Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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25

Am zweitfolgenden Nachmittag gegen vier Uhr, während er gerade der Schreiberin einen Brief an Brigitte Hartmann diktierte, von der man ihm gesagt hatte, daß sie zweimal in der Kanzlei gewesen war ohne ihn zu treffen und sich sehr aufgeregt gebärdet hatte, brachte der Diener eine Karte. Er las: Luise Dercum. Erstaunt brach er das Diktat ab und schickte das Schreibfräulein hinaus.

In der Türe, die der Diener weit öffnete, erschien Luise im Nerzpelz, weiß behandschuht, gerötet von der Winterluft, eigentümlich strahlend. Mit den heftigen Schritten ging sie auf ihn zu und bat, seine Zeit eine halbe Stunde in Anspruch nehmen zu dürfen. Höflich bis zur Grandezza rückte Laudin einen Stuhl herbei. Er stehe ihr mit seiner ganzen Person zu Diensten. Ob sie sich nicht des Mantels entledigen wolle; es sei heiß im Zimmer; Advokaten müßten gut geheizt haben, sie litten an Kälte mehr als andre Menschen.

Sie streifte den Mantel ab, ließ ihn hinter sich auf den Stuhl fallen. Sie trug ein dunkelgraues Straßenkleid; die Farbe verlieh ihrer Erscheinung einen neuen Reiz von Vornehmheit. Der Mund war ungeschminkt.

Trotz der Eleganz, die um eine Schattierung zu neu war, um völlig legitim zu wirken, war ein Etwas an ihr, unbezeichenbar und für einen Beobachter wie Laudin ebensowenig zu übersehen, wodurch sie eher einem verkleideten Knaben glich denn einer Dame. Es lag nicht am Kostüm, es lag am Auftreten, an der Raschheit der Bewegung, der Schmalheit der Figur und einer gewissen geistigen Unverschleiertheit des Gesichts.

Ihre Haltung war gänzlich verschieden von der, die sie Laudin gezeigt hatte, als er bei ihr gewesen war. Es ist zweierlei, ob jemand zu einem kommt und etwas begehrt oder ob man zu ihm kommt und etwas begehrt. Von diesem Unterschied hatte sie offenbar einen ganz genauen Begriff und versuchte auch nicht, ihn zu vertuschen.

Sie redete auch nicht lang herum. Der Grund ihres Kommens sei einfach. Seine Person habe ihr Vertrauen eingeflößt. Sie gehöre zu der Sorte Menschen, bei denen empfangene Eindrücke tagelang brauchten, um ins Bewußtsein zu gelangen. Sei sie auch intelligent, so sei sie doch im Urteil langsam wie eine Bäuerin. Ob er sich ihrer Sache annehmen könne; es handle sich um ihre Ehe mit dem Schauspieler Keller. Eine trübe, unerfreuliche, quälende Angelegenheit.

Laudin bemerkte, seines Wissens sei die Ehe in Berlin geschlossen, in Berlin auch geführt worden. Diese seine Kenntnis, schaltete er entschuldigend ein, beruhe auf dem Ruhm des Namens Luise Dercum. Allenfallsige rechtliche Maßnahmen müßten daher, zumal der Gatte noch dort wohne, in jener Stadt anhängig und zum Austrag gebracht werden. So sei es also kaum vermeidlich, daß sie sich einen dortigen Advokaten bestelle.

Sie sagte hastig und schüttelte die Hand dabei: »Ich habe einen Anwalt. Ich habe drei Anwälte. Lauter Idioten. Verzeihung. Aber die Leute vom Fach bringen einen schon dadurch zur Verzweiflung, daß sie immerfort Schritt für Schritt gehn und keiner den Mut hat, mal einen Sprung zu machen. Mit solchen Menschen kann man nicht leben, und man kann auch nicht mit ihnen arbeiten. Auch in einem Buch überschlag ich die Seiten, die mich langweilen, Sie nicht?«

»Auf Langeweile ist mein Beruf gestellt. Sie sind sehr ungestüm, gnädige Frau,« sagte Laudin nachsichtig.

»Das bin ich,« gab sie zu. »Ich will mich aber nicht von Ihnen abspeisen lassen, Herr Doktor Laudin. Kann ich Ihre Hilfe nicht haben, so geben Sie mir wenigstens Ihren Rat. Setzen Sie mir meinen guten Instinkt nicht ins Unrecht, der in Ihnen einen Mann und einen Menschen gewittert hat. Ich kann dabei nicht in den Verdacht kommen, zu schmeicheln. Meine Freunde nennen mich: Lu, der Widerhaken. Ebenso wahr ist, daß ich enthusiastisch anerkenne, wo ich auf Überlegenheit, Herz und Geist stoße. Aber ich muß darauf stoßen; verstehen Sie?« Sie lachte. Sie bog den Kopf zurück, und er sah den schlanken braunen Hals wie vorgestern. Es war angenehm, sie lachen zu hören. Es war wie eine reizende Überraschung.

Laudin dankte stumm, da er Grund hatte, sich als Gegenstand ihrer »enthusiastischen Anerkennung« zu fühlen. Eine Geste forderte sie auf, zu erzählen. Er bot ihr eine Zigarette an. Während sie rauchte, erzählte sie. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, den Körper vorgebeugt; eine zutrauliche Haltung; zutraulich und offen war der Blick.

Sie habe Arnold Keller geheiratet, um sich vor den erbitterten Nachstellungen eines andern Mannes zu schützen, der aber kurz darauf im Luftfahrzeug verunglückt sei. Sie sei damals erfahrungslos gewesen wie ein Kind. Man habe sie vor Keller gewarnt; sie habe der Warnung nicht geachtet. Er habe sie unmäßig amüsiert; er sei so beispiellos komisch gewesen, daß sie sich vorgestellt habe, mit ihm zu leben müßte ein ununterbrochenes Vergnügen sein. Außerdem habe sie nicht den leisesten Begriff von Selbstverantwortung gehabt; heiraten habe ihr nicht mehr bedeutet als eine gemeinsame Kasse für die Gage und die Möglichkeit, sich bei jemand zu beschweren, wenn der Inspizient oder der Regisseur unverschämt wurden. Mit dem Wort Leichtsinn könne das nicht erledigt werden; es sei was ganz anderes; sei erst zu verstehen, wenn man eine Jugend wie die ihre kenne; sie wolle ihm einmal bei Gelegenheit ihre Kindheit, ihre Jugend schildern; aus ungeheuer Schwerem sei Leichtes emporgestiegen; o ja; aus schmutzigem Spülicht die Seifenblase; aber die schöne Kugel spürt ihre Zerbrechlichkeit, und während sie mit Farben prunkt, wartet sie aufs Ende. So viel vom Leichtsinn.

Sie warf die Zigarette weg. Sie lächelte und hob sich elastisch aus dem Rumpf.

Arnold Keller entpuppte sich als manischer Eifersüchtiger. Es zeigte sich, daß seine ganze Veranlagung auf Wahn gestellt war, Wahn in allen möglichen Formen. Seine Komik sogar war ein Ergebnis des Nichtigkeitswahns. »Das geht so zu: er hat derartige Angst, sich selber zu begegnen, daß er fortwährend grimassiert und sich verzerrt, damit er sich nicht erkennt.« Luise hat unsagbar Merkwürdiges beobachtet: komische Talente sind die bedauernswertesten Geschöpfe der Erde; sie dürfen sich niemals selber begegnen. Hielt sie damit nicht Gericht über den Schauspieler überhaupt? Das entging ihr jedenfalls.

Ahnt Doktor Laudin, was für ein Martyrium sie erlitten hat? Man muß, wie sie es tut, zu seinem Schicksal wie zu einem Lotteriespiel stehen, um sich davon erholen und es vergessen zu können. Nun, vergessen kann sie, Gott sei Dank. An jedem Morgen wird sie frisch geboren, vom alten Tag geboren, und der alte Tag stirbt.

Sie zündete eine andre Zigarette an. Es war fesselnd für Laudin, ihre Gebärden zu verfolgen. Es war spannend, von einem Satz auf den andern zu warten. Die deutsche Sprache war plötzlich wie ein Strauß wilder Blumen.

Ist Eifersucht eine Krankheit, so zermalmt sie den, der ihr den Vorwand liefern muß; also die Frau. So ein Individuum hat Augen und Ohren nur für seine Halluzinationen. Späht, horcht, sucht, schleicht und rast. Zärtlichkeit und Wut mischen sich ineinander. Er reißt einen aus dem Schlaf, weil er glaubt, daß man vom Nebenbuhler träumt. Er zertrümmert Fensterscheiben, weil der Briefträger einen Brief gebracht hat, und stürzt dann auf die Knie und heult, wenn man ihm zeigt, daß es eine Schusterrechnung ist. Er führt sich auf wie ein toll gewordener Hund, wenn man im Restaurant die Leute betrachtet. Tobsucht, Mißhandlung, Abbitten, Schwüre, das ist die Regel und der Ablauf der Tage. Es graut ihm zuletzt vor sich selber; er greift zum Kokain. Da aber bricht die wahre Hölle aus. Das zweite Laster paart sich mit dem ersten zu diabolischer Stattlichkeit. Wenn es so weitergeht, bleibt von Lu nichts übrig als ein wimmernder Haufen Knochen. Sie erreicht, daß man ihn in eine Anstalt bringt. Nach drei Jahren. Aber damit ist sie ihn nicht los; bewahre. Scheinbare Heilung kann ihm jeden Tag die Freiheit wiedergeben, und sie hat ihn neuerdings auf dem Hals. Sie darf also nicht einmal aufatmen, solang sie ihn hinter Schloß und Riegel weiß. Kaum daß er von ihr weg war, hatte sie die ersten großen Erfolge, wie wenn sie durch seine teuflische Nähe in Ketten gelegen wäre. Natürlich heißt es jetzt, sie hätte ihn einsperren lassen; der gelbe Neid kauft sich ein paar Zeitungsschmierer und macht eine Megäre aus ihr, weil sie einen Verrückten dort wissen will, wo er hingehört. Ist er aber dort, wo er hingehört, so kann sie sich von ihm nicht scheiden lassen, weil ein wunderbares Gesetz es nicht erlaubt. Ist er nicht mehr dort, so wird die Scheidung erst recht illusorisch, weil er sie nicht loslassen wird und niemand ihn dazu zwingen kann. Erquickliche Lage. »Was ist da zu tun, Herr Doktor Laudin?«

Laudin schweigt. Er ist gewohnt, was man ihm berichtet, in seinem Kopf zu ordnen und die Argumente sorgsam zu wägen. »Vielleicht könnte man dem Mann eine hohe Abfindung bieten,« sagte er mit zusammengelegten Fingerspitzen.

»Er macht sich nichts aus Geld. Er ist ein Spartaner.«

»Ich werde nachdenken, gnädige Frau. Ich werde mich mit einem Berliner Kollegen in Verbindung setzen.«

»Tun Sie das nicht,« sagte Luise Dercum hastig und stand auf; »ich möchte in diesem Moment nach außen hin keinen Schritt tun. Ich möchte in den Hexenkessel dort nicht greifen. Er kocht noch zu sehr. An einer juristischen Aktion liegt mir im Augenblick nichts. Ich wollte von Ihnen erfahren, rein theoretisch, ob man in einem solchen Fall nicht Gerechtigkeit erlangen kann. Oder bin ich verurteilt, das wütende Tier bis an mein Lebensende auf meinem Rücken herumzuschleppen? Ist es das, wozu mich eure Gesetze verdammen?«

Sie blickte ihn fordernd an, voll Hohn und Verachtung. Er schlug die Augen nieder, als ob er, Friedrich Laudin selbst, vor ihr unzulänglich sei. »Gerechtigkeit,« erwiderte er achselzuckend, »die dürfen Sie bei mir nicht suchen. Ich kann Sie höchstens mit einer dürftigen Lampe durch finstere Winkelgassen führen, damit Sie unterwegs nicht in Gruben und Schächte stürzen.«

»Und das wäre alles?«

»Beinahe alles.«

»Und dabei können Sie sich beruhigen?«

»Es bleibt mir nichts anderes übrig.«

»Grauenhaft.«

»Darüber wäre manches zu sagen, gnädige Frau.«

Er half ihr in den Mantel. Sie schien nachdenklich. Schon gegen die Tür gewendet, kehrte sie sich zu ihm und fragte, wie wenn es ihr plötzlich einfiele: »Sind Sie nicht auch der Anwalt der Frau Altacher?«

Er bejahte.

»Gern hätte ich über diese Angelegenheit noch ein paar Worte mit Ihnen gesprochen. Aber ich weiß nicht, ob es schicklich ist oder ob Sie es für schicklich erachten. Außerdem fürchte ich, Sie schon zu lange behelligt zu haben . . .«

»Ich bitte, gnädige Frau,« sagte Laudin etwas reserviert und bot ihr von neuem Platz.

Doch sie blieb stehen. Sie schaute ihn forschend an, und ein rätselvolles Lächeln kräuselte die ausdruckserfahrenen Lippen. »Auch hier möchte ich die Gerechtigkeit anrufen, wenn man mir meinen Vorwitz nicht bereits verwiesen hätte,« sagte sie; »stünd ich jetzt einem Freund gegenüber, Herr Doktor Laudin, wäre dieser berühmte und kluge Doktor Laudin mein Freund und nicht der unnahbare Beherrscher einer Kanzlei mit Gott weiß welchen Rücksichten und Gebundenheiten, so würde ich zu ihm sprechen: drehn Sie einmal eine Stunde lang dem Bild, das man Ihnen vor die Augen geschoben hat, den Rücken und lassen Sie sich, unparteiisch, die andere Seite der Medaille zeigen. Das wäre doch immerhin interessant; denken Sie nicht?«

»Ich verstehe nicht ganz, gnädige Frau . . .«

»Nun, um deutlich zu sein: Frau Konstanze hat ja eine Art Anklageschrift verfertigt. Ich habe mich damit keines Geheimnisses bemächtigt, denn sie hat es nicht nur selbst überall erzählt, sondern das Manuskript ist unter ihren Bekannten von Hand zu Hand gegangen. Ohne davon zu wissen, nur aus seinem Bedürfnis heraus, hat auch der Konsul ein Memorandum abgefaßt, einen kleinen Rückblick über die Ehejahre und die Erlebnisse, die mit seiner Ehe zusammenhängen. Diese Schrift besitzt mein Freund Ernevoldt. Diese Schrift wünschte ich, daß Sie lesen oder hören. Es ist der Mühe wert. Ernevoldt treibt selbstverständlich keine Propaganda mit ihr, aber wenn ich ihn bitte, und besonders um Ihretwillen bitte, wird er nicht zögern, sie uns zu überlassen, wird es sogar gern tun. Was halten Sie von dem Vorschlag?«

»Da es Ihr Wunsch ist, gnädige Frau, und da mich die Erfüllung vermutlich nach keiner Richtung binden oder verpflichten soll, stehe ich zu Befehl.«

»Das ist hübsch von Ihnen, obschon es vorsichtig genug formuliert ist. Nein, keine Angst; der heilige Tempelkreis wird nicht betreten. Mich lockt die Replik. In jedem Drama lockt mich die Replik. Mich verlangt zu wissen, was Sie als Mensch und als Jurist dazu sagen. Ich bin ein neugieriges Frauenzimmer; es reizt mich manchmal, die Schale zu zerbrechen und die Frucht herauszuholen. Ist es Ihnen möglich, morgen abend nach dem Theater bei mir zu sein, um halb elf etwa?«

Laudin versprach es.

Als er wieder allein war, sah er beinahe aus wie jemand, dem der Wind den Hut fortgeweht hat.


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