Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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Dritter Teil

48

Die schöne Fräuleinstirn hatte ihre Klarheit verloren. Sie glich einem behauchten Spiegel. Bisher war sie alterslos gewesen, jetzt zeigten sich auf einmal Rillen der Jahre.

Pia war nicht nur an Schweigsamkeit gewöhnt und hatte sich dazu erzogen, sie hatte auch gar nicht die Gabe, sich mitzuteilen. Sie besaß das Wort nicht. Sie hatte im allgemeinen bloß die Worte für Tatsachen und für die kleinen Notwendigkeiten des Lebens. Diese Worte waren im Lauf der Zeit, mit der unabänderlichen Wiederkehr der gleichen Tagespflichten, förmlich zu Gebrauchsgegenständen geworden und stellten keinerlei Ansprüche mehr an Denken und Fühlen.

So geschah es, oder es war ihr wenigstens so zumut manchmal, daß alles Denken und Fühlen vor ihren eigenen sehenden Augen gleichsam in einen tiefen Schacht hinuntersank. Darüber lagerten dann, wie eine ständig sich vergrößernde Sandsäule: der Haushalt, die Wirtschaft, die Küche; die Bedürfnisse eines jeden; die Anschaffungen; die Rechnungsbücher, die Säuberungsarbeiten, die Erziehungssorgen, die Einteilung der Obliegenheiten eines jeden und was für den Tisch, den Schlaf, das Behagen und die Gesundheit sämtlicher Hausgenossen erforderlich war.

Sie hatte keine Freundin. In ihrer Existenz war kein Platz für Freundschaft. Sie hatte unter diesem Mangel nie gelitten; es war keine Entbehrung für sie gewesen, erstens wegen jener natürlichen Verschlossenheit, besser gesagt Zugeschlossenheit ihres Charakters, und dann, weil ihr nichts anderes in der Welt wichtig war als ihr Mann und ihre Kinder. Denen gehörte sie mit Leib und Seele, und das war so selbstverständlich wie daß ihre Arme und ihre Beine ihr gehörten. Pia, Friedrich, Marlene, Relly und Hubert, das war eine untrennbare Einheit. Hierüber dachte sie so wenig nach wie über sich selbst.

Zu ihrer Mutter hatte sie kein Herzensverhältnis und gestand es sich ruhig ein. Offene Zuneigung hatte es zu keiner Zeit zwischen ihnen gegeben; die Interessen der Hofrätin hatten sich stets auf ihre eigene Person beschränkt; mit den Jahren war ihr lebloser Egoismus nicht bloß versteinert, sondern sie war dabei auch immer mürrischer und zänkischer geworden. Alle im Haus behandelten sie wie ein Requisit, das geschont werden muß, oder wie eine lästige Unvermeidlichkeit, der man aus dem Weg zu gehn hat.

So spielte äußere Welt nur als soziale Macht und soziale Pflicht in Pias Bezirk hinein. Besuche mußte sie ziemlich häufig empfangen; sie zu erwidern, kostete sie manchmal große Überwindung. Aber Laudin hätte es ihr verübelt, wenn sie es unterlassen hätte. Er ging selten in Gesellschaft, doch in den vergangenen Jahren hatten Pia und er immerhin einmal in jedem Monat der Einladung einer befreundeten Familie Folge geleistet. Das hatte jetzt aufgehört.

In den früheren Jahren hatten auch sie selbst während des Herbstes und Winters Gesellschaften gegeben, an jedem zweiten Sonntag gewöhnlich; diese Abende hatten sich wegen der geschmackvollen Zusammenstellung von Menschen und des geistig anregenden Tones eines gewissen Rufs erfreut, und es galt als eine Auszeichnung, bei Laudins geladen zu sein. Mit dieser Gepflogenheit war gleichfalls, ohne Verabredung zwischen den Gatten, doch zweifellos, weil Laudin sie nicht mehr aufzunehmen wünschte, gebrochen worden.

Er äußerte nicht mehr das Verlangen, mit ihr ein Konzert, die Oper, ein Theater, ein Museum zu besuchen; er hatte sogar auf die gemeinsamen Spaziergänge nach und nach verzichtet, zu denen er sie an jedem Sonntagvormittag ermunterte und während welcher er, wuchtete auch die Arbeitslast noch so drückend auf seinen Schultern, stets wohlgelaunt und von der ritterlichsten Aufmerksamkeit gegen sie gewesen war, so daß die in der umgebenden Landschaft mit ihm verbrachten Stunden zu ihren schönsten Erinnerungen zählten. Still ging sie des Wegs an seiner Seite, hörte lächelnd zu, wenn er sprach, schwieg lächelnd, wenn er schwieg. Eben dies Stillesein schien ihm zu gefallen, dies Ruhen neben ihm schien ihm Heiterkeit einzuflößen, und kehrten sie heim, so hatten sie sich innerlich miteinander verständigt, ohne über etwas anderes als über Alltäglichkeiten geredet zu haben.

Es war vorüber. In Pias ganzer Veranlagung war es begründet, daß es ihr lange Zeit, die langen Wintermonate hindurch, kaum zu Bewußtsein kam. Von einem Tag zum nächsten vielleicht begriff sie es, im Zurückschauen, im Umsichherschauen. Begriff es, verarbeitete es, wunderte sich und fing an zu grübeln.

Auffallend, daß Bekannte, die sie traf, eine beflissenere Art zu grüßen hatten. Andere wieder, denn sie hatte viele Bekannte und einem Teil von ihnen abwechselnd zu begegnen, mußte sie bei ihren häufigen Fahrten in die Stadt und den Gängen durch die Straßen beinahe mit Sicherheit gewärtig sein, andere wieder hatten etwas Vertrauliches in ihrem Benehmen, andere etwas übertrieben Rücksichtsvolles, andere etwas sonderbar Neugieriges oder sogar Mitleidiges. Allmählich wurde sie schon nervös, wenn sie einen von fern gewahrte, und bog, um auszuweichen, in eine Seitengasse. Eine Dame zum Beispiel, mit der sie gezwungen war, stehen zu bleiben, erkundigte sich mit außerordentlich liebevollem Nachdruck, wie es dem Herrn Gemahl gehe, begnügte sich bei der trockenen Auskunft Pias nicht, sondern fragte ein zweites Mal. Eine andere, der sie eine lange verschobene Visite machen mußte, erging sich in pythisch dunklen, deshalb aber um nichts weniger taktlosen Andeutungen über das Schicksal, von welchem auch die untadeligsten und hingebendsten Frauen eines Tages ereilt würden, indem der Mann einfach über sie hinwegtrete, und nicht, um in höhere Regionen zu gelangen, sondern in tiefere, durchaus und unbestreitbar in tiefere. Pia schaute sie ziemlich verdutzt an und begann vom Wetter zu sprechen. Es war kein Wunder, daß sie in der ihr gleichgeordneten Gesellschaftsschicht für ungebildet und etwas simpel galt; nur darum verziehen ihr die Frauen ihre reizenden Manieren und ihr jugendlich schönes Gesicht. Eine weit unangenehmere Wirkung übte es auf sie, die merken zu lassen sie sich aber wohl hütete, als ihr ein alter Herr, gewesener Minister, dessen Leidenschaft das Theater war, mit freundlicher Geschwätzigkeit berichtete, er habe Laudin nun zum drittenmal bei ein und derselben Vorstellung getroffen; »was ich ihm nicht verdenken kann,« fügte er begeistert hinzu, »denn der Abend ist ein Erlebnis, gnädigste Frau, schlechthin eine Unvergleichlichkeit.«

Laudin hatte von diesem »Erlebnis« niemals mit Pia gesprochen. Keine Frage, daß es auch für ihn eines war; was hätte ihn sonst bewegen sollen, es dreimal zu erproben?

Zu dem Gerüchtewesen, das sie drohend wie Nachtgetier umschwirrte, nichts war zu greifen, gesellten sich dann die telephonischen Treibereien Brigitte Hartmanns, von denen Trübes verblieb, wie immer sie sich stellen mochte; Unheimliches sogar, trotz der ätzenden Schärfe, mit der sich Laudin darüber geäußert. Eine Zeitlang hörte sie nichts mehr von der Frau; eines Nachmittags im März kam sie nach Hause, und es wurde ihr gesagt, eine Dame mit zwei Kindern warte auf sie. Als sie in das Zimmer trat, erhob sich die Besucherin, machte einen halben Knix, packte mit jeder Hand einen der beiden Knaben, die am Fenster standen und ihre Nasen an die Scheiben drückten, schritt auf sie zu und sagte: »Erlauben Frau Doktor, daß ich mich bekannt mache, ich bin die Brigitte Hartmann, und das da sind meine zwei Waisen, das heißt Vaterwaisen, hoffentlich stör ich die Frau Doktor nicht.«

Pia war sprachlos. Nicht einmal die Frage nach dem Begehren der dreisten Eindringlingin vermochte sie zu stammeln. Sie blieb stehen, und die Vaterwaisen, sonntäglich staffiert, gleichwohl nicht recht gewaschen, stierten sie offenen Mundes an.

»Geht ein wenig in den Garten hinaus, Buben,« wandte sich Brigitte Hartmann in süßlich-zärtlichem Ton an die Sprößlinge; »ich habe mit der Frau Doktor zu reden; ich wollte nur, daß euch die Frau Doktor sieht. Ihr habt ja schon den schönen Garten bewundert; vielleicht spielen die Töchterchen von Frau Doktor ein bißchen mit euch, Frau Doktor wird nichts dagegen haben.«

Die Sprößlinge gehorchten zögernd. Einer stolperte über den Teppich, weil er die Augen noch immer nicht von Pia losreißen konnte.

»Frau Doktor erlauben, daß ich mich setze?« girrte Brigitte Hartmann schmeichlerisch und zog dabei seltsamerweise die Handschuhe an, die sie auf die Lehne des Fauteuils gelegt hatte.

Endlich faßte sich Pia: »Ich wüßte nicht, was wir miteinander zu verhandeln hätten, Frau Hartmann,« sagte sie abweisend; »sehr sonderbar, daß Sie, nach alledem, noch wagen . . . ich müßte meinen Mann in Kenntnis setzen . . .«

Brigitte Hartmann hob beschwörend die Arme. »Ihren Mann, Frau Doktor, den Herrn Doktor, Frau Doktor . . . Ach nein, tun Sie das nicht,« versetzte sie halb erschrocken, halb hämisch; »den können wir absolut nicht brauchen. Ich bin ja froh, daß wir unter uns sind, bitte. Wir müssen uns einmal gegenseitig aussprechen, Frau Doktor. Das heißt, ich will mich aussprechen. Und wenn Sie auch nicht erbaut sind von meinem Herkommen, das muß ja, leider Gottes, ein Blinder sehn, so kann ich mir eben nicht anders helfen. Ich bin ein Mensch, der nicht lügen kann, bitte, und wo Lügen sind, da muß ich meinen Mund zum Bösen auftun, komme, was da wolle. Also.«

Darauf folgte, so rasch einsetzend und anschwellend, daß kein hemmender und haltgebietender Laut der regungslos dastehenden Pia hätte Platz finden können, ein wahrer Kraterausbruch von Worten. Und was für Worten! Das Zimmer verfinsterte sich vor Pia, der Himmel verfinsterte sich, das Innere der Brust verfinsterte sich. Sie konnte nicht fliehen; etwas, das stärker war als ihr Widerwille, ihr körperlicher Abscheu, hielt sie fest als wären ihre Füße an den Boden genagelt, und während ihre Wangen mit jeder Sekunde bleicher wurden, die Augen rund und ausdruckslos, erhob sich Brigitte Hartmann wieder von ihrem Stuhl und stellte sich gestikulierend und die Zahnlücke im Mund mehr und mehr entblößend dicht vor sie hin.

Der Herr Doktor hätt es verhüten können. Ein gutes Wort von ihm, und sie hätte geschwiegen wie das Grab. Kein Mensch auf der Welt stehe ihr so hoch wie der Herr Doktor Laudin. Anstatt aber sich an sie zu halten, wo sie es ihm doch dutzendmal zu verstehen gegeben, habe er sie bis aufs Blut gereizt. Nun solle er sehen, wo er bleibe. Auch der Wurm krümmt sich, wenn er getreten wird. Gegen sie habe sich freilich alles verschworen. Andere Lieder seien ihr an der Wiege gesungen worden. Hoch hinaus habe sie gewollt und den Anspruch habe sie darauf gehabt. Wenn einer meine, sie habe ihren Schiller und Goethe nicht im Kasten, oder den Lenau, der so unglücklich gewesen, so könne sie ihm seinen Irrtum mit Glanz benehmen. Zu prahlen damit habe sie allerdings nie verstanden, Bescheidenheit sei ihr erstes, da wolle sie sich lieber in die Nase beißen als ihre Bildung herauskehren. Nicht einmal vor der Frau Doktor. Obwohl, wenn Frau Doktor wüßte, wie ihr mitgespielt worden sei. Ein Eheleben, daß Gott erbarm. Wie sie den Mann geliebt habe. Jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Die Leute hatten sich bloß gewundert. Und wie dann die schlaue Kanaille, die Lanz, ihn im Kopf total verrückt gemacht und er die Scheidung verlangt, habe sie ihm gesagt: schön, geh deiner Wege, will nichts mehr wissen von dir, und dein Geld brauch ich auch nicht, kannst alles deinem Weibsbild vererben, bitte, denn sie sei sich über seinen baldigen Tod im klaren gewesen, habe er doch längst auf dem letzten Loch gepfiffen, was niemand verwundert hätte, solche Ausschweifungen bei vorgerückten Jahren. Und so sei es auch gekommen. Auf einmal sei dann die Kebse mit dem Bankert angerückt, Frau Doktor werde schon entschuldigen, aber wenn einem die Menschen die Seele aus dem Leib folterten, könne man nicht Süßholz raspeln, sei ihr ins Haus gefallen, um das Testament zu holen. Da sei sie wie vom Schlag gerührt gewesen. Testament? Auf der Stelle verrecken wolle sie, wenn sie je ein Testament erblickt. Aber dann sei der Herr Doktor gekommen, habe ihr angst und bang gemacht, ihr Erbteil hätte sie gar noch herausgeben sollen, heilige Mutter Gottes, das habe sie nicht ruhen lassen, und die schlechte Meinung nicht, die er von ihr gefaßt, da sei sie zu ihm in die Kanzlei gegangen, kniefällig, mit aufgehobenen Händen habe sie ihn angefleht, ihr zu glauben. Er sei ganz erschüttert davon gewesen und habe ihr geglaubt, habe ihr alles Unrecht abgebeten, aber da habe sich die Lanz, das Luder, hinter die Dercum gesteckt, und die Dercum wieder habe dem Herrn Doktor die Hölle heiß gemacht, begreiflicherweise, sei ihr doch von den Lanzischen ein Anteil an dem Raub versprochen worden. Da habe denn der Herr Doktor umgeschwenkt, der engelsgute Mann sei zum Teufel geworden und seitdem zwicke und zwacke man sie, daß sie bereits des Lebens überdrüssig sei. Und wisse denn die Frau Doktor, wer die Dercum sei? Wisse sie denn, daß das eine stadtbekannte, na, sie wolle nicht sagen was, sei? wisse sie denn, daß der Herr Doktor, der Doktor Laudin, bitte, bei so einer die halben Nächte zubringe? In der Spiel- und Saufhöhle dort, mit Komödianten und Huren die halben Nächte? Oh, davon habe sie die Beweise, bitte. Aufgelauert habe sie ihm, zur Rede gestellt habe sie ihn, ins Gewissen geredet habe sie ihm, an die Frau Doktor habe sie ihn gemahnt, an die holden Kinderchen; nichts genützt habe es. Angeschnauzt habe er sie; wie einen Schuhfetzen behandelt. Wo er doch soviel Butter auf dem Kopf habe. Wo er doch die Milliarden nur so hineinschmeiße in den Rachen der besoffenen Hexe, der. Die Marktweiber in den Tschecherln unterhielten sich bereits darüber. Füllt den Beutel von solcher Komödiantin, die die Mannsbilder verschlucke als wärens Indianerkrapfen. Hallo, hier Frau Hartmann, bitte. Ergebenste Dienerin. Habe nichts zu bedeuten. Bitte. Bitte schön . . .

Mit einem heiseren Aufschrei stürzte sie hart zu Boden. Schaum quoll aus ihrem Mund. Die Glieder zuckten. Der Rumpf wand sich epileptisch. Der blumengeschmückte Hut war auf das eine Ohr geglitten, so daß sie bei aller Grausigkeit einen lächerlichen Anblick bot. Und ob, bei aller erschreckenden Grausigkeit, der Anfall nicht auf Simulation beruhte, wenngleich auf einer, die wieder in heilloser Verdunkelung des Gemüts wurzelte, dies schien sich Pia zu fragen, als sie sich der hingestreckten Gestalt langsam näherte, sich herabbeugte, auf die Knie niederließ und dumpfe, wehrende, ekelnde, mitleidige Worte flüsterte. Und wie sie dann hinausgehen wollte, um Hilfe zu holen, richtete sich Brigitte Hartmann empor und ächzte: »Helfen Sie mir auf, Frau Doktor. Das Herz, ach Gott, das Herz. Meine armen Waisen. Es ist schon besser, bitte. Nichts für ungut, Frau Doktor. Danke, Frau Doktor. Nun war ich doch bei Ihnen und hab Sie gesehen. Tragen Sie mir um aller Heiligen willen nichts nach. Erzählen Sie nichts dem Herrn Doktor, tun Sies nicht . . .«

Sie wischte mit der immer noch behandschuhten Rechten den Rock sauber, sah sich trübselig um, starrte auf Pias Hände, dann in Pias Gesicht, murmelte: »Eine liebe Dame sind Sie, Frau Doktor, eine sehr liebe Dame,« knixte wieder halb und ging. Draußen hörte sie Pia die Sprößlinge rufen und hörte das Gartentor zuschlagen; sie setzte sich still in eine Ecke.

Hat sie denn der Eröffnungen dieser vom Wahn geschlagenen und gezeichneten Frau bedurft, deren Gehaben beinahe ein klinisches Bild aufwies, hat sie deren bedurft, um zu sehen und zu erkennen? Mag immerhin auf dem Weg durch das trübe Medium Wahrheit sich in Lüge verwandeln und Zeugnis in Halluzination, Pias Herz gleicht einer photographischen Platte, die aufnimmt und zur Wahrnehmung bringt, was das schärfste Auge nicht zu erspähen vermag. Es ist überflüssig, daß man sie mit anonymen Briefen behelligt, aus derselben Quelle wahrscheinlich, oder aus benachbarter, wie der von Laudin verächtlich fortgeworfene. Es ist überflüssig, sie durch Neugier auszukundschaften, durch Andeutungen zu wecken, durch Mitleid zu kränken. Sie hat geahnt; sie hat die Ahnung bekämpft, der Kampf war vergeblich, auf einmal stand das Wissen da.

Was aber wird geschehen, wenn sie sich eines Tages mit dem bloßen Wissen nicht mehr begnügen kann? Darüber ist sie sich nicht klar. Sie kann es nicht vorher berechnen, in keiner Weise. Sie gehört nicht zu den Menschen, die sich sogenannte Richtlinien vorzeichnen. Sie muß warten, bis es reift. Solang wird sie still im Haus walten, wird den Töchtern bei ihren Schularbeiten helfen, soweit ihre Befähigung reicht, wird sich mit den vielen Dingen plagen, wird zuschauen, wie Laudin stumm und stummer, trüb und trüber, rastloser und rastloser wird, und wird manchmal in aller Heimlichkeit, sogar von Rellys Späherblicken unbemerkt, den kleinen Hubert leidvoll, mit geschlossenen Lidern, an ihre Brust drücken. Der blüht ja nun langsam zum Menschen auf; erst war er nur ein Wesen, jetzt wird er ein Sohn. Was für ein wundervolles Wort: Sohn.


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