Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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22

»Ich möchte heute abend eine Viertelstunde mit dir reden,« sagte Marlene zu ihrem Vater; »hast du so lang Zeit für mich? bist du nicht zu müde dazu?«

Laudin schlang den Arm um die Schultern Marlenes und ging mit ihr in die Bibliothek. Relly sah ihnen neugierig nach, rümpfte die Nase und schmiegte sich in einem Zärtlichkeitsanfall, der demonstrativ war, ohne daß man die Richtung der Demonstration erkennen konnte, an ihre Mutter.

Marlene entschuldigte sich zunächst artig, daß sie es gewagt habe, die Abendgemütlichkeit des Vaters zu stören (diesem gewichtigen Wort gab sie einen leise ironischen Nebenton), aber sie wisse nicht, wie sie sich sonst seiner bemächtigen solle, und es sei eine ernsthafte Angelegenheit, wegen welcher sie seine Meinung hören möchte.

Ebenso artig und ebenfalls mit einem Beiklang von Ironie, so daß Vater und Tochter einander bei dieser Gelegenheit außerordentlich ähnlich wurden, versicherte Laudin, daß er ihr völlig zur Verfügung stehe; was sie ihm denn vorzutragen habe?

Marlene legte mit einer damenhaften Bemühung, zwanglos zu sein, Bein über Bein, doch minder damenhaft wirkte es, daß sie in jeder ihrer kleinen Hände einen ihrer langen Zöpfe hielt.

Ob der Vater erfahren habe, daß nun auch in ihrer Schule ein Selbstmord vorgefallen sei? begann sie das Gespräch. Laudin hatte nichts dergleichen vernommen. Marlene erzählte, eine ihrer Mitschülerinnen, Maria Fellner, habe sich vor drei Tagen mit Veronal vergiftet, das sie sich auf irgendeine Weise zu verschaffen gewußt. Gestern sei sie im Sanatorium gestorben. Natürlich habe auch dieser Fall, genau wie die Geschichte mit Nikolaus Fraundorfer, viel Gerede verursacht, zum größten Teil müßiges und albernes Gerede, doch was alle Mädchen am meisten beschäftigt habe, sei die anscheinende Grundlosigkeit der Tat. Maria sei das Kind reicher Eltern gewesen, habe es zu Hause ganz besonders gut gehabt und nie habe man an ihr Zeichen von Lebensüberdruß oder nur von Traurigkeit bemerkt. Nun habe sie jedoch eine Herzensfreundin unter den Schülerinnen gehabt, eine gewisse Berg, mit Vornamen auch Maria geheißen, und nach der habe die Selbstmörderin am letzten Tag immer wieder verlangt, so daß man sie zu ihr geführt habe. Die Maria Berg nun sei dabeigewesen, als die andere Maria, die Todkranke, zu ihrem Vater und ihrer Mutter, die weinend am Bett gestanden, folgendes gesagt habe: Ich konnte nicht weiter leben, weil ich mich zu sehr gefürchtet habe vor dem Leben; ihr habt mir nie gesagt, wie das Leben ist; ihr habt mir alles verschwiegen und alles rings um mich herum schön gemacht; ich habe aber aus den Zeitungen erfahren, wie scheußlich es in der Welt zugeht, wie grausam die Menschen gegeneinander handeln, und vieles andere, vieles, was ich gar nicht verstanden habe, was mir aber solches Herzweh gemacht hat, daß ich nicht mehr schlafen konnte; und wie meine Angst immer größer geworden ist, hab ich beschlossen zu sterben. »So hat es mir Maria Berg wörtlich berichtet,« sagte Marlene und sah dem Vater voll ins Gesicht.

»Sie war offenbar ein unglückliches Geschöpf, diese Maria Fellner,« sagte Laudin, »aber auch ein krankes. Gesunde Naturen setzen sich gegen die Welt zur Wehr wie angegriffene Tiere, ja sie finden Vergnügen am Kampf gegen Ungemach und Nachstellung. Solche Schwächlichkeit, oder wenn du willst Empfindlichkeit, wie sie das junge Mädchen bewiesen hat, ist eine häufige Erscheinung in unserer Zeit, so häufig wie Trunksucht oder Wahnsinn, so häufig auch wie Brutalität und Blutdurst, doch um so höhere Ansprüche werden an die Tüchtigen gestellt, mein Kind, um so mehr gilt es für die Starken und Mutigen, sich zu bewähren. Meinst du nicht?«

»Das ist wahr,« versetzte Marlene mit erhobener Stirn; »es werden höhere Ansprüche an die Tüchtigen gestellt; aber wie befriedigen sie die Ansprüche? womit? wie bewähren sich die Starken? wo sind die Mutigen? Ich möchte, daß du sie mir zeigst, daß du sie mir nennst. Du, Vater, ja. Ich weiß, daß du tüchtig und stark und mutig bist. Deshalb bin ich ja zu dir gekommen. Aber hast du die Überzeugung, daß du damit etwas ausrichtest? Ich meine, im ganzen, für die menschliche Gesellschaft. Ich meine, ob du das Gefühl hast, daß es besser wird dadurch, daß du so bist wie du bist?«

»Eine schwierige Frage, Kind,« sagte Laudin, beengt von Marlenes unerbittlicher Logik und innerlich vor ihr zurückweichend wie vor einer Stichflamme, »jeder von uns Berufsmenschen fährt auf einem Gleis, das er eigenmächtig nicht verlassen kann, zu einem Ziel, das er eigenmächtig nicht mehr bestimmen kann. Du berührst da eine wunde Stelle in unserer sozialen Ordnung. Wir wollen, doch das Wollen ist nur Schein. Wir sollen, aber das Sollen ist ein Muß. Wenige gelangen zu einer Höhe, wo ihr Sollen und Wollen sich verschwistert und ihr Müssen ein Herrenmüssen und nicht ein Knechtmüssen ist.«

»Das versteh ich gut, Vater, was du da gesagt hast, das versteh ich sehr gut,« antwortete Marlene freudig, vor allem deshalb freudig, weil sie einen lebendigen Widerhall ihrer Worte spürte, den zu finden sie vielleicht nicht erwartet hatte; »man kann aber doch die Dinge nicht laufen lassen; es kann sich doch nicht jeder auf seinem Gleis zufrieden geben, auf die Dauer doch nicht. Sonst wird ja alles schlimmer, und die jungen Menschen, die noch wenig vom praktischen Leben wissen, verzweifeln an den alten Menschen, die das praktische Leben regieren. Verzweiflung und Mißtrauen führen aber zu nichts, es sind negative Eigenschaften, darum hab ich mir gedacht –« Sie errötete und stockte.

»Nun, was hast du dir gedacht, Marlene?« ermutigte sie Laudin gütig, indem er sich zu ihr beugte.

Das war schwer zu formulieren. Ihre Lippen öffneten sich und schlossen sich wieder. Die Zöpfe lagen kreuzweis über der Brust. In der angenehmen Art, wie sie Satz an Satz gliedert, dringt allmählich der gärende Gedanke durch.

Sie weiß, daß es unbestimmt ist, was sie vorbringt, und noch keine festen Grenzen hat. Sie tappt herum und sucht feste Grenzen und festen Boden. Sie ist der Meinung, daß das ganze Bildungssystem, dem sie sich zu fügen hat, unergiebig ist. Sie glaubt nicht an die Schule, sie glaubt nicht an die Lehrer. Sie sagt sich allerdings, daß unter diesen Lehrern und Lehrerinnen bloß eine Persönlichkeit sein müßte, und der Glaube wäre da. Aber daran fehlt es eben. Möglicherweise, daß ihr deshalb auch das Gefühl der Genugtuung fehlt. Es ist etwas Leeres in ihr. Das Leere macht sie ungeduldig. Es ist ihr zumut als hätte man eine Tür vor ihrer Nase zugeschlagen, durch die sie unbedingt gehen muß. Doch wie? wer soll sie öffnen? wer hat den Schlüssel? Der Vater beherrscht einen so ungeheuren Lebensbezirk; sie hat sich eingebildet, daß er ihr helfen könnte. Vielleicht sollte sie kleine geringe Arbeit tun, Fenster putzen, nähen, kleine unscheinbare Hausarbeit? Vielleicht sollte sie in eine Fabrik gehen und ihr Brot verdienen? Was sie jetzt treibt, ist alles so rosenrot; so sonderbar wässerig. Sie verhehlt sich natürlich nicht, daß das mit der Fabrik ein wenig phantastisch ist und daß es tausend Gründe gibt, sie davon abzuhalten; es soll ja auch nur ein Beispiel sein. Jedenfalls fürchtet sie sich nicht. Sie ist keine Maria Fellner. Sie soll einmal Frau werden, sie soll Mutter werden; sie muß die Verantwortungen kennenlernen, die sie zu übernehmen hat; dazu kann es niemals zu früh sein. Mit den meisten ihrer Altersgenossen verhält es sich nicht anders. Sie wollen etwas Neues, etwas von Grund auf Neues. Sie wollen die Welt um jeden Preis glücklicher und besser machen, wenigstens diejenigen, die denken und die Herz haben. Weiß der Vater es nicht? Glaubt er es nicht? Er sollte einmal zuhören, wenn sie sprechen. Er sollte dabei sein, wenn sie von Eltern, Brüdern, Schwestern reden, von Religion und Wissenschaft, von Staat und Politik. Wie sie alle Lügen durchschauen, alle veralteten Gesetze und alle Widersprüche zwischen dem, was gelehrt wird und dem was getan wird. Der Vater würde vielleicht lachen, aber wenn er nachdenkt, wird er sich überzeugen, daß es keine spaßhafte Sache ist. Im Gegenteil, es kommt ihr oft vor, als sei sie mit ihren Gesinnungs- und Geistesgenossen eine feindliche Einquartierung in der Welt der Erwachsenen und sie hätten ihr Waffenlager an heimlichen Orten versteckt. Es bereitet ihr keine Freude, im Haus von Vater und Mutter herumzugehen wie der Soldat aus einem fremden Land; keine Freude, zu wissen oder zu spüren, daß Vater und Mutter wohl beieinander wohnen und einander gern haben und doch nicht wirklich beieinander sind (hier standen plötzlich Tränen in ihren Augen); sie verabscheut das Geheimnis; sie möchte Offenheit, Klarheit, Licht, nur nicht das Geheimnis, jedes Geheimnis ist wie eine Falltür, worunter ein Mörder lauert.

Laudin war tief bestürzt. Sein Gesicht war bleich geworden. Wenn ein hübsches Bild an der Wand, ein Menschenbild, das man Tag für Tag mit Wohlgefallen betrachtet hat, auf einmal aus seinem Rahmen tritt und zu sprechen anhebt, sonderbare Worte, in das sorglich behütete Dunkel der Existenz kühn hineingreifende Worte, kann man nicht bestürzter sein als er es war. Er mußte sich zuvörderst sammeln und seine Antwort überlegen. Doch was konnte er antworten, was nicht Ausflucht, Verlegenheit und das Bestreben, Zeit zu gewinnen, war? Er selbst hatte das traurige Axiom von den fünf- bis sechshundert Vokabeln aufgestellt, deren sich der mittlere Bürger in allen Lebenslagen bedient; nun konnte er unter ihnen wählen und zusehen, ob er ein paar mehr für sich fand. Denn er mußte wohl erkennen, daß es eine ernste Stunde war, Aug in Aug gegen diese Tochter, die ihm einen Blick in das feurige Innere ihrer Seele vergönnte und als Gesandtin einer »feindlichen Einquartierung,« wie sie sich geäußert, zu ihm kam.

Obschon er die abgegriffensten Schemata aus dem Vokabular zu vermeiden wußte und sich in acht nahm, von Unreife, Verworrenheit, fehlender Lebenskenntnis, Notwendigkeit der Führung und so weiter zu reden, lief es im Sinn schließlich eben darauf hinaus. Dies konnte keine Wirkung erzielen, und er war sich hierüber hoffnungslos klar. Noch schwieriger war es, die Kritik des ehelichen Verhältnisses zurückzuweisen und, was kindliche Mutmaßung und erschreckend scharfer fraulicher Instinkt daran schien, mit geeigneten Argumenten zu entwurzeln. Sich mit der Miene gutmütiger Nachsicht wappnend, sagte er, hier entziehe sich das Wesentliche immerhin Marlenes Kompetenz; zu zarte Brechungen seien in diesem Spiegel, als daß eine wilde Ehrlichkeitswut allein sie aufzufangen vermöchte. Jeder Strom habe seine Schnellen und Untiefen, und nur der Schiffer, der jahrelang mit dem Wasser vertraut sei, könne durch sie hindurchsteuern, nicht aber der jugendliche Spaziergänger, der nur die Fische fangen und verspeisen wolle. Kompetenzen müßten eingehalten werden; ohne weiteres anerkenne er die Hoheitsrechte, die Marlene kraft ihrer Jugend zustünden, doch wie er für ihr stürmisches Lebensbegehren um Vertagung ersuchen müsse, in ihrem eigenen Interesse um kurzen Aufschub, so habe er, die Andeutung der elterlichen Beziehung anlangend, nichts zu entgegnen, als daß er zum Dank für seine Toleranz die ihre anrufe, da eine Verteidigung eine rechtsgültige Anklage voraussetze. Die aber statuiere er nicht.

Die gewundene Advokatensprache, durchaus Ergebnis der Ironie, enttäuschte Marlene einerseits bitter, wie ihr anzusehen war, verriet ihr aber andererseits, daß sie in ihrem Wahrheitsdrang sich zu weit hatte fortreißen lassen. Sie schien die Zurechtweisung als verdient zu empfinden, denn sie senkte schamvoll den Kopf. Zurücknehmen kann man nicht, was man im Ernst gegeben; das gesprochene Wort ist unwiderruflich. Vielleicht machte heitere Verstellung den Schaden gut; sie sagte, sie wolle warten, nichts ohne die Billigung und den Rat des Vaters tun; sie kniete vor ihm nieder, kätzchenhaft beinahe, und blickte lächelnd zu ihm auf, ihre Unterordnung gleichsam figürlich darstellend. So endete das Gespräch wie es begonnen hatte, in Verbindlichkeit und scheinbarer Übereinstimmung, doch genauer betrachtet mit einem klaffenden Bruch des Weges zueinander.

»Gute Nacht, Vater,« sagte Marlene, küßte ihn flüchtig auf die Stirn und entfernte sich. Oben in der Stube wartete Relly auf sie, und Rellys ganzes Wesen war unruhige Wißbegier, als habe Marlene ein Attentat auf den Vater verübt, das sie, Relly, die Polizei des Hauses, hätte verhindern sollen. Da aber Marlene schwieg und sich zu Mitteilungen nicht aufgelegt zeigte, begann Relly in störender Weise vor sich hin zu singen. Sie hegte dabei die Hoffnung, daß der Gesang einen Wortwechsel hervorrufen werde, in dessen Verlauf, falls sie die Schwester gehörig zu reizen vermochte, es dann doch zu verschiedentlichen Geständnissen kommen mußte.

Aber auch diese Hoffnung trog. So bemerkte sie nur brummig: »Mutter Finsteraarhorn wandelt heute wieder.«

Die Hofrätin hatte nämlich seit einigen Tagen die wunderliche Gepflogenheit, um die Schlafenszeit durch die Korridore des oberen Stockwerks zu gehen, und zwar mit einer Miene, als suche sie einen verlorenen Gegenstand. Wenn man sie fragte, gab sie keine Antwort, schaute in alle Ecken und Winkel, murmelte unverständliches Zeug und kehrte endlich kopfschüttelnd in ihr meistens überheiztes Gemach zurück. Dieses Betragen ängstete die Schwestern. Marlene öffnete ein wenig die Tür und horchte hinaus. Aber Mutter Finsteraarhorn war verschwunden. Der Zwerg Uistiti schrie, und seine Pflegerin hörte man mit ihm zanken.

Laudin saß noch lange so, wie ihn Marlene verlassen hatte, die Stirn in die Hand gestützt. Als er sich erhob, war es schon spät. Die Trübung in seinen Mienen hellte sich nur langsam auf. Nach einigem Hin- und Hergehen trat er zum Schreibtisch, legte Federmesser, Papierschere, Briefblock und Aschenschale zurecht, dann griff er nach der Elfenbeinschatulle, in der sich die Briefmarken befanden, schüttete sie aus, ordnete und schied die Marken nach ihrer Wertigkeit und notierte, den Bleistift zur Hand nehmend, die Anzahl auf dem Kalender.


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