Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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24

Luise Dercum hatte eine geräumige Atelierwohnung inne, die sich über das ganze Dachgeschoß eines Neubaues erstreckte und fast im Zentrum der Stadt lag, wennschon in einer der stilleren Gassen, zwischen verlassenen oder zu Verwaltungs- und Regierungszwecken adaptierten Rokokopalästen. Laudin fuhr mit dem Lift hinauf, und schon vor der eichenen Flurtür hörte er Gelächter und den Lärm vieler Stimmen.

Er war unangenehm berührt; nach Luise Dercums gestrigem Brief hatte er erwarten müssen, daß sie für ihn allein zu Hause sein würde. Der Anlaß, der ihn herführte, mußte ihr belangvoll genug erscheinen.

Umzukehren hatte er keine rechte Möglichkeit.

Er trat, nachdem er dem Mädchen seine Karte überreicht, in einen hohen weiten Raum, der bei Tag Oberlicht und Seitenlicht hatte; jetzt, am frühdunklen Dezembernachmittag, waren die beiden ausgedehnten Fenster wie auch die Wände gleich dem Innern einer Kapelle mit braunrotem Stoff verhängt, einer Art Samtbrokat. Mehrere Stehlampen waren verteilt, mit Schirmen, jeder so groß wie ein Zeltdach, trotzdem lag der ganze Raum in unbestimmter, wahrscheinlich auch beabsichtigter Dämmerung, in welcher das Auge Laudins zunächst nur Teppiche, Tische, Ottomanen, grelle Bilder an den Wänden und sechs oder acht Gestalten von Männern und Frauen unterscheiden konnte.

Eine der Gestalten löste sich aus dem purpurnen Hintergrund und ging mit lebhaften Schritten auf ihn zu. Gleichzeitig kehrten sich, vom Zigarettenrauch wie von Wolken verhüllt, neugierig die Gesichter der Gäste nach ihm, und das Lachen und Plaudern hörte einige Sekunden auf. Luise Dercum begrüßte ihn. Er erkannte die dunkelmetallene, eigentümlich belegte rasche Stimme wieder. Die Züge wollten ihm fremd erscheinen, die Figur kleiner. Er umfaßte eine kühle, bewegliche, muskulöse Hand; er hörte artikulierte rasche Worte. Er verbeugte sich.

Luise Dercum stellte vor. Unter all den Namen, die ihm nichts bedeuteten, klangen zwei an sein Ohr, die ihn aufblicken ließen: Ernevoldt und May Ernevoldt. Er sah einen hochgewachsenen, ziemlich vierschrötigen, bereits einigermaßen verfetteten Mann, dessen bartloses Gesicht schön zu nennen war, mit energischen Zügen, die aber, wenn man sie näher betrachtete, plötzlich den Eindruck von Trägheit und Geistlosigkeit machten; und er sah ein schmales Figürchen mit schmalem Kopf und halblangen Haaren von seidigem Fall, die nahe den Schultern in Andeutungen von Locken endeten und von einem Blond waren, das so weiß wie gesponnenes Glas wirkte.

Luise Dercum hatte ihn schon wieder verlassen. Sie war am Teetisch beschäftigt und gab dem aufwartenden Mädchen Anweisungen. Gleich darauf wandte sie sich zu einer jungen Kollegin und sprach angelegentlich mit ihr. Zwei Herren, ein Schauspieler und ein Journalist, Laudin hatte bereits vergessen, wie sie hießen, gesellten sich dazu, und er hörte Luise lachen. Sie bog dabei den Kopf zurück, und man sah ihren braunen Hals. Das Lachen klang sonor und hatte etwas Bezwingendes wie bei jemand, der mit ganzer Seele lacht. Gleich darauf stand sie bei einer dick geschminkten Dame, die auf einem Fauteuil beim Kamin saß, und beugte sich zu ihr nieder. Der Fortunyschal, der um die Schultern hing, verlieh ihrer Erscheinung Ähnlichkeit mit einer großen, beweglichen etwas phantastischen Blume. Es erschien ein neuer Gast, bei dessen Anblick sie einen freudigen Ruf ausstieß, ein älterer Mann, der geckenhaft gekleidet war, ein preziöses Mienenspiel hatte und den sie als Baron anredete. Er benahm sich vertraulich und flüsterte ihr etwas ins Ohr, worauf sie ihm einen Klaps auf die Hand gab. Als er Ernevoldt gewahrte, ging er mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Laudin hörte, wie er sich nach dem Befinden des Konsuls Altacher erkundigte; er hörte ihn mehrmals »unser lieber armer Freund« sagen. Ernevoldt gab lächelnd Auskunft. Laudin beobachtete, daß er eine sonderbare Gewohnheit des Lächelns hatte, das heißt, er lächelte in abgemessenen Pausen, anscheinend ohne jeden Grund, ob man ihn ansprach oder nicht, ob er still vor sich hinschaute oder mit irgend etwas beschäftigt war. Es war ein gutmütig-verträumtes, gleichsam beschämtes Lächeln, das aber ein wenig einfältig wirkte.

Laudin stand abseits, halb verlegen, halb befremdet. Die Gesellschaft war ihm ungewohnt, die Situation neuartig. Man hatte ihm Tee gebracht; er stand da, hielt die Tasse in der Hand und schien zu überlegen. Er vernahm die dunkelmetallene rasche Stimme, diese Stimme, die ihn von der Bühne her entzückt und von der er den Eindruck hatte, daß sie allein sich treu geblieben war, und als ein junger Herr eine Frage an ihn richtete, in vertraulichem Ton, denn alle hier schienen sich einer seltsamen Vertraulichkeit zu befleißen, wie wenn Distanz zwischen Menschen etwas Ungehöriges wäre, antwortete er zerstreut und zog seine Uhr.

Da spürte er eine Hand auf seinem Arm. Wieder eine Vertraulichkeit, schien er zu denken, als er sich stirnrunzelnd umdrehte. Aber es war Luise. »Darf ich Sie fünf Minuten zu mir hinüberbitten?« fragte sie, und er konnte sehen, daß sie tiefbraune, feuchtglänzende Augen hatte, deren Blick heftig und ungeduldig war. Er verneigte sich. Sie führte ihn. Jemand rief: »Lu, komm doch schnell einmal her!« Sie winkte mit der Hand und sagte: »Später.«

Sie traten in ein kleines Gemach. Eine Ampel mit bunten Gläsern, rot und gelb, hing von der Decke herab. Auch hier Dämmerung. Luise schloß die Tür nicht. »Ich hatte nicht daran gedacht, daß ich Leute zum Tee haben würde,« wandte sie sich an Laudin, und der dringende, heftige Blick traf ihn wieder; »Sie müssen verzeihen. Wir werden hier reden, Herr Doktor. Um was handelt es sich? Worin kann ich Ihnen nützlich sein?«

»Ich habe versucht, es Ihnen, allerdings nur in kurzen Worten, schriftlich auseinanderzusetzen, gnädige Frau,« erwiderte Laudin artig, doch trocken; »ich komme im Auftrag und auf die Bitte meines Freundes Egyd Fraundorfer zu Ihnen, da er selbst begreiflicherweise seelisch nicht in der Verfassung ist, eine Unterhaltung zu führen, die die schmerzlichsten Gefühle in ihm hervorrufen oder erneuern müßte.«

»Ja; Sie haben mir das geschrieben, ich erinnere mich,« sagte Luise Dercum fast unwillig, hob den Kopf und sah Laudin forschend an; »was soll ich? was will man von mir?«

Laudin antwortete: »Wir sind Ihnen gegenüber in einer peinlichen Situation, verehrte Frau. Wir wissen uns keine rechte Hilfe; mein Freund befindet sich in einem Wirrsal von quälenden Vermutungen, Selbstvorwürfen und düstern Grübeleien. Der einzige Mensch, an dem er mit allen Fasern hing, ist ihm auf eine jähe und entsetzliche Weise entrissen worden. Es ist vielleicht unnötig, Ihnen zu sagen, wieviel schöne Hoffnungen mit Nikolaus dahin sind, Hoffnungen nicht bloß für den Vater, sondern für uns alle. Zudem liegt der Fall so, daß Egyd Fraundorfer die Liebe zu seinem Sohn gewissermaßen sekretiert hat. Erschwernis besonderer Art. Charakter von besonderer Trotzigkeit. Scham vor dem eigenen Gefühl bis nah an die Vernichtung des Gefühls. Die Folge: wahre Delirien der Verzweiflung, stummes, nächtelanges Toben. Was jahrelang zurückgedämmt war, verschafft sich gewaltsam Luft. Wir glaubten und glauben es noch, daß Sie Aufschluß geben können; wenigstens über die Motive. Nikolaus hatte ja Ihre Freundschaft gewonnen. Er war, das konnte ja nicht verborgen bleiben, von einer hingebenden Schwärmerei für Ihre Person erfüllt. Sonach werden Sie es nicht übel aufnehmen, wenn ich Sie um Klärung und Erklärung bitte, vorausgesetzt, daß Sie dazu gewillt und imstande sind.«

Wieder ein forschender Blick Luises. Finsteres Zusammenziehen der Brauen dann. Sie hatte die Hände auf den Rücken gelegt wie ein Mann. Dadurch bekamen Schultern und Kopfhaltung etwas Entschlossenes. »Wollen Sie nicht Platz nehmen?« forderte sie den Anwalt auf. Er schickte sich dazu an, wartete aber höflich, daß sie sich zuvor setze. Sie blieb stehen; er schob den schon bereitgehaltenen Stuhl wieder weg. Sie schritt zweimal durch das Zimmer. In den kühn und heftig blickenden Augen schimmerte etwas wie Verdruß. Als sie wieder an der Tür vorbeikam, machte sie sie zu, und das Stimmengewirr erlosch. Dann stellte sie sich mit dem Rücken gegen die Tür und lehnte den Kopf mit dem dichten braunen Haarknoten daran, wodurch sich der Körper noch mehr straffte.

»Damit keine Ungewißheit herrscht, will ich Ihnen die Geschichte erzählen,« begann sie ohne jede Geste, mit dem tiefen Gesang in der Stimme, der den Zuhörer aufhorchen ließ; »soviel ich mich erinnere, hab ich den Buben bei einer Gedenkfeier kennengelernt, bei irgendeinem Fest, das ein Kollege veranstaltete. Er spielte Klavier; durch sein Spiel wurden wir befreundet. Er besuchte mich, kam anfangs selten, dann häufiger, zuletzt täglich. Ich sah natürlich bald, daß er Feuer gefangen hatte. Eines Tages kam dann auch richtig das Geständnis. Ich machte ihm begreiflich, daß ich nicht für ihn zu haben sei. Ich sagte ihm, er sei noch ein Kind, ich aber sei eine erfahrene Frau, die Ruhe und Ordnung in ihrem Leben braucht; meine vierundzwanzig Jahre zählten in der Beziehung doppelt. Er wollte es nicht einsehen. Er war nicht zur Vernunft zu bringen. Ich hatte meine Not mit ihm, aber was sollt ich machen? Ich konnt ihm nicht meine Wohnung verbieten. Ich war nicht seine Gouvernante. Es ist nicht meine Sache, den jungen Leuten, die zu mir kommen, Philosophie beizubringen. Es kommen viele. Ich brauche Menschen. Ich liebe Gesellschaft. Ich bin ungern allein. Außerdem hatt ich viel übrig für den Jungen. Wie er jedoch immer unbändiger wurde und exigeanter, wurde es mir zu bunt, und ich sagte ihm klipp und klar: mein guter Nikolaus, entweder bleiben wir Kameraden, oder Sie müssen zusehen, wo der Zimmermann das Loch gemacht hat. Ich habe Besseres zu tun als solchen Grashüpfern, wie Sie sind, jeden Tag den Kopf zurechtzusetzen. Ich will Sie nicht langweilen, Herr Doktor, mit dem, was sich darnach abspielte, wie er mir die Freundschaft kündigte und doch wieder kam und mir Szenen machte und Abbitte leistete und im Theater erschien und stundenlang vor meiner Garderobe stand und Kollegen und Kolleginnen aushorchte; ich will nur erzählen, was an jenem Sonntag vorging, das dürfte Sie ja hauptsächlich interessieren.«

Laudin nickte. Er sah gebannt auf den Mund der Schauspielerin, und nicht minder gebannt war sein Ohr. Es hatte alles seinen klaren Sinn, was sie sagte; jedes Wort stand an seinem richtigen Platz und war mit einer Art von Souveränität und Freiheit gewählt. Im bürgerlichen Leben ist es selten, daß Menschen sprechen können, daß sie sich des richtigen Ausdrucks mit der richtigen Betonung und im richtigen Maß bedienen; daß die Stimme angenehm fällt und steigt, ohne zu erlahmen oder faul und heiser zu werden. Laudin war ein zu erfahrener Braucher des Wortes, um dies nicht zu würdigen; vielleicht genoß er es sogar und hatte Mühe, über diesem Vergnügen nicht seine traurige Sendung zu vergessen. Unter dem Gebüsch seines Schnurrbarts schimmerte kaum merklich, als ob er das Metier grüße, ein Lächeln.

Hatte Luise Dercum bis jetzt völlige Ruhe bewahrt, so schien sie nun, in der Erinnerung an den entscheidenden Abend, innere Erregung nicht länger verbergen zu wollen. Sie schritt wieder im Zimmer auf und ab, nahm den schönen, farbigen Schal von den Schultern, um ihn gleich darauf wieder umzulegen, richtete den Blick zur Decke, strich mit der Hand über das Haar und fing endlich an: »Sonntag nachmittag, nach der Vorstellung, kam er herauf. Ich war müde; ich lag im Bett; ich konnte ihn nicht empfangen. Er redete und stritt draußen lange mit meiner Jungfer, auf einmal stürzte er fort. Abends, nach acht Uhr, erscheint er plötzlich. Ich hatte Freunde zu Tisch. Ich ging ihm ins Vorzimmer entgegen und sagte zu ihm: wenn du vernünftig sein willst, kannst du hereinkommen und dich zu uns setzen, sonst geh lieber –«

»Sie waren also indessen per du mit ihm geworden?« unterbrach Laudin in dem Ton, in dem er Informationen zu erfragen pflegte.

Luise Dercum hob die Brauen und streifte ihn mit einem seltsamen Blick. »Ja, wir sagten uns du. Er hatte mir ein Lied gewidmet, seitdem sagten wir uns du. Er versprach also, artig zu sein, und ich brachte ihn zu den andern. Den ganzen Abend saß er da, in sich versunken, redete keine Silbe, wurde blaß und blasser. Alle brechen auf. Er bleibt. Es ist mir unangenehm, daß er bleibt; ich sehe voraus, daß es wieder zu einem Auftritt kommt. Kaum sind wir allein, so packt er meine Hände und sagt: Wir müssen heiraten, Lu. Ich mußte lachen. Heiraten? sag ich, was fällt dir denn ein, du kleiner Narr, du weißt doch, daß ich verheiratet bin; die Riesendummheit will ich nicht noch einmal machen. So laß dich scheiden, sagt er, ich kann und will nicht ohne dich leben. Mein Gott, was sollte man darauf erwidern; ein achtzehnjähriger Frosch; ich konnte doch unmöglich im Ernst darüber mit ihm verhandeln. Ich sagte ihm: Jetzt aber schau, daß du fortkommst, adieu, Kinder gehören ins Bett, und wenn du ausgeschlafen hast, dann komm wieder zu deiner Lu. Da stellt er sich mit aufgehobenen Armen vor mich hin und bettelt und weint und droht, bis mir die Geduld reißt und ich das Zimmer verlasse. Ich legte mich nieder, mein Zimmer hatte ich zugesperrt, vorsichtigerweise; in seiner Tollheit war er zu allem fähig; einschlafen konnt ich nicht, nach einer Stunde dacht ich: jetzt wird er wohl gegangen sein, und stehe auf, um mir im Atelier ein Buch zu holen. Wie ich hineinkomme, sitzt er am Tisch und schreibt. Was schreibst du denn da? frag ich, nicht sehr freundlich, muß ich gestehn, was sitzt du da zu nachtschlafender Zeit und schreibst? Er steht auf, sagt: Ich bin fertig, gibt mir den Brief und geht. Ich gehe wieder in mein Schlafzimmer, die ganze Geschichte ist mir auf einmal so widerwärtig, daß ich im Ärger dem Mädchen läute und ihr sage: Der junge Fraundorfer darf mir nicht mehr über die Schwelle. Am andern Morgen, vielmehr am Mittag, wie ich aufwache, bringt mir die Jungfer schon die Nachricht von dem Unglück. Einer meiner Bekannten, ein Kapellmeister, hatte telephoniert. Da kamen dann freilich ein paar Stunden, die ich im Leben nicht vergessen werde. Und es ist seit dem Tag ein Schatten über mir, ein Verhängnis auf meinem Weg.«

Sie flüsterte die letzten Worte; die Finger der schlaff herabhängenden Hände spielten nervös an dem langen Schultertuch; das Gesicht war blaß geworden; die Augen hatten sich verfinstert. Sie atmete tief auf; die Erzählung, in immer schnellerem Tempo vorgebracht, so daß die Worte sich zum Schluß katarakthaft überstürzt hatten, ausgenommen den letzten geflüsterten Satz, hatte sie sichtlich erschöpft, und mit abgewendetem Blick stand sie da, als wolle sie nichts mehr sprechen und nichts mehr hören.

Laudin ließ rücksichtsvoll einige Minuten verstreichen, dann fragte er zaudernd: »Und der Brief? Darf ich die Indiskretion so weit treiben, Sie zu bitten, daß Sie mich von dem Inhalt des Briefes unterrichten oder gar ihn mir für kurze Zeit überlassen? Bedenken Sie, gnädige Frau: die letzte Kundgebung, das letzte Lebenszeichen . . .«

Die Schauspielerin zuckte die Achseln. »Der Brief ist verschwunden,« antwortete sie. »Damals in der Nacht habe ich ihn weggelegt, seitdem ist er spurlos verschwunden. Ich habe ihn ja gar nicht gelesen. Wozu sollt ich ihn lesen? Ich habe überall gesucht; es ist, als wär ein Geist dagewesen und hätte ihn geholt.«

Laudin bedauerte dies unerklärliche Verschwinden. Die Vermutung mit dem Geist wehrte er mild ab. In der Erinnerung an das Gespräch mit einer andern Frau, von der hier allerdings so verschiedenen wie das Gemeine vom Hohen verschieden ist, berührte ihn wahrscheinlich die Doppeltheit ein wenig unangenehm und lächerlich, daß sich auch in diesem Fall ein Geist mit dem Dokumentendiebstahl befaßt haben sollte.

»Ich bin Ihnen für Ihre Mitteilungen herzlich dankbar, verehrte Frau,« sagte er mit geneigtem Haupt; »wenn auch noch einige Unklarheiten bestehen bleiben, so habe ich doch Ihnen gegenüber meine Mission als beendet zu betrachten.«

»Unklarheiten? worüber?« fragte, ihn voll und groß ansehend, Luise Dercum.

»Eine davon ist folgende. Am Freitag vormittag hat Nikolaus die Probe des Chorwerks, das er öffentlich dirigieren sollte, mit einem Feuer und einer Hingebung geleitet, daß die ausübenden Sänger und Musiker wie von einer Elementarkraft gepackt waren. Man hat mir das von seiten der Beteiligten bestätigt. Am Samstag hingegen, bei der nächsten Probe, war er in einer Weise geistesabwesend, ja geradezu verstört, daß es jedermann auffiel. Nun war Nikolaus alles, nur nicht launenhaft. Ich selbst habe ihn als einen Menschen von ungewöhnlicher Gleichmäßigkeit kennengelernt. Man sollte also annehmen, daß der katastrophale Umschlag seiner Stimmung nicht erst in der Sonntagnacht, sondern in der Zeit zwischen Freitag und Samstag stattgefunden hat.«

»Es tut mir leid, daß ich Ihnen die fehlenden Kettenglieder nicht liefern kann,« sagte Luise Dercum, und ihre Gestalt wurde plötzlich schmal und streng; »ich habe unter das Kapitel einen Strich gemacht. Ich kann so schweres Reisegepäck nicht brauchen. Ich habe keine Verantwortung; ich lasse mir keine aufdrängen. Was an Trauer und Andenken übrig bleibt, ist meine Sache. Wer mir eine Schuld zuschreibt, kann deshalb noch nicht verlangen, daß ich sie zahle. Es gibt keinen Befehl zur Liebe, auch dann nicht, wenn einer vor mich hintritt und den Revolver an seine Stirn hält. Und es darf da auch keine Gespenster für mich geben, sonst wär ich verloren, wenn ich bloß die Augen auftu. Ich gehöre niemand. Ich gehöre mir. Ich gehöre allen.«

Laudin senkte schweigend den Kopf. Es war ein vehementer Ausbruch von Selbstbehauptung und Stolz. Davor mußte man sich beugen. Der Hauch aus einer Welt des Unbedingten traf den bürgerlichen Advokaten und überzeugte ihn, daß hier keine Kompromisse zu schließen waren, keine konzilianten Abmachungen, keine Halbheiten weiterzuschleppen waren mit dem Vorspann der fünf- bis sechshundert Vokabeln. Das Gesprochene hatte den scharfen Schnitt des Glases, das mit dem Diamanten bearbeitet wird. Es paßte lückenlos in den Rahmen; abgemessen, fertig. Sonach blieb nur übrig, sich verehrungsvoll zurückzuziehen. Luise Dercum reichte ihm die Hand, als er sich verabschiedete, und sah ihn aus niedergekämpfter Bewegung heraus mit einem Lächeln an, das ihn fast zum Erschrecken an das Bild gemahnte, aus welchem ihm so triumphierend Wahrheit und Unschuld entgegengeleuchtet hatten.

Sie geleitete ihn zur Flurtüre, ohne daß er durch das Atelier mußte. Noch auf dem zweiten Treppenabsatz hörte er das Gelächter und Stimmengewirr der Gäste.


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