Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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29

Doktor Heimeran hatte in seinem Klub eine regelmäßige Bridgepartie, zu der der zweite Sozius der Laudinschen Kanzlei gehörte, Doktor Kappusch, ferner ein Arzt, Professor Weitbrecht, bekannter Spezialist für Hautkrankheiten, und ein Großkaufmann. Es war an einem Samstag nach Schluß der Geschäfte und Betriebe; das Spiel hatte noch nicht lang gewährt, doch Heimeran machte so ungewöhnliche und störende Fehler, daß er sich den geärgerten Vorwürfen seiner Partner aussetzte.

Plötzlich warf er unmutig die Karten hin, strich sich über den kahlen Schädel und sagte: »Es gehn mir heute andre Dinge im Kopf herum, und ich wundre mich, daß Sie, Kappusch, so kaltblütig spielen können als wäre nichts geschehen. Die Geschichte mit Laudin will und will mir nicht aus dem Sinn. Soviel ich auch schon darüber nachgedacht und geredet habe, die Unbegreiflichkeit wird immer größer.«

Die bewegliche Klage ließ erkennen, bis zu welchem Grad die Geister der Wachsamkeit bereits in Verwirrung gesetzt waren. Leitmotiv: ein solcher Mann, zeit seines Lebens von musterhafter Normalität, von tadelloser Korrektheit, legt eine Vertretung nieder, die er schon in aller Form übernommen, weist eine Klientin ab, der er sich verpflichtet hatte, eine hochangesehene Dame, ein geachtetes Mitglied der Gesellschaft.

»Die Herren wissen ja, um wen es sich handelt. Frau Konsul Altacher hat natürlich nicht verfehlt, die Sache an die große Glocke zu hängen, und das Aufsehen war unliebsam genug. Welcher Schaden für die Kanzlei, welche Einbuße an Renommee, was für müßiges, neugieriges, übelwollendes Gerede! Hat das ein Laudin nötig? Mußte das denn sein?«

Doktor Heimeran schaute fordernd und fragend in die Runde. Niemand war der Meinung, daß so Ungehöriges, allem Brauch Widerstrebendes vor sich gehen durfte. Heimeran hat dem Doktor Laudin dringliche Vorhaltungen gemacht, leider als es schon zu spät war. Er hat ihn um seine Beweggründe gefragt; was hat Laudin geantwortet? Er könne die Angelegenheit der Frau Konstanze Altacher nicht mehr mit seiner Überzeugung vereinigen; er habe seine Ansicht über den Fall geändert, sei gezwungen gewesen, ihn zu ändern, und habe es der Dame mitgeteilt.

»Aber, meine Herren, das hätte er sich vorher überlegen müssen. Ein Advokat darf nicht zwischen Montag und Dienstag Ansichten wechseln. Ein Advokat ist der Leuchtturm an der stürmischen Küste; er muß an seinem Platz bleiben.«

Es hatte sich, wie sich aus der Erzählung Heimerans ergab, an den Willensumschlag des Anwalts eine ganze Reihe sensationeller Ereignisse geheftet. Zwei Tage nachher starb Konsul Altacher, wie wenn er auf den Laudinschen Theatercoup bloß gewartet hätte, um sich den ferneren Miseren seiner Existenz rasch zu entziehen. Kaum ist sein Grab zugeschaufelt, erhebt die Witwe eine Wiedererstattungsklage auf ein ganzes Vermögen gegen des Konsuls Freund Ernevoldt und dessen Schwester. Sechzigtausend Goldkronen werden zurückverlangt, welche Summe die beiden nach und nach dem Konsul entlockt haben sollen. Und Skandal über Skandal, denn wozu entschließt sich Laudin? Er übernimmt den Prozeß für diese Leute. Er klagt außerdem die Witwe auf Herausgabe eines beinahe zehnfach so hohen Betrages, nämlich einer halben Million Goldkronen, die der Verblichene den Ernevoldts versprochen haben soll.

»Versprochen, meine Herren; denn zu einem rechtsgültigen Testament ist es nicht mehr gekommen. Laudin vertritt den Standpunkt, daß unlautere Einmischungen stattgefunden haben, er beruft sich auf einen Brief, den Altacher an Fräulein Ernevoldt geschrieben hat. Aber ich bitte, das ist ja juristisch unhaltbar und menschlich anrüchig. Der ganze Fall ist anrüchig. Wie kann ein Laudin dazu seine Hand leihen? Was geht vor? Vielmehr: was ist vorgegangen?«

Allein das ist längst nicht alles. Die Beunruhigungen Heimerans erstrecken sich noch auf ein anderes Gebiet. Ein privates; ein persönliches. Doktor Kappusch wird bestätigen können (und bestätigt es), daß Heimeran ihn bei den ersten Anzeichen auf gewisse Tatsachen aufmerksam gemacht hat, die das Befremden des Menschenkenners hervorrufen mußten.

»Ein Mann hat zwanzig Jahre lang an der Gewohnheit festgehalten, seinen Rock an einen bestimmten Nagel zu hängen. Eines Tages hört er auf es zu tun, wirft ihn achtlos auf den Sessel, auf den Tisch, in eine Schrankecke. Läßt das nicht deutlich auf gewisse Veränderungen im Seelenzustand schließen? Hier sitzt ein Arzt unter uns. Er möge urteilen. Derselbe Mann hat zwanzig Jahre hindurch seinen alten Bureaudiener mit ›Herr Rüdiger‹ angeredet; eines Tages vergißt er es und ruft ihn einfach Rüdiger, noch dazu im unfreundlichsten Ton. Der nämliche Mann hat zwanzig Jahre lang keine einzige Sprechstunde in seiner Kanzlei versäumt, keinen einzigen Termin bei Gericht, keine Verabredung verschoben, keine Konferenz abgesagt, keinen Brief unbeantwortet gelassen. Auf einmal hat die exemplarische Ordnung und Akkuratesse ein Ende; und was für ein Ende! Briefe häufen sich zu Bergen; im letzten Moment vor jeder Verhandlung muß man einen Stellvertreter nominieren; seit Wochen vorgemerkte Parteien muß man abweisen und vertrösten; von manchen will er überhaupt nichts mehr hören; eine halbe Stunde Aktenlesen, und er wirft das Faszikel beiseite; kaum hat man uns gemeldet, daß er endlich gekommen und im Sprechzimmer ist, hastet er bereits wieder weg. Sieht aus dabei: oft nicht mehr zu erkennen; ich sage zu meinen Kollegen: wie wenn man eine schöne leserliche Schrift mit lauter Krakeln überzieht. Das alles sind schwere Bedenklichkeiten, meine Herren. Es liegt immerhin eine alte Gefährtenschaft vor. Man hat in manchem Betracht die Sporen gemeinsam verdient, und Schild und Wappen des einen sind auch die des andern.«

Doktor Heimeran nahm die Karten wieder zur Hand und begann sie mit nervösen Bewegungen zu mischen.

Der Großkaufmann, ein moroser und mißgelaunter Greis, sagte: »Es ist mir zu Ohren gekommen, ich will nicht sagen, daß ich es glaube, aber es ist jedenfalls darüber gesprochen worden, hinter dem merkwürdigen Verhalten Laudins in der Sache Altacher stecke der Einfluß der Schauspielerin Dercum.«

Das sei einfältiger Klatsch, erzürnte sich Doktor Heimeran; noch niemals in seiner ganzen Praxis sei Laudin weiblichen Künsten unterlegen; davon gebe es kein Beispiel, und eine solche Annahme sei nicht erlaubt.

Doktor Kappusch bemerkte ruhig, seines Wissens gründe sich die Beziehung Doktor Laudins zur Dercum auf seine Freundschaft für Egyd Fraundorfer und hänge mit dem Selbstmord von dessen Sohn zusammen. Daß bei dieser Sache die Dercum im Spiel gewesen, sei allerdings ein öffentliches Geheimnis, doch der Schritt Laudins könne da nicht angetastet werden, sondern liefere im Gegenteil nur den Beweis seiner Selbstlosigkeit und Freundestreue.

Bei der Erwähnung des Namens Fraundorfer hatte Professor Weitbrecht emporgeblickt. »Das ist dieser junge Mensch, der Musiker,« sagte er mit ernster Miene; »er war bei mir. Zwei Tage vor seinem Tod war er in meiner Ordination. Ein lieber Mensch. Ein bedauernswerter junger Mensch.«

Er nickte traurig vor sich hin, als spreche er von einer Erfahrung, die zu gewöhnlich und zu häufig war, als daß man sich dabei aufhalten hätte dürfen, die aber in diesem besonderen Fall doch dem Gedächtnis verwachsen geblieben war. Seine Worte wurden nur von Doktor Heimeran beachtet, der mit juristischem Scharfsinn die Eigenschaften und den Ehrgeiz eines Detektivs verband. Er zog das Notizbuch aus der Tasche und kritzelte rasch die Namen: Fraundorfer – Weitbrecht auf eine leere Seite. Dann teilte er die Karten aus.


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