Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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In der Kanzlei erschienen an demselben Tag drei Parteien mit Scheidungsbegehren. In allen drei Fällen lagen unheilbare Zerwürfnisse vor. Die Ehen waren angefault bis ins Mark, und schuldig waren in allen drei Fällen die Männer, was nach der Sachlage nicht bezweifelt werden konnte. Im einen Falle hatte krankhafter Geiz des notorisch reichen Mannes die Frau zur Verzweiflung getrieben; der zweite Fall betraf einen Mann mit vollkommen zerrütteten Nerven; sechzehn- bis achtzehnstündige tägliche Berufsarbeit, fortgesetzt durch Jahre, das wütende Verlangen nach Macht, Stellung, Einfluß, er war Bankier, hatte seine Gesundheit vernichtet, und er fand aus immer häufiger wiederkehrenden Gemütsdepressionen nur Befreiung, wenn er die Frau körperlich mißhandelte. Dabei hob die Frau, deren Gemüt und Geist gebrochen waren, seine sonstige Gutmütigkeit hervor.

Im dritten Fall kamen beide Eheleute. Der Mann war Ingenieur und machte zunächst einen ruhigen, verständigen Eindruck. Als aber die ehelichen Wirrnisse zur Sprache gelangten, entfaltete er einen Zynismus, der sich sowohl auf Einzelheiten wie auch auf das Allgemeine des Zusammenlebens erstreckte und um so ungeheuerlicher und schamloser wirkte, als seine Schilderung beständig von der Frau in fast anerkennender Weise bestätigt wurde. Er gab nicht nur offen zu, daß er die Frau betrogen und hintergangen, die jugendliche Schwägerin verführt, mit zwei von deren Freundinnen Verhältnisse gehabt, ein Dienstmädchen geschwängert und die Nächte in Bars und Tanzlokalen verbracht hatte, sondern er war auch stolz auf dieses Treiben, er hatte großartig klingende Rechtfertigungen dafür, indem er von dem berechtigten Wunsch des Sichauslebens redete, von der Notwendigkeit der Sinnenfreude für einen werkschaffenden Mann und von der Torheit und Schädlichkeit des monogamischen Ideals überhaupt.

Es waren Menschen, die sich nicht mehr die Mühe gaben, die Fenster ihrer Seele zu verhängen. Sie hatten die Fähigkeit verloren, sich einer über den andern zu wundern, geschweige denn, aneinander zu leiden. Man hatte sich des Leidens entledigt, man war unempfindlich dagegen, insofern waren es Schicksale der Zeit, und unerhebliche noch dazu. Sie wohnten einander bei wie die Buschneger, versäumten aber als gelehrige und fortgeschrittene Schüler der Epoche nicht, ihre Beziehungen zu analysieren und sich gegenseitig die Blößen vom Leib zu reißen. Dabei sagten sie etwa: wir haben nicht miteinander harmoniert (eines der mißbrauchtesten Worte aus dem Vokabular), als ob ihr Gefühl und Denken von Harmonie oder dem Wissen darum jemals auch nur behaucht worden wäre. Wie ein Geologe die Wirkungen eines Erdbebens, vermochte Laudin bei dem sozialen Zusammenbruch, dessen Anfang und Ende und wahre Natur noch nicht zu erkennen waren, den Zustand der Geister zu überschauen. Es wurde immer mehr ein Spaziergang unter Trümmern daraus.

»Haben Sie Kinder?« fragte er.

Ja, sie hatten Kinder; zwei Kinder. Eines sei mitgekommen, erklärte die Frau mit munterem Eifer, es sitze draußen im Wartezimmer, sie wolle es dem Herrn Doktor zeigen. Sie holte das Kind, ein vierjähriges Mädchen.

Das Kind war ein Engelsbild.

Die Erschütterung, die Laudin durch den Anblick des herrlich schönen Kindes erfuhr, grub sich tief und schrecklich in ihn ein. Als kurz nachher Bernt Ernevoldt und May, die angesagt waren, zu ihm ins Zimmer traten, äußerte er mitten im Gespräch, als hätte ihn nur dies während der ganzen Zeit beschäftigt: »Ich muß glauben, daß Kinder von anderem Blut, ja von anderer chemischer Beschaffenheit sind als Erwachsene. Es sind Geschöpfe, so fremd unserer Art wie wir vielleicht den Tiefsee-Organismen. Mit einem Male werden sie Menschen. Was das heißt, wissen wir. Bis zum fünften, zum siebenten Lebensjahr elfenhafte, unbegreiflich hohe Kreaturen, reine, zarte, gute Wesen, wundervoll entwickelbar; auf einmal dann Menschen, ganz gewöhnliche Menschen, zwölf im Dutzend, sechzig im Schock, leer, dumm, stumm, hoffnungslos und gottverlassen. Wieso kommt das? wieso geschieht es? woher der Knacks? Auf welche Weise verschwindet der Kristall und wird zu Fensterglas? Wann? Mit welchem Tag beginnt es? aus welcher Ursache? Darüber könnte man sich zu Tode denken.«

May, die tiefe Trauer trug und sich, wie meistens, so auch jetzt schweigsam verhalten hatte, hob den Schleier, und ihre mondsteingrauen Augen leuchteten den Advokaten rätselhaft an. »In den Kinderseelen stirbt, was die Väter und Mütter nicht zu leben imstande sind,« sagte sie mit leiser Stimme.

Laudin betrachtete sie forschend, als warte er auf eine deutlichere Erklärung, aber sie verfiel wieder in ihr Schweigen.


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