Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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»Bitte, Platz zu nehmen, Herr Keller,« sagte Laudin, als der Schauspieler die Doppeltür geschlossen hatte, deren innerer Teil dick gepolstert war.

Keller setzte sich stumm, mit hackender Dankgebärde. Seine Gestalt war schlotterig-hager, der Kopf schmal wie ein Fischkopf und das ganze Gesicht in lächerlich häßlicher Weise nach vorn geschoben; sogar die Augen mit den beständig blinzelnden Lidern quollen knotig hervor; nur die Stirn floh wie erschrocken gegen den mit spärlichem Rothaar bewachsenen Schädel zurück. Laudin bemerkte alsbald den scheuen und mißtrauischen Ausdruck, mit dem er um sich schaute und der zweifellos von dem langen Aufenthalt in der Anstalt herrührte. Es war, als erwarte er jeden Augenblick das Erscheinen des Wärters oder des visitierenden Arztes. Abgesehen von diesem beinahe rührenden Lauern war sein Wesen ruhig und von jener gemütlichen Allerweltskollegialität, wie sie Schauspieler oft an sich haben. Nicht das geringste Merkmal deutete auf Störung des geistigen Gleichgewichts; nur die nervöse Angst war in seinen Mienen, daß man ihn daraufhin betrachten könnte, und Laudin, der sich auf den Umgang mit jeder Spezies von Menschen verstand, richtete sein Benehmen so ein, daß er dem unsicheren Mann Sicherheit einflößte.

Nach verschiedentlichen Wechselreden, die das Mitzuteilende noch in der Schwebe ließen, sagte Arnold Keller mit seiner rasselnden, berlinischen, von komischen Brechungen durchsetzten Baßstimme: »Ja, sehen Sie mal, Herr Doktor, ich bin in ner verdammt verzwickten Lage. Ich komme da her, na, und ich bin da. Na, und Lu, die macht sich dünne. Ich will mich ja nicht aufdrängen, um keinen Preis, obwohl ich doch nun mal der angetraute Gatte bin. Aber da kann man freilich gegen einwenden, daß sie sich meiner auf nicht sehr faire Art entledigt hat. Gar nicht. Da hatten sie mir aufgeschwatzt: Heilanstalt und so. Entziehungskur und so. Kaputt mit den Nerven war ich ja; fertig. Aber Heilanstalt; tut sich was. Greulich, Herr Doktor, über die Maßen greulich. Lassen Sie sich mal in so ne Bude sperren, und ich setze meine Stiebel gegen Ihre Krawattennadel zum Pfand, daß Sie nach zwei Stunden selber an Ihrem Verstande irre werden. Und denn kommt es so weit, daß man sagen kann: et secum petulans amentia certat. Darf ich mir eine Zigarre ins Gesicht stecken?«

Laudin beeilte sich, sein Etui hinzureichen. Das lateinische Zitat hatte ihn verwundert emporschauen lassen. Es klang ein wenig pomphaft in diesem Mund; jedenfalls war man nicht darauf gefaßt. »Ich schmeichle mir nämlich, im Hinblick auf die ollen Römer ein Kenner zu sein,« fuhr der Schauspieler mit einer Dummen-August-Grimasse fort; »aber um Ihre Zeit nicht ungebührlich in Anspruch zu nehmen, Herr Doktor, brevity is bekanntlich the soul of wit, Sie sind ja nun der Sachwalter von Lu. Schwierige Waltung, beim Gotte Thor, wer sollte es besser wissen als ich, um also kurz zu sein, so möchte ich Ihre gütige Vermittlung in Anspruch nehmen.«

»Inwiefern? wollen Sie sich bestimmter erklären?«

»Mit Vergnügen. Das heißt, nicht mit besonderem Vergnügen. Aber mit oder ohne, dazu bin ich schließlich erschienen. Lassen Sie es mich in aller Ruhe auseinandersetzen. male cuncta ministrat impetus, wie es bei Quintus Curtius heißt.«

Er räusperte sich, machte wieder die unsäglich alberne Grimasse, Mittelding zwischen Luftschnappen und Zähnefletschen, und begann von neuem: »Ich habe bisher nicht gewagt, Lu unter die Augen zu treten. Sie fragen mich nach dem Grund. Sehr einfach: sie hat so niederträchtig an mir gehandelt, daß sie keinen Wert darauf legen kann, mich in Seh- und Reichweite zu haben. Gestern und vorgestern hab ich so zwei-, dreimal nen Anlauf genommen; bis zur Stiege; dabei bliebs; ihr soviel Unrecht auf zwei Beinen vor Augen zu führen, hatt ich nicht den Mut. Ein hamletisches Paradox, mein Herr. Das Heldenhafte ist, wie Sie hieraus leicht schließen werden, nicht mein Fach. Hätt ich im grauesten Altertum das Schwert statt heute die Fackel Melpomenes geschwungen, das Horazische vixere fortes ante Agamemnona fände keine Anwendung auf mich. Jedennoch ich bin kein Schwätzer, Herr Doktor, Beweis dessen stürze ich mich ins Thema. Sie haben also vielleicht die Gewogenheit, Lu zu sagen oder bemerklich zu machen oder zu versichern, wie Sie es für passend finden, daß ich ihr nichts nachtrage, vorausgesetzt, daß sie ihrerseits mir die Gemeinheit oder Schoflichkeit oder das Verbrechen, ganz nach Belieben, nennen wir es ein Verbrechen, denn es ist eines, Herr Doktor, daß sie, Lu also, mir dieses ihr Verbrechen nicht weiter verübelt. Und ich lasse sie bitten, ja: ausdrücklich bitten, oder wenn Sie wollen: ersuchen, oder was Ihnen sonst aus dem Synonymen-Lexikon schätzbar dünkt, daß sie mich fernerhin nicht mehr wegen der Scheidung harangieren oder drangsalieren, oder sonstwas dergleichen soll, da ich, um es kurz zu machen, nicht ohne sie leben kann. Kurz genug, Herr Doktor? Nicht ohne sie leben. Ich bin ein Künstler. Zugegeben. Ich hätte die Kunst. Oder die Kunst hätte mich. Doch hier heißt es: nulla ars in se versatur. Nicht ohne sie leben, das ist es, in möglichster Kürze. Ich müßte, wenn Sie gestatten, wenn ein so leichtfertiges Wort in diesen dem Recht geweihten Räumen erlaubt ist, eine Ende mit mir machen. Aber dies, Herr Doktor, unter uns, im Vertrauen, von Mann zu Mann. Es soll keine seelische Erpressung sein. Eine kalte, blöde, rechtwinklige Tatsache.«

Sehr sonderbar berührt, mit einem Ruck seines Kopfes, blickte Laudin in das Gesicht des Schauspielers. Er sah keinen expressiven Ernst darin, er sah nicht Scherz noch Sarkasmus, es begegnete ihm zum drittenmal die Grimasse, die alles von jener Sorte von Gefühlen prompt verschluckte. Aber kraft seiner Menschenkenntnis wurde ihm klar, daß es sich hier nicht um die prahlerische Drohung und Ballspiel mit Worten eines Cabotins handelte, sondern daß sich da, durch Gestrüpp und allerlei schamhaft verschränkte Selbsthemmung, eine schicksalsvolle Unabänderlichkeit verkündigte.

Er schwieg und stützte den Ellbogen auf den Schreibtisch, den Kopf in die Hand, während Arnold Keller mit seinem Komikerbaß und der scheinbaren Gemütlichkeit fortfuhr: »Eine Reminiszenz, wertgeschätzter Herr. Die Sache wills. Ich habe diese Lu aus dem Dreck gezogen, sit venia verbo. Ich habe sie in der Gosse aufgelesen. Es gibt da einen gewissen Ernevoldt, mag sein, ein Mann von Genie, mag sein, ein Mann von Charakter, die Genies und die Charaktere werfen sich ihn seit Jahren verzweifelt einander zu, weil keiner was mit ihm anfangen kann, dieser nun brüstet sich, Lu entdeckt zu haben. Kein Gedanke, daß ich ihm die Großtat streitig mache. Nur hat er, ich will mich mal vorsichtig ausdrücken, seinen damaligen Fund auf Nutznießung gestellt, und als er nach ner Weile annehmen mußte, es sei nichts mehr zu holen, schlug er sich seitwärts in die Büsche, um erst wieder zum Vorschein zu kommen, als es die Leiter wieder rauf ging. Lu, die fürs Moralische kein Organ hat und gern mit Adonisköpfen ihre Boudoirs schmückt, ist ihm selig in die Arme gefallen und war froh über den schönen Briefträger und Türaufmacher. Na. Kommen wir auf besagte Gosse zurück. Ich würde unverschämte Ansprüche an Ihre Phantasie stellen, würd ich Sie auffordern, sich die Schlamastik vorzustellen, worin die gute Lu steckte, als ich ihr die Hand reichte. Mir selber schauderte die Haut dabei. Keinen ganzen Strumpf, kein ungeflicktes Hemd, nicht Brot auf Hosen, Kameradschaften bloß mit abgeriebenen und -getriebenen Spitzbuben, ausgesogen bis zum Weißbluten von einem Strauchdieb von Tingeltangelmenschen, Seelenverkäufer draußen an der Ackerstraße, Sie werden ja ungefähr wissen, was Ackerstraße ist, gleich neben Gehenna, zu dienen; ob sie nicht krätzig und verlaust war, mein Gott, beschwören will ichs nicht. Na. Ich stieg rin in den Pfuhl und hole mir das Mädchen raus. Da konnte man wohl sagen: Luise, du bist blaß; Deiwel auch. Zuvörderst mußte sie geatzt werden. Hernach mußte sie gekleidet werden. Und im Ganzen mußte sie wieder zu nem menschlichen Wesen gemacht werden. Und denn sah ich erst, was mit der Person los war. Und denn nahm ich mir sie vor. Es war glanzvoll, was da zutage trat, Herr Doktor, das können Sie mir glauben, und das wissen Sie wohl auch, heut, wo es die Welt weiß. Aber eine Narrenmüh hats gekostet, den Diamanten zu schleifen. Erinnere mich nicht, daß ich jemals an eine Sache soviel Blut und Schweiß gesetzt hätte. Aber im Buch des Schicksals stand geschrieben, daß es noch mehr kosten sollte; Blut wenigstens. Hatte mir eigentlich nichts Böses bei der Geschichte gedacht, will sagen nichts von der Art, daß ich hängen bleiben würde. Wir Leute vom Theater haben ein Herz füreinander, mögen die vorm Zaun draußen noch soviel schwadronieren von Eifersucht und Neid; schön, Eifersucht und Neid; keiner will sich auf die Fresse treten lassen, und das Rampenlicht ist ein Teufelsfeuer. Aber gehts einem unter uns schlecht, so sind zwanzig Hände da, und geschieht mehr edles Opfer im Schatten als bei euch, na, wie betitl ich die Herrschaften, sagen wir: Zuschauern. Doch aus der bloßen schönen Kameraderie mit Lu wurde eben was anders. Daß wir alsbald heirateten, war, wie wenn man Salz aufs Butterbrot streut. Ich wollt es. Ich dachte, sie sei mir sicherer. Und wenn ich Ihnen nun von dieser Ehe erzählen wollte, so müßt ich noch erheblich unverschämtere Ansprüche an Ihre Einbildungskraft oder Ihre Gutgläubigkeit stellen als vorhin. Manche sagen, es wäre ne Posse gewesen. Immerhin, ne traurige Posse. Manche wieder hieltens für n Trauerspiel. Besonders solche, die mich näher kannten. Die hatten die bessere Witterung. Haben Sie schon mal beobachtet, lieber Herr, was eine Katze mit der Maus treibt, wenn sie ihr schon den Genickfang versetzt hat? Sie gibt ihr so kleine drollige Ohrfeigen, von rechts und links, so graziöse Stüber, nicht wahr? Aber jeder solcher entzückende Klaps bringt die arme Maus ein bißchen mehr zum Krepieren. Na. Da hätten wir ja die lachhafte Tragödie oder die triste Posse. Knalleffekt war da und da. Einzelheiten verlangen Sie wohl kaum. Was sollen Einzelheiten? Eine allein bezeugt nichts, alle zusammen sind das Rad, auf das man geflochten wird. Es ging mir wie dem berühmten Mann, der mit seinem Pferd bei Nacht in den Sumpf gerät. Von Ehe konnte eigentlich nicht die Rede sein. Da waren zuviel Türen im Schlafzimmer; die Männlein meldeten sich, als ob sie n Abonnement genommen hätten. Liebschaft konnte mans auch nicht nennen, da wir ja rechtens verheiratet waren. Also sagen wir mal Ehe mit Leidenschaft; das Gefährlichste, was es gibt; mit einseitiger Leidenschaft, mit hoffnungsloser, mit solcher, die den Menschen um Würde und Ehre bringt, ihn zum Hund erniedrigt, zum Bettler und Herzenskrüppel macht. Was soll ichs verschweigen? Ist ja mal so. Und wenn Sie mich fragen: wie hält ein Mann das aus, Tag für Tag mit dem Damoklesschwert über dem Haupt und mit den Fußtritten im Hintern und mit der vollkommenen Überzeugung, daß er betackelt und betrogen und geschuhriegelt und verhöhnt wird, so muß ich wieder mit einem Zitat antworten, und zwar mit dem Catull, Carmen Nummer ich weiß nicht wieviel, wo es heißt: Si furtiva dedit nigra munuscula nocte. Sie werden mich verstehn. Das Fleisch. Immer mal wieder so n Bissen. Nicht zum Sattwerden, bloß zum Zähmen, wies die Dresseure machen, und wenn der Stank zu skandalös wurde, weil man dann Furcht hatte. So n Schaf von Mann, man weiß nicht, eines Tages wirds wild und rast. Und deshalb und weil ich sonst auch n bißchen überflüssig war, da meine Gage jetzt nicht mehr in Betracht kam, wurde das mit der Anstalt eingefädelt. Schlaue Sache. Verflucht gemeine Sache. Half kein Um-mich-Schlagen, wie ich mal drin war, kein Bitten und Rekriminieren. Säß heute noch drin, hätt sich nicht ne rote Zeitung toll für mich ins Zeug gelegt. Na, und so bin ich hier. Nicht um meine Rechte zu wahren, wie man sich auszudrücken pflegt; beileibe; wo gäbs denn da Rechte, wo ist überhaupt Recht; bloß zu ner Art Friedensschluß möcht ich gelangen, und daß ich mich auf vierzehn Punkte versteife, ist nicht zu besorgen, obgleich die ja auch in Rauch aufgegangen sind, alle vierzehn. Nur um einen Punkt handelt sichs. Nur daß mich Lu, wie sag ich, daß sie mich duldet, nicht um sich duldet, nur so . . . duldet. Ist ja nicht notwendig, daß sie mit mir lebt. Sie soll nur, wie sag ich, die Dinge lassen, wie sie sind. Sie soll mir zehn Tage im Jahr, nein, sagen wir acht Tage im Jahr . . . also sagen wir: konzedieren. Geben Sie ihr das zu verstehen, Herr Doktor. Acht Tage im Jahr. Nicht vielleicht acht Nächte, so frech bin ich nicht. Bloß daß ich kommen darf, daß ich dasein darf. Daß ich sie sehen und hören darf. Verachten Sie mich nicht meiner Heillosigkeit wegen, tun Sies nicht, wohledler Herr, der Sie bis jetzt die Geduld hatten, mir zuzuhören. Bedenken Sie, es ist das Gift, das im Blute sitzt. Schauen Sie mich an; eine Ruine. Acht Tage im Jahr, Herr Doktor. Machen Sie es Lu mundgerecht, irgendwie; sagen Sie ihr, daß es sich um Leben und Tod handelt. Was kann ihr an den acht Tagen im Jahr gelegen sein? Darf ich nur noch so nen Glimmstengel anzünden? Danke sehr.«

Laudin blickte wortlos auf den Tisch nieder. Nach einer Weile begann er zu husten. Ein Knäuel war in seinem Hals und verrammelte die Luftwege. Er stand auf, ging zum Mitteltisch, schenkte sich aus einer Karaffe Wasser in ein Glas und trank das Glas zweimal gierig leer, als sei ihm der Gaumen verbrannt. Das Weiße in seinen Augen war gerötet, die Lider waren angeschwollen, der Unterkiefer bebte. Er sah sich um, als wären ihm die Wände lästig, und endlich sagte er: »Sie wissen, daß sich Frau Lu heute abend auf eine Gastspieltournee begibt? daß sie erst in einer Woche zurückkehrt?«

»Ich werde die Woche über warten. Es kommt darauf nicht an, Herr Doktor. Galgenfrist.«

Laudin nickte. »Heute haben wir den dreiundzwanzigsten März,« sagte er, sein Notizbuch zur Hand nehmend, »seien Sie am zweiten April nachmittag um fünf Uhr wieder hier.«

Der Schauspieler erhob sich. »Ich kann also hoffen, daß Sie . . .«

»Ich will den Versuch unternehmen,« sagte Laudin düster; »mit welchem Erfolg, läßt sich nicht bestimmen. Es ist ein Wagnis. Die bloße Diskussion darüber ist ein Wagnis.«

»Gewiß, ich verstehe. Neque enim disputari sine reprehensione potest. Aber ich habe großes Vertrauen zu Ihnen, Herr Doktor. Meine Adresse ist vorkommendenfalls Hotel Drei Raben.« Er nahm seinen schwarzen steifen Hut, auf dessen Rand die gelbledernen Handschuhe lagen, verbeugte sich tief und ging.


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