Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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60

Eine Viertelstunde später befand er sich in dem Haus Langegasse 20, in welchem Brigitte Hartmann wohnte. Da ihm die Adresse entfallen war, hatte er zuvor die Kanzlei anrufen müssen.

Er wurde von einer schmutzig aussehenden Aufwärterin in einen großen öden Raum geführt, der offenbar als Salon und Kinderzimmer zugleich diente, wie aus allerlei Spielzeug zu ersehen war, schlaff hängenden Gummiballons, Bilderbüchern und Papierhelmen, die auf den mit grünem Rips überzogenen Stühlen und auf dem dünnen Warenhausteppich herumlagen.

Die Tür öffnete sich; Brigitte Hartmann trat auf die Schwelle. Kaum hatte sie den Besucher erkannt, so stieß sie einen Schrei aus und verschwand. Erst nach einigen Minuten erschien sie wieder, diesmal mit einem buntfarbigen Schal um die Schultern und einem lächerlich wirkenden Silberband über der Stirn, das die Haare zusammenhielt. Sie hatte sich, nach dem zehnjährigen Exil im Hartmannshof, völlig in städtische Sitte und Mode gefunden, freilich nach ihrer besonderen Art.

Bestürzung, scheue Freude, unruhige Verwunderung, böses Gewissen irrten über die groben Züge. Sie stammelte nur. Sie stellte einen Stuhl in die Mitte des Zimmers und wischte eifrig über das Polster. Sie ging zum Fenster, zog am Vorhang, kehrte zurück, schob den Stuhl an einen andern Platz, sagte etwas von Krankheit, Nichterwartethaben, früher Stunde und vermied bei alledem ängstlich, den Besucher anzusehen. Ihre Erregung wuchs. Schließlich fragte sie in unnatürlich lautem Ton, ob sie dem Herrn Doktor etwas anbieten dürfe, eine Kleinigkeit, ein Butterbrot, ein Gläschen Sliwowitz, es werde sofort beschafft sein, es koste sie nicht die geringste Mühe, es mache ihr das größte Vergnügen.

Laudin sagte: »Lassen Sie uns die Zeit nicht mit Nebensächlichem verlieren, Frau Hartmann. Der Grund meines Hierseins ist bald erklärt. Ich weiß nicht einmal, ob eine Erklärung notwendig ist. Sie werden ja indessen gehört oder gelesen haben, was sich mit Konrad Lanz ereignet hat.«

In Brigitte Hartmanns Gesicht leuchtete es verstehend auf. Gewiß, Herr Doktor. Natürlich, Herr Doktor. Natürlich habe sie gelesen. Den ganzen Abend habe sie gestern mit ihrer Kusine davon gesprochen. Sie schien von einem Alp befreit; das böse Gewissen verflüchtigte sich, und sie blickte Laudin mit strahlendem Triumph an. Nun, was sage der Herr Doktor dazu? Banknoten fälschen! So ein Lump. So ein Hallunke. Hat sie nicht richtig prophezeit, daß es mit den Leuten ein schlimmes Ende nehmen wird? Oh, sie hat ihre Nase; die Sorte kennt sie; in der Beziehung macht man ihr keinen Plemblem vor. Jetzt ist doch alles sonnenklar. Jetzt steht sie doch reingewaschen da vor dem Herrn Doktor. Jetzt muß er doch einsehen, wie bitteres Unrecht er ihr getan hat. Sie ist ja ganz glücklich. Überglücklich ist sie. Weinen könnte sie vor Glück. Es klingt ja ein wenig herzlos, gewiß; das fremde Unglück soll man achten, aber da sich doch nun, Gott und alle Heiligen seien bedankt, eine Kerze will sie bei den Piaristen drüben stiften, obwohl sie sonst keine von den Allerfrömmsten ist, von den Bigotten schon gar nicht, da sich doch nun ihre Unschuld herausgestellt, darf man ihr das bißchen Freude nicht verübeln. Wie meinten der Herr Doktor? Bitte . . . bitte . . .

Der Redefluß erstarb. Die in die Hüften gestemmten Arme fielen am Leib herunter. Der Blick irrte in die Ecken des Raumes, kam wie befohlen wieder, floh abermals, fand keinen Halt, heftete sich feig und bang in den Blick des Mannes.

Laudin hatte ihr beide Hände auf die Schultern gelegt. Nichts anderes. Er schaute sie an. Nichts anderes. Sein Gesicht hatte den Ausdruck tiefen, heiligen, schmerzlichen Ernstes. Der Druck und die Last der auf ihren Schultern ruhenden Hände des Mannes schienen eine zerbrechende Wirkung auf Brigitte Hartmann auszuüben. Wir gehen vielleicht nicht zu weit, wenn wir sie als eine vom Seelengebiet ins Sinnengebiet hinübergreifende vollkommene Bewältigung und Entwaffnung bezeichnen.

»Als Sie damals das Testament aus dem Schreibtisch Ihres Gatten entwendeten,« sagte Laudin in flüsterndem, nichtsdestoweniger die Worte scharf bringendem Ton, »war Ihnen da nicht bewußt, Brigitte Hartmann, daß Sie mit dieser Tat die bürgerliche Existenz zweier Menschen, Mutter und Kind, vernichteten?«

Brigitte Hartmanns Gesicht wurde gelb wie Stroh. »Ich . . . ich . . . ich . . .« stotterte sie, ebenfalls flüsternd, und kam nicht weiter.

»Und wenn Sie schon stark oder unempfindlich genug waren, über dieses Todesurteil sich hinwegzusetzen,« fuhr Laudin zu flüstern fort, »wie konnten Sie den Mut aufbringen, mir unter die Augen zu treten und meinen Schutz anzurufen?«

»Ich . . . ich . . . ich . . .« stotterte die Frau, und jetzt drang das Gelbe auch in ihre Augen.

»Die Untat kann nicht wieder gut gemacht, aber sie kann gesühnt werden,« sagte Laudin, und seine beiden Hände wuchteten wie Mühlsteine auf den Schultern der Frau. »Ich schätze, es lebt in Ihnen der Wunsch, daß ich Sie als ein gleichgeordnetes Menschenwesen betrachten und würdigen soll, Brigitte Hartmann. Ich habe diesen Eindruck. Ich will Ihnen den Weg zeigen, den Sie gehen müssen, um vor mir, um vor sich selbst als eine Frau dazustehen, die teil hat an der Achtung der Welt.«

Vermutlich hatte Brigitte Hartmann derlei Worte in ihrem Leben nie vernommen. Man kann annehmen, daß das stumme Geständnis in ihren Mienen, die verstörte Willigkeit, die in ihrer Haltung zum Ausdruck kam, viel weniger von einem moralischen Zusammenbruch herrührte, auch nicht von der niederzwingenden moralischen Kraft, die auf sie wirkte, sondern daß sie von einer Traumhysterie ausging; wobei diese freilich wieder eine Folge jener Herzensdürre, eisigen Frostes, Entfernung von aller Zärtlichkeit, aller Reverenz und freundlichen Bindung darstellt, die für Frauen ihrer Art und ihrer Schicht zu gewöhnlich geworden sind, als daß es ihnen jemals beifiele, sich darüber nur Gedanken zu machen, geschweige denn, sich beim Schicksal zu beklagen.

»Was muß ich tun, Herr Doktor?« hauchte sie; »was verlangen Sie von mir. Ich will alles tun . . .«

»Ich verlange, daß das Hinterlassenschaftsvermögen Ihres Mannes zwischen Ihnen und Karoline Lanz geteilt werde. Es ist ein billiges Verlangen, dünkt mich. Sie werden, in meiner Gegenwart, an die Bank schreiben und die entsprechende Summe an meine Kanzlei überweisen lassen. Die Aufhebung der Sperre wird noch heute verfügt. Den Brief werde ich Ihnen diktieren.«

Er entnahm der Aktentasche, die er auf den Tisch gelegt, Füllfeder und einen Bogen Papier, Brigitte Hartmann setzte sich mit marionettenhaftem Gehorsam an den Tisch, ergriff die Feder und schrieb, indes ihre Hand zitterte, was er ihr langsam vorsprach. Als sie ihren Namen unterzeichnet hatte, faltete er den Brief zusammen, steckte ihn in die Brusttasche und sagte, sich verneigend, als nehme er in Gesellschaft von einer Dame Abschied: »Dies war wohl die letzte Episode unserer Bekanntschaft, Frau Hartmann, und wir haben Ursache, uns beide zu beglückwünschen, daß unsere Beziehungen auf solche Weise ihren Abschluß gefunden haben. Leben Sie wohl.«

Diese dürr gesetzte und pedantische Phrase erfüllte ungefähr die Funktion eines Spazierstocks, auf den sich ein vollkommen erschöpfter Mensch stützen muß, wenn er genötigt ist, einer äußeren Form zu genügen.

Brigitte Hartmann sah ihm mit glasig erstaunten Augen nach. Sie lauschte den verhallenden Schritten, dann stieß sie ein kurzes, ein wenig irr klingendes Gelächter aus, das an das Glucksen eines Huhns erinnerte, und sank auf einen Stuhl.


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