Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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8

Er hatte nicht die Gewohnheit, unter seiner Last zu seufzen. Die einzige Klage, die man seit einigen Monaten von ihm hörte, war etwa: »Es ist eine beängstigende Häufung eingetreten, wohin soll das noch führen?« Er beeilte sich aber dann hinzuzufügen: »Ich sage das nicht meinetwegen; es ist mehr ein allgemeiner Gesichtspunkt.« Und er gab sich bei diesen Worten Mühe, sorglos und zufrieden auszusehen.

Wenn er erschöpft war von Besprechungen, Beratungen, Konferenzen, Diktaten, Versöhnungsversuchen, Informationen, telephonischen Anrufen und den Terminen bei Gericht, war doch stets dasselbe entgegenkommende, gewissermaßen alle Anstrengung verneinende Lächeln auf seinen Zügen. Wenigstens solange er sich unter den Augen von Menschen befand und er darauf gefaßt sein mußte, ihnen Rede zu stehen.

War er aber allein in einem Raum und gegen beobachtende Blicke geschützt, so fiel ein trüber Schleier über sein Gesicht. Die Spannung der Muskeln ließ nach, das Lächeln erstarb, zwischen die Brauen legte sich eine tiefe Kerbe, und er warf sich auf einen Stuhl, um viertelstundenlang unbeweglich vor sich hinzustarren.

Zu Beginn des letzten Herbstes hatte ihn Pia einmal so überrascht. Er hatte sie nicht kommen gehört; sie verblieb lautlos an der Schwelle und schaute ihn an, darauf verschwand sie lautlos wieder. Als sie draußen war, preßte sie die eine Hand an die Wange, und in ihren Augen lag Bestürzung. Keine Silbe ihm gegenüber verriet, daß sie ihn bei seinem Alleinsein belauscht hatte.

Da ein von einem Turm fallender Mensch innerhalb weniger Sekunden viele Jahre seines Lebens zu überschauen vermag und längst vergessene Einzelheiten in weit grellerem Licht gewahrt als zur Zeit, wo sie sich in der fließenden Gegenwart nahezu verloren haben, ist es auch möglich, daß einem Mann Gesichter, Gestalten, Gespräche und Begebenheiten in drängender Flucht durch den Sinn jagen, während er über den Flur seiner Wohnung geht, während er eine Treppe hinaufsteigt oder während er die Tür zu seiner Kanzlei öffnet und wieder schließt.

In jeder kleinen und zufälligen Verrichtung einer Person steckt wahrscheinlich das ganze Gewebe der Welt. Äußeres Tun bezieht sich auf inneres Sein, aber das Innere ist ein schwarzer Fluß, über dessen Ufern die Finsternis lagert. Bisweilen flammt eine leuchtende Kugel darüber auf; bisweilen haucht eine schreckensvolle Bewegung darüber hin, und eines mischt sich ins andere. Vielleicht entsteht nur ein Traum daraus, vielleicht auch ein Entschluß; oder sollten Entschlüsse nicht die Folge von Träumen sein können und die Furcht vor Entschlüssen die Furcht vor dem Traum, der unerinnerlich ist oder noch nicht ausgereift? Die Seele arbeitet oft so lange an ihren Träumen wie der Geist an seinen Ideen.

Betrachtet Laudin sein Schlafzimmer und die Dinge, die es enthält und zu denen er in einem Verhältnis von Sklaverei steht, so scheint er etwas Einsames und Mutloses zu denken, und wenn er die Lampe auslöscht, versinken die Gegenstände in eine Dunkelheit, die sich fünf- bis sechstausendmal im selben Raum zur selben Stunde aufgetan hat; aus der Entfernung von Jahren, wo vergessene Freiheit den Schritt beflügelt hat, erhebt sich ein Ruf wie gelebte Empfindung; aber bis dahin zurück ist der Weg mit Gespenstern bevölkert.

Bei einem Frage- und Antwortspiel, das seine Töchter und einige ihrer Freundinnen spielten und an dem er eine Weile teilnahm, fragte ihn die schöne Laura Arndt: »Wer möchten Sie sein, wenn Sie nicht Sie wären?« Er antwortete schmunzelnd, sehr zur Verwunderung der jungen Dame: »Ich wäre schon so zufrieden, nicht ich zu sein, daß ich gar keinen weiteren Wunsch mehr hätte.« Als ihn später Marlene über seine Worte auszuforschen suchte, sagte er etwas verlegen: »Es ist nicht der Mühe wert, Kind; ihr müßt euch an die Vernunft halten: einem Mann in meinen Jahren soll es erlaubt sein, manchmal etwas Unvernünftiges zu äußern.« Marlene schüttelte den Kopf.

Mutlos und einsam setzt er auf der Straße Fuß vor Fuß (an sonnigen Morgen schickt er das Auto voraus und geht ein Stück Wegs); er zuckt die Achseln über ein geschmackloses Plakat, lächelt nachsichtig, wenn ihm kleine Buben vor die Füße rennen, lüpft verbindlich den Hut, wenn ihn jemand grüßt, und verliert sich währenddessen vermutlich in Grübeleien über den törichten Einfall, daß er nicht mehr er selber zu sein wünscht, als ob man den eigenen Charakter abstreifen könnte wie einen schadhaften Anzug. (Warum? fragen wir mit Marlene; warum nicht er selbst? wer könnte er sonst sein, gerade er, und warum es ungern sein?) Er hört sich sagen: »Man könnte Egyd einmal den Traum erzählen; daran hätte er zu deuten.«

Welchen Traum? Es ist gar kein Traum; er ist noch gar nicht geträumt; er wird erst; er ist vorläufig nur ein mutloses und einsames Gefühl.

Schwer ist das Leben der tätigen und praktischen Leute in seinen unveränderlichen Linien zu erkennen. Laudin hilft den Menschen, ihre Irrungen einzusehen und ihre Ketten abzufeilen. Es hat den Anschein, als lägen soviel abgenommene Ketten um ihn herum, daß sie für ihn selber zu Gefängniswänden emporgewachsen sind.

Er präsentiert sich als ein überlegener, ruhiger, wohlwollender, wohlgelaunter und in vielen Fällen witziger Mann. Aber wie ist er wirklich? Wer ist er wirklich?

Weshalb verdrießen ihn manchmal die graubraunen Kostüme, in denen ihm seine Töchter beim Frühstück Gesellschaft leisten? Schon wieder die Diakonissinnengewänder, sagt er. Die graubraune Farbe verdrießt ihn; offenbar mahnt sie ihn daran, daß Marlene und Relly zum Schulbesuch und fernerhin zu nützlichen Tätigkeiten bestimmt sind. Haßt er denn das Nützliche? Die graubraunen Kleider machen sie allerdings den Spatzen ähnlich, die auf einem winterlichen Zaun am Weg ängstlich und erfroren piepsen. Aber Marlenes klare kluge Augen sind auf ihn geheftet, so durstig und zugleich so erfahren, daß sich der Mann des praktischen Lebens schämen müßte, ihr nicht ebenbürtig zu sein. Als unzulängliche Entgegnung hat er nur den Blick, der vor der Gewalt und Wahrheit der Jugend entzweibricht.

Die Stube duftet vor Sauberkeit. Pia sitzt freundlich-gelassen am Tisch und streicht Butterbrote. Sie sagt: »Es hat zwei Grad unter Null, ihr müßt eure warmen Mäntel anziehn, Mädchen.« Die Pflegerin bringt den kleinen Hubert; er ist frisch gewaschen, und sein rosiges Gesicht glänzt wie ein mit Fett betropfter Kuchen, wenn man ihn aus der Röhre geholt hat. Das Gummi-Eselchen steht geduldig und melancholisch da, denn es weiß, daß es seinem Schicksal nicht entgehen kann, von den Händen des riesigen Zwergs Uistiti erbarmungslos malträtiert und in seiner Lebensdauer verkürzt zu werden. Laudin erhebt sich strahlend und nimmt das Söhnchen auf den Arm. Ein paar täglich sich wiederholende Scherze und kauderwelsche Zärtlichkeiten, dann verabschiedet er sich liebevoll von allen.

Wie ist er wirklich? wer ist er wirklich? fragen wir noch einmal.


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