Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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15

Als er zu Fraundorfer zurückkehrte, fand er ihn auf dem Sofa liegend. Das Zimmer war genau so unordentlich, ungemütlich und kalt wie die übrigen Räume. Es war Schlaf- und Arbeitszimmer zugleich. Das breite, altmodische, mit grünem Stoff überzogene Sofa diente in der Nacht als Bettstatt. An den Wänden hingen ein paar alte Familienporträts, zwei gekreuzte Rapiere mit der studentischen Mütze, ein halbzerschlissener orientalischer Teppich, einige chinesische Masken, ein Regal mit Büchern, und auf einer Holzkonsole grinste das Skelett eines kleinen Hundeschädels. Teegeschirr, Wein und Bierflaschen, Teller mit Speiseresten standen auf dem Schreibtisch, dem Eßtisch und teilweise auf dem Fußboden. Überall lagen Kleidungsstücke, Manuskriptblätter und leere Zigarrenkisten.

Laudin setzte sich; der Stuhl hatte ein zerrissenes Geflecht.

»Da steht im Morgenblatt,« sagte Fraundorfer mit verzogenem Mund und deutete auf eine Zeitung, von der er glauben machen wollte, er habe sie gelesen, »daß ein amerikanischer Prophet geweissagt hat, Europa wird im Jahre neunzehnhundertfünfundvierzig vom Ozean verschlungen werden. Klingt ziemlich hoffnungsvoll. Der Mann könnte aber höheren Orts vorstellig werden, daß die Katastrophe schon ein wenig früher eintritt und uns auch noch zugute kommt. Was meinst du?«

»Laß das jetzt, Egyd,« sagte Laudin ernst. »Wozu die Farce? Wir sind allein.«

Fraundorfer schwieg und kehrte das Gesicht zur Wand. Das Schweigen dauerte lang.

»Wann ist es passiert?« fragte endlich Laudin.

Er wisse es nicht, gab Fraundorfer zurück, immer mit dem Gesicht zur Wand; um dreiviertel neun sei die Aufwärterin zu ihm ins Zimmer gestürzt; sie habe Nikolaus, wie jeden Tag, das Frühstück gebracht. Der Polizeiarzt habe konstatiert, der Tod sei bereits vor vier bis fünf Stunden eingetreten. Er, Fraundorfer, habe nichts gehört, keinen Schuß gehört. Er habe wohl fester als sonst geschlafen. Kein Mensch im Hause habe etwas gehört.

Ob Nikolaus keinen Brief geschrieben habe? forschte Laudin weiter. – Nein, keinen. – Ob Egyd keinerlei Aufzeichnungen bei ihm gefunden habe? – Nein, keine. – Ob er aus den letzten Gesprächen mit Nikolaus irgendwelchen Anhaltspunkt gewonnen, aus seinem Benehmen Verdacht geschöpft habe? – Nein; sie hätten seit gestern mittag, wo sie zusammen ins Theater gefahren seien, nicht miteinander gesprochen. – Ob Fraundorfer nicht dennoch eine bestimmte Vermutung über das Motiv zu der Tat hege? – Keine, als daß dem Buben vielleicht die Liebe zu der Komödiantin in den Kopf gestiegen sei; solche Überspanntheit wäre ihm zuzutrauen gewesen.

Abermals langes Schweigen.

Da begann Fraundorfer zu klagen, er habe seit ein paar Stunden so lästiges Reißen über der Brust, Laudin solle ihm die wollene Decke bringen, die überm Schreibtischsessel hänge. Laudin holte die Decke, und während er sie über ihn breitete und rechts und links unter seinen Körper schob, packte Fraundorfer plötzlich mit beiden Händen Laudins beide Hände, preßte sie mit furchtbarer Kraft und hielt sie wie im Schraubstock. Laudin rührte sich nicht. Er ließ es geschehen. Er sah Fraundorfer an; der hatte die Augen geschlossen, und seine Zähne klapperten aufeinander.

Eine halbe Minute darauf hatte er sein voriges moros-gleichmütiges Aussehen. Doch machte er dem Freund eine sonderbare Mitteilung. Zunächst fragte er, ob Laudin die Leiche bedeckt gelassen, ob er das Linnen vielleicht ein wenig aufgehoben habe. Und als Laudin verneinte, sagte er, es befinde sich an der Schulter, zwischen Oberarm und Schlüsselbein, eine Brandwunde, eine kaum vernarbte Brandwunde im Fleisch; sie könne nicht älter sein als vier oder fünf Tage; was wohl diese Wunde zu bedeuten hätte? eine Wunde so groß wie ein Männerdaumen, tief eingebrannt –?

Nikolaus werde sich verletzt haben, meinte Laudin zögernd.

Nicht einzusehen, wie er zu einer Brandverletzung an der Schulter kommen solle, versetzte Fraundorfer fast zornig. Man müßte nachforschen, fügte er hinzu; am Ende könne die Dercum darüber Auskunft geben. Warum solle es die Dercum nicht wissen? Wenn er mit ihr ein Verhältnis gehabt, müsse sie es wissen, oder denke Laudin anders darüber?

Es sei nicht anzunehmen, daß er mit der Dercum ein Verhältnis gehabt, antwortete Laudin, dem ohne Zweifel in diesem Augenblick das Bild der Schauspielerin vorschwebte, dieses Gesicht »von unbeschreiblicher Wahrheit und Unschuld,« wie er es gestern charakterisiert. Nein, es sei nicht anzunehmen.

Fraundorfer schwieg; er biß an seinen Fingern. Plötzlich stieß er ein Gelächter aus, ein langes, dröhnendes, bösartiges, krampfhaftes Gelächter. Laudin erschrak. Er machte nicht den Versuch, diesem Gelächter eines halb Irrsinnigen und bis ins Mark Gepeinigten Einhalt zu tun. Seine Lippen zuckten.

Dann trat wieder Schweigen ein. Fraundorfer biß an seinen Nägeln. Laudin sah vor sich hin.

Kurz bevor er sich zum Aufbruch anschickte, mit dem Versprechen, am Abend wiederzukommen, erschien eine Frau, die Pia ausfindig gemacht hatte und die während der nächsten Zeit Fraundorfers Wirtschaft besorgen sollte. Sie hieß Pauline Blum und hatte ein angenehmes, stilles Wesen. Fraundorfer ließ sie gewähren. Es kamen dann auch noch andere Leute, Freunde und Bekannte aus der Stadt, die von dem Unglück gehört hatten.


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