagte sie zu ihren Töchtern, die ihr schüchterne Vorstellungen zu machen wagten. Sie hatte eben einen unbeugsamen Willen, wenn sie sich etwas Bestimmtes vornahm, und da nach ihrer eigenen Meinung jeder ihrer Schritte Erleuchtung von oben war, gab es niemals Hemmungen für sie. Umsonst bemühte sich der Kranke, ihre Wildheit, ihren Schmerz, ihren stürmischen Appell durch Gebärden und geflüsterte Worte zu beschwichtigen; vergeblich auch das Zureden der Verwandten, die unter diesen Umständen ihre Mission als gescheitert betrachten mußten; die selbstisch fassungslosen Ausbrüche Konstanzes steigerten sich bis zu dem Augenblick, wo der Notar das Zimmer betrat; da rief sie ihre Kinder herein und sagte in einem wahren Krampf von Verzweiflung: von euch hängt es jetzt ab, daß euch euer Vater nicht in ewige Schande stürzt und seiner Mätresse ein Vermögen zuwendet, auf das nur ihr Anspruch habt und kein Mensch sonst auf der Welt! Die Töchter brachen in Tränen aus; sie schämten sich, sie wären am liebsten geflohen, aber der eiserne Wille der Mutter beraubte sie jedes Gedankens und Entschlusses. Das war die grandiose Macht Konstanzes, das war ihre Macht immer gewesen, namentlich wenn sie sich zur großen Leidenschaft entfaltet hatte, und dem war auch Edmund Altacher stets unterlegen. Ein der Leidenschaft und Entflammung fähiger Mensch kann den Himmel herabzaubern oder die Hölle aufreißen; Altacher, wie er selbst mit Trauer gestanden, hatte die Besessene führerlos gelassen, so war ihr das Oben und Unten, Licht und Finsternis vertauscht. Er ergab sich; auf seinen stummen Wink entfernte sich der Notar wieder; nur noch den Frieden der letzten Stunden ersehnend, gelobte er Konstanze in die Hand, auf das testamentarische Legat, das nach ihrer Überzeugung die Ehre der Familie untilgbar beflecken würde, zu verzichten; von der Scheidung könne, solang er sich schwer leidend fühle wie jetzt, ohnehin nicht die Sprache sein. Dagegen schwor Konstanze, die vor Rührung und Dankbarkeit ganz zerknirscht und hingeflossen war, seine Freundin solle, insofern sie es verhindern könne, niemals Entbehrungen oder Sorgen haben, auch leistete sie wegen des beleidigenden und, wie sie ausdrücklich betonte, unzutreffenden Ausdrucks, dessen sie sich über May Ernevoldt bedient, vor allen Anwesenden und ihren Kindern reuig Abbitte. In der zweitfolgenden Nacht war dann Edmund Altacher gestorben. Konstanze saß als treue Gattin und Pflegerin an seinem Lager; May hatte man nicht mehr zu ihm gelassen.

Laudin sagte, er habe bei alledem ein Schwindelgefühl. Gut und Böse, Unglück und Berechnung, Liebe und Geschäft, Pietät und Geldgier seien hier so unlöslich ineinander verfitzt, daß eins das andere bald verdopple, bald vernichte und dem abwägenden Urteil jede Handhabe, dem moralischen Bewußtsein jeder Anhalt fehle. Etwas Ähnliches sei ihm in seiner Praxis noch nicht begegnet. In der Tat war sein Billigkeitsempfinden durch alle diese Vorgänge aufs tiefste verletzt. Es überfalle ihn, wenn er sich mit ihnen beschäftige, ein Heißhunger nach Reinlichkeit und Menschenwürde, so äußerte er gegen May, und wenn er in der Nacht aufwache, verspüre er einen brennenden, ohnmächtigen Zorn. Wie weit er sich bei seinem Handeln im Zustand ruhiger Selbstbestimmung und sachlicher Verantwortlichkeit befand, konnte niemand in seiner Umgebung ermessen; die unmittelbaren Antriebe lagen klar genug auf der Oberfläche; was sich aber darunter abspielte und wovon sein ganzes Inneres eingenommen war, ohne daß er die sich langsam zum Gewebe verspinnenden Fäden zu regieren wagte, blieb ihm verborgen, schon deshalb, weil er in sein Inneres zu dringen nicht gewohnt war und er zu den bescheidenen Naturen gehörte, die für das eigene Seelenleben wenig Interesse haben oder die unbekannten Kräfte in ihrem Gemüt mit einer Art von Selbstrespekt sich auswirken lassen. Sicher ist, daß ihm der Tod des Konsuls nahe ging wie der Tod eines Freundes und daß er hauptsächlich unter dem Eindruck davon den verhängnisvollen Entschluß faßte, den Prozeß für die Geschwister Ernevoldt zu führen. Als Konstanze Altacher dann mit ihrer Vertretung einen der geschicktesten, geriebensten und in gewissem Sinn auch verrufensten Anwälte, den Doktor David Kerkowetz, betraute, wurde es ihm Ehrensache, den höchst zweifelhaften Fall mit seiner Autorität zu decken.

Er schien zu vergessen, daß er die Autorität damit gefährdete, am Ende vielleicht sogar die Ehre.


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