Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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36

Es wäre nötig gewesen, mit Luise zu konferieren, nicht nur Mays wegen; es hatte sich eine Menge von Angelegenheiten gehäuft. Aber sie war schwer zu treffen und festen Verabredungen außerdem abgeneigt. Laßt uns sehen. Sie hatte nicht nur einen Zwist mit ihrem jetzigen Direktor, sondern war auch von der Bühnenleitung in Berlin auf Zahlung einer Konventionalstrafe verklagt worden. Ferner hatte sie sich nun doch entschlossen, Laudins juristischen Beistand in ihrer Scheidungsaffäre in Anspruch zu nehmen, aber seit der Besprechung, bei der er ihr nach einigem Schwanken seine Hilfe zugesagt, hatte er noch nicht einmal erreicht, daß sie ihm das unentbehrliche Material und präzise Daten lieferte. Von einem Tag zum andern vergaß sie es oder wich ungeduldig aus, indem sie wichtige Abhaltungen vorschützte, ihre künstlerischen Pläne und Aufgaben, Verdrießlichkeiten beim Theater, Ärger mit Zeitungen, mit Redakteuren, mit Autoren. Es ging ihr nicht schnell genug hinauf; ihr Ehrgeiz war nicht befriedigt; was sie leistete, erfüllte ihre Erwartungen nicht; die Flamme hatte nicht die rechte Nahrung und schwelte; überall waren Hindernisse, Ränke, Neid, Wortbruch, Mißtrauen. »Man kann es nicht aushalten,« zürnte sie und lief durchs Zimmer wie eine Eingekerkerte, Hände auf dem Rücken, Schultern zurückgedreht, »man tritt auf lauter Schlamm und greift in Wind; beständig sind die Dummköpfe und Faulpelze gegen den verschworen, der etwas will und etwas tut. Ich hab keine Zeit, absolut keine Zeit; ich kann nicht herumsitzen in euern muffigen Ofenwinkeln und Maulaffen feilhalten; ich zertrümmer euch die Fensterscheiben. Das tu ich, bei Gott, das tu ich.«

Hatte sie sich derart erbittert, so konnte sie sich gleich darauf vor Lachen schütteln, mit aneinandergerückten Händen und nach vorn geneigtem Rumpf.

Einer ihrer Pläne war, selbst ein Theater zu erwerben. Doch dazu fehlte vorläufig das Geld. »Verschaffen Sie mir Geld, liebster Doktor,« rief sie Laudin zu und sah ihn unwillig an, als wundre sie sich, daß er nicht schon unterwegs war, um es zu bringen; »alle diese Protagonisten, denen Sie, das weiß man ja, die Kastanien aus dem Feuer holen, schnarchen auf ihren Geldsäcken; machen Sie wenigstens, daß das Geld lebendig wird; die Kerle selber können ja weiter schlafen. Lebendiges Geld will ich haben!«

»Wir haben unsre Krösusse noch nicht so weit, daß sie auf Kommando apportieren,« erwiderte Laudin, den die großartige Aufforderung verlegen machte, denn es waren andere Leute dabei, die gesichtslosen Halbbekannten und Herumsitzer, die sich bei der Schauspielerin einzufinden pflegten und ohne die man sie fast nie traf. Es war ihm lästig, wenn ihn Luise in deren Gegenwart auf- und anrief.

Ein anderer Plan, der jedoch schon Umriß gewonnen hatte und der Verwirklichung nahe schien, war die Gründung einer internationalen Filmgesellschaft mit Luise Dercum als Star. An der Spitze des Unternehmens sollte Bernt Ernevoldt stehen. Luise bezeichnete ihn als den hierzu geeigneten Mann. Er hatte die Erfahrung und den Griff. So behauptete sie. (Manchmal stellte sie mit vielem Feuer eine Behauptung auf und ließ gleichzeitig durchblicken, daß sie nicht im entferntesten daran glaubte.) Die Absicht war, ausländische Geldgeber heranzuziehen, und einige, die sich mit bedeutendem Kapital beteiligen wollten, waren bereits gewonnen worden; so versicherte Ernevoldt, und er seinerseits glaubte alles, was er versicherte.

Neben der Sache Altacher, dem von dem Berliner Theaterdirektor angestrengten Prozeß und den schwebenden Scheidungsverhandlungen war es nun diese geschäftliche Transaktion, die eine rege Beziehung zwischen Laudin und Luise Dercum aufrecht erhielt, ja eine fortwährende Übermittlung von Botschaften und Nachrichten mit sich brachte. Ernevoldt erschien fast täglich mit einer Mappe voll Schriftstücken in der Kanzlei, und Doktor Heimeran bemerkte einmal bissig gegen die Kollegen, wenn es so weiter gehe, müsse man eine besondere Kanzlei für die Dercumschen Zivilrechtsfälle errichten, es sei denn, daß die Laudinsche Praxis allmählich auf die Dercumschen Händel zusammenschrumpfe, wozu alle Anstalten getroffen würden.

In der Tat stellte Ernevoldt, schwerfällig und dumpf wie er war, die Langmut und Nachsicht Laudins auf harte Proben. Es mußte ihn betrüben, daß diese atemlos geschwinde Frau sich eines solchen Langsamgehers als Schrittmachers bediente. Viel Zeit verfloß, bis Ernevoldt einen Vertragsentwurf begriffen, bis er seine Einwendungen gegen den oder jenen Vorschlag gemacht hatte; dann kam dies Bedenken und jenes; dann mußte er mit Luise telephonieren; dann brachte er das Projekt einer Reise zur Sprache, und Laudin bewies ihm, daß es ein schädliches Projekt sei; er gab es scheinbar auf; nach einer Viertelstunde redete er abermals davon wie von etwas ganz Neuem; bei alledem sah er behaglich und menschenfreundlich aus, lächelte gutmütig und beschämt und wiegte sich selbstgefällig im Bewußtsein seiner Stattlichkeit und seines Wohlergehens. Niemals büßte er seine Zuversicht ein, niemals zweifelte er am Gelingen seiner Pläne, auch wenn sie noch so abenteuerlich waren, und bei jedem Fehlschlag hatte er sofort, ohne sich zu besinnen, eine neue noch glänzendere Aussicht, auf die er mit dem Phlegma eines Neufundländers zutrottete.

Laudin konnte nicht umhin, Luise in die Bedenken einzuweihen, die ihm Ernevoldts Unzuverlässigkeit erregte. Luise lachte. »Um den machen Sie sich keine Sorgen,« erwiderte sie; »er gehört zu den Leuten, die im Spiel gewinnen, weil sie schlecht spielen, und die aus Zerstreutheit einen nagelneuen Regenschirm mitnehmen, wenn sie ihren alten wo vergessen haben. Ich liebe mutige Sanguiniker. Einem Mann muß glücken, was er angreift.«

Die kurze Unterhaltung, Einleitung zu einer weit bedeutungsvolleren, fand am Abend nach der Vorstellung statt. Laudin war im Theater gewesen. Wenn Luise eine neue Rolle spielte, schickte sie ihm ein Billett. Aber er ging dann auch, um sie ein zweites, ein drittes Mal in derselben Rolle zu sehen, oft nur eine Stunde lang, weil er einen Akt oder eine Szene, worin sie ihm besonderen Eindruck gemacht, wieder auf sich wirken lassen wollte. Diese Theaterbesuche hielt er heimlich; je häufiger sie wurden, je heimlicher; man konnte sagen, er verheimlichte sie vor sich selbst. Er erfuhr dabei Gemütsbewegungen, die er bis dahin nicht gekannt hatte. Er mochte sie als unerwartete und um desto willkommenere Befreiung von dem Druck der Umwelt empfinden; im Verlauf regelmäßiger Gewöhnung brachten sie einen Zustand wie ein heftiges Rauschmittel hervor, dessen Gefahr darin liegt, daß in den Pausen der Entbehrung Körper und Geist erschlaffen. Als ein Mann, dem Selbstkontrolle zum Zwang geworden, gab er sich hierüber keiner Täuschung hin; gewisse rasche, stichwortartige chiffrierte Aufzeichnungen, die er seit einiger Zeit, meist in den späten Nachtstunden, vorzunehmen pflegte, waren wie flüchtige Monologe, in denen er sich Rechenschaft abzulegen versuchte, Warnungen an sich richtete, sich verwundert fragte, wohin er denn steure, und sich zugleich mit wachsendem, höchst sonderbarem Trotz in seinem Tun bestärkte. Die persönliche und private Beziehung zu Luise Dercum war bei diesem Verfahren völlig ausgeschaltet. Er wäre wahrscheinlich in erschrockene Entrüstung geraten, wenn ihm ein überlegener Geist, der den Sinn und Kern von allem durchschaute, zugeflüstert hätte, daß er gerade damit schon begonnen habe, unter falscher Flagge zu segeln, und zwar in einem tückischen Fahrwasser. Es darf nicht unbeachtet bleiben, daß die Mehrzahl der von der Praxis gehärteten und bis ins Tiefste ernüchterten Männer eine beinahe abergläubische Vorstellung mit den Bezirken verbindet, in denen eine Luise Dercum heimisch war, und daß sie deren vielleicht noch tiefere, noch traurigere Ernüchterung gar nicht abzuschätzen vermögen. Äußerlich mißtrauisch, innerlich sehnsüchtig, in jedem Fall neugierig bis zur Lüsternheit, erblicken sie dort, was sie die höhere Welt nennen, eine Vermählung von Freiheit und Schönheit, von Märchenzauber und edler Leidenschaft, von Entfesselung und Beglückung. In dieser Art wandte sich Laudins vergötternde Bewunderung an die Schauspielerin; sie war ihm, zu jener Zeit, als er sich die eigentliche Wahrheit noch vorenthielt, die Siegerin über den trostlosen Werktag, der Genius, der die gequälte Menschheit für ein paar Abendstunden ihre Not vergessen macht.

Er hat sich diese würdigen Ablenkungen von der Tag- und Jahresfron grundsätzlich versagt, das ist etwa der Schluß, den er zieht; er war zu feig, zu benommen, zu getreten dazu; Erziehung hat ihn verknöchert, ununterbrochene Kräfteverausgabung ohne ausgleichende Einnahme hat ihn desillusioniert; die Überbelastung des motorischen Apparats straft sich durch die leerlaufende Klapprigkeit des empfangenden; so hat sich ein Hunger eingestellt, in dem verderbliche Keime allerdings schlummern mögen; verderblich mag es wohl sein, nach der jenseitigen unbekannten Küste zu verlangen, aber ist er denn nicht müde und angewidert von der diesseitigen, hat er denn nicht selbst das Wagnis der Flucht und Umformung mit Worten aus Blut und Schmerz geballt verfochten? Ist es ihm da noch erlaubt, es sei denn, er wolle sich in seinen eigenen Augen zum Phrasendrescher erniedrigen, vor den Folgen zurückzuschrecken, die der Gang ins Dunkle haben kann? Kein Verlust darf gefürchtet werden, am wenigsten der der Persönlichkeit.

Doch fragt es sich, ob jemand, der entschlossen ist, unter Umständen seine Persönlichkeit dranzugeben, auch bereit ist, als kleine Anzahlung etwa, einen Teil seines Vermögens zu opfern.

Dafür sollte an diesem Abend Laudin den Beweis erbringen.


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