Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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18

Er hatte Pia wissen lassen, er käme abends nicht nach Hause. In einer kleinen Kneipe, wo er schon vor zwanzig Jahren manchmal gegessen hatte, nahm er eine frugale Mahlzeit zu sich, dann fuhr er in die Vorstadt zu Fraundorfer.

Egyd Fraundorfer hatte seit dem Tage von Nikolaus' Selbstmord die Wohnung nicht mehr verlassen. Auch empfing er nur den Besuch Laudins; alle andern wurden abgewiesen. Dank der Tüchtigkeit der Frau Blum befanden sich die Zimmer in einem minder verwahrlosten Zustand. Es gab zwischen ihm und der neuen Hilfskraft nicht viele Unterredungen; Pauline Blum verrichtete schweigend ihre Geschäfte; Fraundorfer brummte hie und da, legte ihr aber keine Hindernisse in den Weg.

Er arbeitete oder gab vor, zu arbeiten. Als sich Laudin einmal danach erkundigte, sagte er, es sei ein altes Projekt, ein Lieblingsplan von ihm, eine Geschichte der menschlichen Dummheit. Als Laudin ihm trocken bemerklich machte, daß dazu die ihm noch bemessene Lebensfrist nicht ausreichen dürfte, räumte er es lachend ein, wollte aber gerade in der Fülle des Materials einen Milderungsgrund für sein verwegenes Vorhaben erblicken. Ein einzelner könne des Stoffes gar nicht Herr werden, da müßten viele ans Werk gehen, ein ganzer Areopag von sublimen Geistern. Etwas Ähnliches habe ja auch dem Franzosen Flaubert vorgeschwebt; allerdings sei er nicht zu Rande damit gekommen und habe sich unverrichteter Dinge ins Grab legen müssen. Schade. Er seinerseits habe schon seit Jahrzehnten alle Gedanken auf das monstrose Opus gerichtet und seine Notizenhefte seien angeschwollen wie Frühlingsbäche.

Als Laudin eintrat, war er beschäftigt, Grog zu brauen. Er trug einen grünen, verschossenen Spenzer, der um den Leib mit einem Ledergürtel zusammengehalten war. Die Farbe seines Haares hatte sich etwas verändert. Es war nicht grau geworden; es sah aus wie Heu, graugrün. Er stieß eine seltsame kurze Begrüßungslache aus beim Anblick des Freundes und reichte ihm zwei Finger der riesigen Hand. Dann schaute er wieder, schweigend wie vorher, in den Kessel auf dem Spirituskocher. Laudin griff nach einem Buch, setzte sich auf die andere Seite des Tisches und las. Es war eine religionsphilosophische Abhandlung. An den Rändern der Seiten standen, mit Bleistift geschrieben, Fraundorfers Marginalien: Blödsinn, verworfener Narr, hirnverbrannter Schwätzer, unbeweisbarer Kohl, dumme Sau, und dergleichen Invektiven mehr.

Der Grog war fertig; vor jedem stand ein volles Glas; Fraundorfer zündete den Stummel einer Zigarre an, sah nach den Fenstern und brummte: »Es schneit Hühnerfüße, wie mir scheint.«

»Ja, es schneit,« sagte Laudin und legte das Buch weg.

Das mit der Brandnarbe müsse man eigentlich doch ergründen, fuhr Fraundorfer im gleichen Ton fort und schlürfte an seinem Glas; die Sache gehe ihm nicht aus dem Kopf, als ob einem ein Schiefer in der Haut stecke; es sei wie eine Mahnung an etwas Unerledigtes. Er hätte wohl die Dercum einmal aufsuchen sollen, sich von ihr berichten lassen sollen, doch widre ihn jeder Schritt, den er auf die Straße tun solle; schließlich hätte man auch erwarten dürfen, daß sie mal zu ihm käme; hätte sich vielleicht so gehört, wäre nett gewesen von ihr, eine anständige Geste; aber möglich, daß sie ihre Hemmungen habe; wäre nicht zu verwundern; ein bißchen böses Gewissen; wäre nicht zu verwundern; besser am Ende, daß sie nicht erschienen sei; was wäre dabei herausgekommen? Komödiespiel. Er wolle lieber nichts hören; er bemühe sich mit Erfolg, nicht mehr daran zu denken.

Laudin sagte: »Ich hatte mir vorgenommen, Fräulein Dercum zu besuchen. Ich werde ihr schreiben und sie bitten, mich zu empfangen. Freilich hatte ich gedacht, daß du selbst . . . aber es wäre vielleicht keine erquickliche Begegnung. Keine Situation für dich. Ich werde ihr morgen ein paar Zeilen schicken. Ich bin nur so sehr überhäuft. In diesen Tagen ist die ganze Hölle losgelassen.«

»Ja, geh nur hin,« erwiderte Fraundorfer und setzte eine neue Zigarre in Brand; »geh nur und erstatte mir dann Rapport, wie es mit der Wahrheit und Unschuld steht.« Er meckerte. Er zog die Tischlade auf; darin lag das Bild der Schauspielerin, das er neulich gezeigt, mitten unter Rechnungen, Briefen und Geldscheinen. Er warf es Laudin zu. »Nimm dirs,« sagte er mit mühsam verhehltem Ingrimm, »da hast du gleich eine Legitimation.«

Laudin betrachtete das Bild. Der Ausdruck seines Gesichts wurde wieder ebenso weichsinnend wie an dem Tag, wo er es zum erstenmal gesehen. »Es liegt ja nahe, an Irreführung und Selbsttäuschung zu denken,« sprach er vor sich hin, »aber die Illusion allein bereitet einem Freude. Ein Menschengesicht, was kann das doch sein! Und mit was für Larven müssen wir uns begnügen. Jeden Abend, wenn ich aus der Kanzlei gehe, möchte ich mir mit einem scharfen Ätzmittel den Körper abreiben; möchte mir die Augen baden und die Hände schrubben.«

»Du bist ein Dyskolos geworden,« brummte Fraundorfer; »warst du nicht einmal ein Eukolos

»Mag sein,« gab Laudin zu; »Worte gibt es genug, um Zustände zu kennzeichnen.« Er ging zum Sofa, ließ sich dort nieder, den Kopf in die Hand stützend. Lange Zeit blickte er vor sich hin; Wangen und Stirnmuskeln waren seltsam zusammengekrampft. »Ich will dir einen Traum erzählen,« begann er mit verdeckt er Stimme; »er schließt sich eigentlich an das Gespräch an, das wir letzten Sonntag hatten. Ich hatte den Traum schon damals gehabt. Nur wußt ich nicht . . . ich war mir nicht recht klar über seine Beschaffenheit. Es kommt vor, daß man sich Träume nur einbildet, daß man sie dichtet oder umlügt. Nun hat sich aber derselbe Traum wiederholt; ich glaube nicht, daß ich etwas dazuerfunden habe, wie er mir jetzt vor der Erinnerung steht. Es war so. Ich wache auf. Jemand steht an meinem Bett, ein Messer in der erhobenen Faust. Indem ich es wahrnehme, schlafe ich wieder ein, und im Schlaf entspinnt sich zwischen mir und dem Menschen eine lebhafte Debatte. Ich bemühe mich, ihm zu beweisen, daß es ihm keinen Vorteil bringt, mich zu töten; ich hätte weder Geld noch Juwelen im Haus (was doch eine Unwahrheit war), und welche Absicht könne er sonst haben? Schaden könne ich ihm nicht, auch stünd ich ihm in keiner Weise im Weg. Er schüttelt aber nur den Kopf oder zuckt höhnisch die Achseln. Sein Gesicht kann ich nicht unterscheiden, es ist zu finster im Zimmer, doch das Messer seh ich beständig auf mich gerichtet. Ich wache wieder auf und immer wieder auf; bei jedem Erwachen quält mich die Frage, erstens, ob er jetzt zustoßen wird, zweitens, ob er sich noch im Zimmer befindet, drittens, ob er überhaupt nur von mir geträumt ist. Jedesmal, wenn ich wieder einschlafe, fängt sogleich die heftige Debatte mit ihm von vorne an. Schließlich lieg ich mit offenen Augen, so dünkt mich wenigstens, und ersinne Argument um Argument gegen ihn, was ich geleistet, wie unentbehrlich ich meiner Familie bin, wie geachtet in meinem Beruf, aber da tritt er ganz nah zu mir heran, beugt sich über mich, daß ich seinen Atem spüre, und zu meinem unermeßlichen Schrecken seh ich, daß ich es selber bin. Was hat das zu bedeuten, sag mir? Was hältst du von solchem Traum? Du stöberst doch gern in den Schlupfwinkeln des menschlichen Hirns.«

Fraundorfer machte eine boshafte Grimasse. »Echter Advokatentraum,« sagte er; »Verhandlung, Plaidoyer, und alles geht aus wie das Hornberger Schießen. Du solltest Urlaub nehmen. Zuviel Aktenstaub im Magen.«

Laudin wußte offenbar, daß Fraundorfer zu ernsthaften Antworten erst zu bewegen war, wenn ihm der Alkohol zu Kopf zu steigen begann. Er schien keinen Wert darauf zu legen, daß jener antwortete, was er dachte und fühlte, und nicht, was ihm die sarkastisch verzerrende Laune eingab. Deshalb wurde es ihm nur diesem Menschen gegenüber leicht, von sich und seinen Bedrängnissen zu reden. »Advokatentraum; das wäre der wüsteste Traum von der Welt,« sagte er, sich hintüberlehnend und starr zur Decke blickend; »für den wären kaum Worte vorhanden. Seit ich einmal in einer Galerie das berühmte Bild von einem Hexensabbat gesehen habe, muß ich lächeln über die Einbildungskraft der Künstler, die es noch nicht fertiggebracht haben, daß ein normaler Mensch wie ich bei ihren Erfindungen schaudert. Das als nüchtern und platt verschriene Leben kennt ganz andere Offenbarungen. Es überbietet an Frechheit und Düsterkeit die Phantasie von Wahnsinnigen und Epileptikern. Ich stelle mir vor, daß in meinem Gehirn gewisse Nervenfasern sind, auf die nur ein Erinnerungshammer zu pochen braucht, und ich bin automatisch in eine Welt versetzt, wo es keine Hoffnung mehr gibt. Advokatentraum!«

Er redete weiter, indes Fraundorfer frisches Wasser aufstellte. Er entfaltete sie ein wenig für sich, entrollte sie wie einen Bilderbogen, diese Welt, in der es keine Hoffnung mehr gab. Es mußten Erregungen von langer Herkunft sein, durch viele unterirdische Röhren geronnen, denn alles klang fertig und abgemacht, bloß endlich in den Laut übertragen. In seiner Sprache ein Resumé; eine bitter-ironische Überschau: ihr sehet, Mitbürger und Freunde, was ich treibe und wozu es frommt; einmal muß es heraus; ihr könnt euch ja abwenden und die Ohren zuhalten; es ist nicht wesentlich, daß ihr Ja oder Nein darauf sagt oder sonstwie Stellung dazu nehmt. In dieses Mannes Seele mußten Gärungen stattgefunden haben, deren Ausmaß und Tragweite ihm selber noch unbekannt waren. Das Sonderbarste war, daß er plötzlich aufstand, zu dem kleinen Rasierspiegel schritt, der neben dem Fenster hing, sein Gesicht anschaute, ein bißchen vor sich hinlachte und sich hierauf wieder in die vorige Lage auf dem Sofa begab.

Er fuhr fort, ohne von dem über seinem Grog brütenden Fraundorfer ein einziges Mal unterbrochen zu werden. Es entsteht ein al fresco hingeworfenes Gemälde, auf dem die Figuren einen unentwirrbaren Knäuel bilden. Sie haben keine Namen; sie haben dafür Betätigungen, Ämter, Missionen und unterschiedliche Schicksale. Es sind Kaufleute, Richter, Ärzte, Funktionäre, Kleinbürger, Handwerker, Literaten und Frauen aller Art, jeden Alters, jeden Standes. Gegen den Hintergrund verliert sich die Menge der Gestalten im Nebel; es bleibt dem Erratungsvermögen überlassen, was sich dort, außerhalb des Gesichtsfeldes, noch begibt.

Die Gesichter sind zerrissen von einer bestimmten Gier. Die Lippen sind schlaff von nutzlos gesprochenen Worten. Die einen wollen nicht voneinander lassen, die andern fliehen voreinander angstvoll und feindselig. Manche schreien und können nicht verstanden werden, manche flüstern und fürchten verstanden zu werden. Diese lechzen nach ihrem Recht, jene triumphieren im Bewußtsein der Vergewaltigung des Rechts. Keinem ist genug geschehen. Die einen stürzen, die andern toben weiter. Es wird wie im Kino. Geschlechter auf Geschlechter rasen vorüber. Einanderhaschen, Einanderhalten, Voneinanderlösen und erbarmungslose Jagd, Jagd zum Zweck der Vernichtung oder zum Zweck der Beute. Wer eben noch Sieger war, gleich darauf ist er Opfer; wo eben noch Zärtlichkeit und Wollust geherrscht, jetzt gewahrt ihr Haß und Ekel. Es hat nichts weiter auf sich, oft ist es nur ein Wechsel der Beleuchtung, der den Sinn des Bildes ändert. Im Grunde weiß keiner, was ihm dient und was er soll. Wer es eine Titanenschlacht heißt, dem beliebt es, Zwerge in übernatürlichen Dimensionen zu sehen. Richterspruch ist Zufall, Entscheidung Gunst oder Formel. Kein Leben dahinter; kein Genius; keine Flamme der Erneuerung. Es ist wie eine Schusterwerkstatt, wo seit tausend Jahren auf die nämliche Manier Schuhe fabriziert werden. Arbeit ein Vorwand zum Nichtstun, Bedürfnis ein Vorwand zur Despotie des Apparats.

Was ihr hört, sind immer dieselben Worte. Sie haben fünf- bis sechshundert Vokabeln, mit denen bestreiten sie Forderung und Übergriff, Rechtfertigung und Abwehr, Reue und Bekenntnis, Vorwurf und Verdächtigung, Wahrheit und Lüge und den gesamten täglichen Umgang. Es ist unbeschreiblich lächerlich; ein Stammeln von ewig wiederkehrenden Floskeln, als ob ihre Hirnrinde aus Zeitungspapier bestünde. Ohne ihrer Armseligkeit inne zu werden, kleben sie auf das schmerzlichste, das tiefste Erlebnis die nichtssagendste Phrase; keiner kann sein Wesen ausdrücken, jeder muß ächzend die Scherben davon zusammenklauben, damit er nur notdürftig als Person erscheint und als Charakter gelten kann. Paar um Paar umfängt sich, Paar um Paar zerfleischt sich, immer mit denselben fünf- bis sechshundert Vokabeln, Exkrementen des Geistes. So wird alles ein Radebrechen von Verkrüppelten und trauriges Gestotter von Halbstummen, und wenn man den Übeltätern auf die Finger sieht, verstehen sie nicht einmal ihr Geschäft. Strafe, Sühne, Ausgleich, Gerechtigkeit: alles nur Mühle, die nicht mahlt, Feuer aus farbigem Papier, mit Redensarten ausgestopfter Popanz.

Er hat, vor kurzem erst, die Sache einer Ehefrau gegen ihren Mann geführt. Dieser, ein roher Emporkömmling, von Macht und Besitz geschwellter, schwacher und sinnlicher Provinztyrann, hat sich in eine Kokotte verliebt und Frau und Kinder einfach dem Elend überlassen. Während er mit dem Frauenzimmer sein Vermögen verpraßt, haben die Seinen nicht satt zu essen, und nicht genug damit, strengt er die Scheidungsklage gegen die Frau an, aus irgendwelchen Gründen, gleichviel welchen. Die Klage hat wenig Aussicht, die Frau verweigert die gütliche Trennung; typisches Verhalten. Er wird brutal, bedroht sie, mißhandelt sie, streut Verleumdungen gegen sie aus, kommt zu allen Stunden der Nacht lärmend und tobend ins Haus, und es gibt Auftritte, daß das Dienstmädchen zur Gendarmerie rennt und die Kinder vor dem Vater niederknien und ihn anflehen, die Mutter zu schonen. Doch das Schlimmste ist, daß die Familie Mangel leidet am Nötigsten und daß keine Gewalt der Erde den Mann dazu verhalten kann, seine Verpflichtungen zu erfüllen; mit Hilfe seines Anwalts findet er gegen jedes Verdikt eine Ausflucht. Da hat Laudin eine Zusammenkunft mit ihm in Gegenwart jenes Anwalts. Und von diesem Mann, dem Fachgenossen, spricht er. Er hat ihn vorher nicht gekannt. Es ist einer von jenen ruchlos Begabten, die den Beruf und Dienst des Advokaten zu einem Würfelspiel erniedrigt haben, bei dem der Einsatz die Verstecktheit zweideutiger und zweifelhafter Paragraphen und ihre Auffindung ist; vollkommene Meister in der Kunst des Zeitgewinnens, des Hinhaltens und der gewundenen Schriftsätze, verfechten sie vermeintliches und erschlichenes Recht mit mehr Nachdruck und Leidenschaft als der Gegner, wer er auch sei, die makelloseste Sache. Laudin begegnet ihm also, verhandelt mit ihm, und nach Verlauf einer Viertelstunde gibt er sich innerlich vollständig geschlagen. Ja, das Gefühl seiner Machtlosigkeit wendet sich in eine finstere Bewunderung; so müßte man sein, denkt er sich, so müßte man die Dinge betrachten, so die Wahrheit zur Lüge verkehren, jede Schändlichkeit mit einer früher sanktionierten Schändlichkeit decken, dann wäre man ganz, dann müßte man nicht Herzblut zusetzen und wäre gegen Himmel und Hölle gefeit. Alles andere, gesteht er sich, ist Stümperei. Was soll ihm Gewissen, Anstand, Redlichkeit, Menschengefühl und sittliches Gebot, was soll ihm das, wenn jener schließlich triumphiert? Und das wird er; vor ihm ist Laudin bloß ein trauriger Hanswurst, weil er mit Waffen kämpft, die ihm, dem andern, nicht einmal die Haut ritzen.

Und hier (schlief Egyd Fraundorfer oder war er nur vorübergehend unter die Oberfläche des Bewußtseins versunken?) an diesem Punkt wurde Laudin erregter als er es vielleicht seit langen Jahren gewesen, und er fragte, weshalb man denn nicht der andere werden konnte? Der Widerpart seiner selbst, wenn man schon nicht die Vollendung seiner selbst oder die Erhebung über sich selbst zu erreichen vermochte? Abwerfen den alten, müden, verbrauchten Menschen, neu werden, neu sein. Aus sich selber heraus gleichsam verschwinden, sich selber gleichsam neu gebären. Auch ein Advokatentraum, Fraundorfer? Doch Fraundorfer ist stumm. Es scheint, daß er den Freund nicht mehr begreift oder ihm nicht mehr folgen will.

Laudin ist sich allein überlassen. Er steht auf und geht hin und her. Sein Auge flackert, sein Körper taumelt fast. Er hat eine gewisse Klarheit über sich erlangt. Er hat plötzlich und unter Qualen die Trägheit überwunden, die einen Mann in seinem Gleis verharren läßt und zu freiwilliger Blindheit bringt. Er spricht folgendes aus: »Wer bin ich eigentlich und was? Ein Mann, der das Gebundene löst. Ein Mann, dessen Amt und Erwerb es ist, die Reifen von einem morschen Faß zu schlagen. Zerstörer von Berufs wegen, Zertrümmerer aus Gewohnheit und Routine und unter dem Schutz der Öffentlichkeit und der Gesetze. Ich bin also schon der Widerpart von mir. Kein Wunder, daß ich der Mann mit dem Messer vor meinem eigenen Bett bin. Es hat keinen Sinn, den Selbstbetrug fortzusetzen, keinen Sinn, sich um die klipp und klare Tatsache herumzuschwindeln. Entweder Staatsbürger, Berufssklave, Zugochse, Familienvater und Gatte, oder . . .«

Ja was: oder? was für ein Oder, Friedrich Laudin? Da gehts nicht um Zollbreite weiter. Nach dem Oder stürzt der Boden unter den Füßen ein. Noch ein Schritt, und du weißt nicht mehr, was mit dir geschieht.

Bei den letzten Worten hatte Fraundorfer emporgeblickt und schielte nun mißmutig zu Laudin hinüber. »Die Entweder-Oder-Leute sind die fatalsten, die ich kenne,« murrte er; »gewöhnlich voltigieren sie auf dem Gedankenstrich dazwischen. Sag, was du willst, du bist deiner Natur nach ein verbindlicher Mensch, und das Entweder-Oder liegt dir nicht. Zugochse? Freilich, freilich; zieh nur. Wenn bloß die Honorar- und Expensennoten gesalzen sind, das andere tut nichts zur Sache. Ich wünschte, ich hätte auch solche Hörner, um die Kundschaft in Respekt zu setzen. Und was du auf dem Karren zu ziehen hast, ist immerhin eine sehr achtbare Versammlung.«

Laudin stand neben ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Halt!« sagte er. Und als Fraundorfer mürrisch fragend emporschaute: »Daran rühr mir nicht. Und nimm mich nicht beim Buchstaben. Es handelt sich da um Dinge, die außerhalb der Liebe stehen, außerhalb der gewohnten Pflicht, vielleicht außerhalb der bürgerlichen Ehre sogar –«

»Aha, um die protokollierte Firma Wahrheit und Unschuld vielleicht, Gesellschaft mit unbeschränkter Haftpflicht?« warf Fraundorfer zynisch ein; »wer weiß, ob die Leute zahlungsfähig sind.«

Doch Laudin fuhr fort: »Da die Formen unserer Existenz so unübersehbar reich sind, muß sich auch ein schematisierender Geist wie deiner eine Beziehung erdenken können, die wie gesagt so außerhalb liegt, daß es schon wie Vermessenheit klingt, an ihr zu makeln. Frage hundert Leute in dieser Stadt nach der Laudinschen Ehe, und sie werden dir antworten: eine bessere Ehe kennen wir nicht. Leute von Einblick und Erfahrung, hochgesinnte Leute, gerecht empfindende. Sollt ich sie Lügen strafen? Bin ich in der Lage dazu? Sind sie denn im Irrtum, diese Leute? Nie hat es einen Zank zwischen mir und Pia gegeben; nie auch nur eine ernstliche Reibung. Sie ist schlechthin das Muster einer Gattin. Sie vergißt nicht eine Stunde, nicht einen Augenblick, was sie dem Mann an Rücksicht schuldet, an Obsorge, an aller möglichen Schonung und Ergebenheit. Aber siehst du . . . nun, wie soll man das begreiflich machen. Es ist so ungeheuer delikat, so ungeheuer schmerzlich zu gleicher Zeit. So geworden; natürlich, so geworden. Natürlich ist immer alles so geworden. Man tut fast nichts dazu. Das Leben fließt in den Charakter hinein wie das Wasser in ein Becken. Ich habe Pia angebetet. Sie war mir ein höheres Wesen. Man mußte sie fernhalten von der Gewöhnlichkeit und Niedrigkeit des Alltags. Man mußte sie gleichsam über die Pfützen hinübertragen. Das bleibt. Man hat die Frau beständig auf dem Arm und trägt sie über die Pfützen hinüber. Die anbetende Haltung wird zum Petrefakt. Nimmst du dir einen Gefährten mit auf deinen Weg, dem du von Anfang an einredest, daß er sich die Schuhe um keinen Preis schmutzig machen darf, so kannst du dich auch nicht beklagen, wenn er sich auf deine Muskelkraft verläßt. Und so wird alles, was man schafft und kämpft, zur Selbstverständlichkeit. Sie merkt nicht, daß du atemlos wirst; sie ahnt nicht, daß dein Arm erlahmt; selbstverständlich, daß er sich müht; selbstverständlich, daß er das Hauswesen erhält, alle Wünsche befriedigt, allen Aufwand bestreitet; selbstverständlich seine Konflikte, seine Verstimmung; auch sie hat ja ihre Konflikte, ihre Verstimmungen; auch sie verschließt ihre Sorge vor ihm. Aber eines Tages steht man da und fragt sich: wie soll das weitergehn? Kein Schwung mehr; kein Aufrütteln; kein Nachfolgen oder Begleiten; kein gemeinsames Wegesuchen; nur noch Selbstverständlichkeit und friedliche Arbeitsteilung. Du draußen in der Welt, ich drinnen im Haus. Wär man ein Schlosser und käme mal mit zerquetschten Fingern heim, ja dann. So entsteht das friedliche Glück einer sechzehnjährigen Ehe, und das Leben wird wie ein Topf mit geronnener Milch, sauer und dick, drin du ersäufst wie eine Fliege, ohne Rausch, ganz nüchtern.«

Fraundorfer lachte beifällig. »Ohne Rausch, das ist freilich böse,« sagte er.

Es entstand ein langes Schweigen. Auf dem Tisch lagen eine Menge Papierschnitzel von einem zerrissenen Brief. Laudin sammelte sie sorgsam, und es sah aus, als ob er sie zähle und gezählt auf einen Haufen legte. Währenddem kroch Herr Schmitt aus seinem Schlafkorb in der Ecke, trippelte zu Fraundorfers Stuhl, reckte die vier Pfoten und schaute mit einem klagenden Jaulen zu seinem Gebieter hinauf.

Fraundorfer beugte sich zu ihm. »Mein Kompliment, Herr Schmitt,« redete er ihn an; »Sie finden, daß man Sie auch einmal um Ihre Meinung fragen sollte. Ei ja. Sie haben sicher ein kompetenteres Urteil als die Zweibeinigen. Was sagen Sie? Die gewisse Stunde ist da, sagen Sie? Richtig, elf Uhr. Um elf Uhr pflegte unser junger Mann nach Hause zu kommen. Da haben wir uns immer gemeldet, da wir doch pünktlich und wachsam sind. Ei ja. Wie sollen wir uns auch das erklären, daß er nun den sechsten Tag nicht mehr erscheint? Was für eine Schlamperei, Herr Schmitt. Nun, nun, beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich. Wir werden eine zweibeinige Nachforschung nach seinem Verbleiben anstellen. Unser Freund da ist gewillt, sich der Sache anzunehmen, obwohl es in gewisser Hinsicht schon zu spät sein dürfte; er kennt sich in solchen Fällen aus, behauptet er. Ruhe, Herr Schmitt, Ruhe . . .«

Er ließ, mit ein paar unartikulierten Lauten, das Kinn auf die Brust sinken. Herr Schmitt hörte auf zu jaulen, begab sich zur Tür, schnupperte dort und legte sich hierauf neben die formlosen, in zerfransten Hausschuhen steckenden Füße Fraundorfers.

»Ja, hier wäre noch eine Aufgabe zu lösen,« sagte Laudin erschüttert und streckte Fraundorfer die Hand über den Tisch entgegen. Der nahm sie, langsam und ohne emporzuschauen.

Dann ging Laudin. Frau Blum leuchtete ihm bis in den Hausflur. »Die ganze Nacht sitzt er und trinkt,« sagte sie. »Bisweilen krächzt er, man weiß nicht, ists Weinen oder Lachen, bisweilen redet er mit dem Hund, und um fünf Uhr früh fängt er an zu schreiben.«


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