Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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37

Sie hatte in einem russischen Stück, das »Natascha« hieß, die Titelrolle dargestellt. Ein junges Mädchen verschmachtet vor Verlangen nach der wahren, großen Liebe, erlebt verschiedene Enttäuschungen, kann die letzte und schwerste nicht verwinden und erschießt sich, während im Hause ein Ball stattfindet, bei den Klängen eines Walzers. Dies der ziemlich dürftige Inhalt des elegischen Dramas. Luise Dercum hatte aber aus dem jungen Mädchen eine Gestalt von tragischer Schwermut und süßestem morbiden Liebreiz geschaffen. In jeder Geste war ihre traurige und ergreifende Geschichte enthalten gewesen, in jeder Biegung und Dehnung der Stimme das unschuldvolle Weh, das über ihrem Schicksal zitterte; das Ende hatte einem mondhaften Hinabgleiten in die Todesflut geglichen, und gewöhnliche, banale Worte hatten sich in Musik verwandelt.

Von Luise aufgefordert, kam Laudin nachher zu ihr. Sie hatte ihm am Telephon gesagt, sie wollten einmal ausführlich über die Geschäfte reden, ein Vorschlag, den er mit Vergnügen aufnahm.

Die gewaltige Erregung, die er im Theater empfunden hatte, war keineswegs verebbt, als er gegen elf Uhr das Atelier betrat. Der Raum wimmelte von Menschen. Mit gepeinigtem Lächeln blieb er an der Tür stehen; es schien, daß er in seiner naiven Erwartung auch diesmal betrogen worden war, daß er auch heute gehofft hatte, Luise, wenn nicht allein, so wenigstens in kleinem Kreis zu finden. Hätte jemand überhaupt auf ihn geachtet, so hätte man aus seiner Miene ablesen können, wie störend ihm alles war: die Helligkeit des realen Zimmers, das allgemeine Gelächter und Geschwätz, die Gläser und Teller, die von dienstbaren Geistern eilig herumgetragen wurden, die Mischung von Vertraulichkeit, Witzigkeit, Eifrigkeit und Zweckerfülltheit, die das Wesen aller dieser Leute kennzeichnete. Denn vermutlich war er der einzige unter den Gästen, der aus seiner erhöhten Sphäre kam, der einzige, bei dem die Kunst der Schauspielerin erreicht hatte, was das Ziel ihres zuhöchst getriebenen Ehrgeizes sein mußte.

Vielleicht wußte es Luise. Sicherlich spürte sie es. Als sie ihm die Hand reichte und er sich langsam und stumm vor ihr verneigte, war ein stolzes Funkeln in ihren Augen. Sie umfaßte und drückte seine Hand in einer Art, die ihn sehr glücklich machte, weil Verständnis seiner Gemütsstimmung darin zu liegen schien. Es konnte jedenfalls als eine schweigende Auszeichnung betrachtet werden. Auch seinen erstaunt und beklommen fragenden Blick, der ungefähr ausdrückte: ist es möglich, daß die, die da alltäglich und greifbar vor mir steht, nicht Natascha ist? daß man zurückkehren kann von dort und mit Menschen umgehen, mit untergeordneten, farblosen, nichtssagenden Menschen? auch diesen Blick deutete sie richtig und etwas spöttisch geschmeichelt.

Nach dem Gesprächsfragment über Ernevoldt verlor er sie für eine Weile aus den Augen; er hörte sie nur manchmal lachen oder mit der tiefen rauhen Stimme sprechen. Mehrere Personen redeten ihn an; er antwortete artig, ohne zu erfassen, was sie gesagt hatten. Da fiel irgendwo der Name Nikolaus Fraundorfer. Er horchte auf und näherte sich einer Gruppe, aus deren Mitte der Name aufgeflogen war. Es waren Schauspieler und Schauspielerinnen, die sich in salopper Haltung auf Ottomane und Lehnstühlen breitmachten und in lebhafter Unterhaltung begriffen waren. Sie sprachen über Luise, die kaum drei Schritte weit von ihnen entfernt saß, einem Agenten lauschend, der angelegentlich auf sie einredete, indes der geckenhaft gekleidete Baron mit dem preziösen Mienenspiel, der an ihrer andern Seite saß, ihr hie und da etwas zuflüsterte; sie sprachen von dem tristen Anfang von Luises Laufbahn, dem beispiellosen Aufstieg, den sie genommen, und wie sie nun in ebenso beispiellosem Glück von Erfolg zu Erfolg eilte. Hierbei beschwor man unter den üblichen Zeremonien den bösen Geist, pochte mit dem Knöchel unter die Tischplatte und spuckte aus. Ein feister Bonvivant, der trotz joviallächelnder Befriedigung dies alles nicht ohne verhaltene Mißgunst schien gelten lassen zu wollen, wie wenn man, unter Kollegen, doch nicht im Zweifel darüber sein könne, wie dergleichen zustande kam, äußerte mit erhobenem Zeigefinger, noch vor einem halben Jahr habe sie dem Publikum und der Kritik nichts zu Dank bieten können; die Leute hätten bloß den Kopf über sie geschüttelt; dann sei auf einmal der Teufel in die gute Lu gefahren, und zwar, wohlgemerkt, seit sie das Verhältnis mit dem kleinen Kapellmeister, dem Fraundorfer gehabt; der sei ihr zum Glücksschweinchen geworden, und erst recht, seit er sich eine Kugel ins Gehirn gejagt. Eine junge hübsche Person, die eine Federboa um den Hals trug, pflichtete aufgeregt bei und behauptete, ähnliche Fälle seien ihr viele bekannt; daß der Tod eines Liebhabers Erfolg bringe, habe ihr schon die verstorbene Soundso gesagt; sie nannte den Namen einer vergessenen Bühnengröße; übrigens sei sie ja dabei gewesen, als Lu den Nikolaus Fraundorfer kennengelernt; es habe was Elementares gehabt, ein richtiger coup de foudre von beiden Seiten. »Nun, unsre Lu hat ja auch nicht lange gefackelt,« sagte der Bonvivant, nahm sein Glas und schwenkte es gegen Luise hinüber, »sie hat sich nicht bitten lassen und hat ihn mit Haut und Haar gefressen. Ists nicht so, Lu?« rief er ihr zu, »in der Beziehung warst du von jeher mit einem großartigen Appetit gesegnet. Prosit, Lu!« Offenbar war Luise keine Silbe von dem Gespräch entgangen; Laudin, der regungslos hinter dem Stuhl der Dame mit der Boa stand, schaute stumm erwartungsvoll zu ihr hinüber, auf einen Ausbruch gefaßt, empörte Widerrede, ein aufflammendes Auge; nichts von alledem geschah; sie trank das Glas mit Wein leer, winkte nachlässig mit der Hand, und das Haupt ein wenig drehend sagte sie gelangweilt, zerstreut, doch ohne Zorn: »Ach, laßt doch die Albernheiten, Kinder.« Sonst hatte sie nichts zu entgegnen, und dabei streifte sogar ihr zerstreut lächelnder Blick Laudin, dessen Blässe und Unbeweglichkeit ihr unbedingt auffallen mußten.

Wie betäubt ging er auf die entgegengesetzte Seite des Raums. Er lehnte sich an einen der Pfeiler, die dort die Decke trugen, und da er fühlte, daß seine Stirn feucht war, zog er das Taschentuch und wischte sie ab. Er schrak leicht zusammen, als er, in ungewisser Entfernung, einen ihm bekannt erscheinenden Menschen gewahrte, einen hochgewachsenen, vornehm aussehenden Mann im Smoking.

Es war sein eigenes Bild in einem schiefhängenden Spiegel.

Eine weiche Stimme traf ihn und fragte, ob er sich nicht wohlfühle. Es war May, die ihn von einer Ecke aus, wo sie die ganze Zeit einsam und unbemerkt gesessen, beobachtet hatte. Er sah sie scharf an und blieb die Antwort schuldig; als er nach dem Wasserglas auf der Tablette langte, die ihm der aufwartende Diener hinhielt, zitterte seine Hand. »Haben Sie gehört, was die Herren und Damen da drüben über Frau Lu reden?« fragte er mit Schüchternheit; »sie ziehen sie geradezu in den Schmutz, und sie wehrt sich nicht einmal.«

»Wovon haben sie denn gesprochen?« erkundigte sich May mit verschlossener Miene.

»Sie sprachen von dem jungen Menschen, dem Sohn meines Freundes . . .«

Mays Gesicht wurde noch verschlossener. Sie erhob sich und trat nahe an ihn heran. »Was Sie über Lu hören, müssen Sie vergessen,« sagte sie, und ihre Mondsteinaugen hatten plötzlich etwas leidvoll Umherirrendes. »Gut oder bös, das gilt nicht. Lu brennt. Feuer ist nicht gut und nicht bös. Man kanns nicht fassen, man kanns nicht formen. Manchmal wärmt es, manchmal zerstört es. Grausam oder wohltätig, lieblos oder wunderwirkend, wahr oder trügerisch, ganz egal, aber es ist, es ist da, es lebt. So ist es mit Lu. Es genügt, daß sie da ist. Wenn man sie anders nimmt, muß man verzweifeln, ich weiß es, ich weiß es.« Sie schlug die Hände vors Gesicht, und merkbar lief ein Schauer über ihre Schultern.

Erstaunt hob Laudin die Brauen. Er hatte viele Beweise einer schier sklavischen Abhängigkeit Mays von Luise Dercum, aber er hatte sich die Beziehung auf natürliche Weise zu erklären versucht, hatte ihr natürliche Vorgänge und Empfindungen zugrunde gelegt. Jetzt, seine Miene zeigte es, sah er etwas anderes darin, etwas Unheimliches fast, jener Gattung von Zuständen angehörend, die ihm stets als ungesund, lichtscheu und unziemlich erschienen waren und durch die sich ein Geschöpf aus der Reihe der gleichgestimmten und sittlich verantwortlichen ausschloß. Er stammte aus einem andern Jahrhundert. Die von 1880 herkommenden Menschen sind unbewußt in ihrem Weltgefühl familienhaft gebunden. Die Bemühung, davon frei zu werden, hebt nur das Gesetz in ihnen auf, erweitert aber ihre Form nicht.

»So ist es wohl, gewiß, gewiß, so mag es sein,« stotterte er mit der Anstrengung, höflich und zustimmend zu erwidern, »die Ausnahme müssen wir konstatieren, gewiß.« Vordem hätte er wahrscheinlich eine Erklärung wie diejenige Mays, Deutung eines widerspruchsvollen und dunklen, doch immerhin in die Gesellschaft eingefügten und sogar inbrünstig zu ihr strebenden Charakters als überspannt und überschätzend abgewiesen. Er hätte, damals, ungefähr geantwortet: sie sei begabt, sie sei erlesen, sie sei von Genie gekrönt; zugegeben; um so tiefer sei sie verpflichtet, um so strenger wollen wir die Gebiete abgrenzen, um uns nicht vom regellosen Unwesen verwirren zu lassen; zollen wir ihr Anerkennung; spenden wir den Beifall, den sie verdient und von dem sie sich nährt; aber hüten wir uns, ihr irgendwelche Sonderrechte einzuräumen, und machen wir vor allem aus der Komödiantin keine Heilige; es könnte sie sonst verlocken, unsere Andacht zu einem Possenspiel zu mißbrauchen.

Noch vor wenigen Wochen hätte seine Replik so oder ähnlich gelautet; nun aber war das Urteil in ihm unheilbar getrübt, aus der Bahn gerissen durch Natascha und alles, was von Nataschas Herkunft, Geist und Art war, so daß die gegenwärtige Luise Dercum nur ein Schattenbild darstellte und Natascha (oder Käthchen, oder Hannele, oder Ophelia) die eigentlichen Originale waren, die gebeugten, sensitiven, seelenvollen, unschuldigen und vom Schicksal verfolgten Teile, aus denen sich sozusagen die immanente Luise Dercum zusammensetzte.

»Sie könnten mir, Fräulein May, einen Dienst leisten,« fing er an, stockte aber sogleich, als er Mays wieder zugeschlossene Miene sah. Mit ihrem eigentümlichen Erratungsvermögen ahnte sie offenbar, was er von ihr wollte. Er biß sich auf die Lippen, drei Worte noch, und er wäre zu weit gegangen, hätte sich der Spionage schuldig gemacht in ihren Augen; in seinen war er feig. Unverständlich war dies; es war, als liefen alle Wege in einen Knäuel.

Sie wurden von Luise unterbrochen. Vertraulich schob sie ihren Arm in den Laudins und ging mit ihm auf und ab. Es kamen immer noch Gäste, doch der Raum war groß genug, daß sie sich verteilen konnten. Aus der Schauspielerecke schmetterten Lachsalven auf. Ein paar junge Leute hatten sich quer über den runden Mitteltisch gelegt, um den andere einen Kreis gebildet hatten, und einer las unter jubelndem Hallo ein Scherzgedicht vor. Neben dem großen Fenster ließ sich eine Gruppe von Pokerspielern nieder. Abermals zog Laudin das Taschentuch, um sich die Stirn abzutrocknen. An Luises Seite gehend, schien es ihm, wie wenn er über menschliche Körper hinwegsteigen müßte, und er sagte in einem bescheidenen und mühsam galanten Ton, es sei liebenswürdig von ihr, daß sie sich seiner annehme; er habe eben die Flucht ergreifen wollen.

Nichts da, antwortete sie, er habe zu bleiben; hier könnten sie beide ganz getrost und verschwiegen promenieren. Zuerst wolle sie ihm erzählen, wie der Besuch Mays bei Konstanze Altacher verlaufen sei. Sie gab sich eine gelockerte Miene; um ihren beweglichen Mund lag es wie Wortungeduld, wie Wortgenäschigkeit, als sie zu berichten anfing.

Abgesehen von dem tränen- und schmerzensreichen Brimborium, das nun einmal zum Repertoire dieser Dame zu gehören scheine, sei das Fazit folgendes gewesen: sie wolle May auf die Dauer von zehn Jahren eine jährliche Pension aussetzen, deren Höhe noch zu bestimmen sei; dagegen habe sich May in einer notariellen Urkunde zu verpflichten: erstens keinerlei Ansprüche an die Familie Altacher mehr zu stellen; zweitens das über seine Ehe niedergeschriebene Memorandum und sämtliche Briefe, die der Verstorbene an sie geschrieben, auszuliefern; drittens habe sie in besagter Urkunde eidesstattlich zu versichern, daß zwischen ihr und Altacher niemals ein sträfliches Verhältnis bestanden habe. Soweit die Bedingungen, fuhr Luise in verächtlichem Ton fort; und nicht etwa, daß diese Monstrositäten geschäftlich kühl wären vorgebracht worden, sondern sie seien mit dem widrig schmeckenden Zucker von allerlei Reden über gemeinsames Los und gemeinsame Trauer versüßt gewesen, auch das Verlangen nach Freundschaft habe man durchblicken lassen und den Wunsch nach gegenseitiger Aussprache, da doch ein Schmerz, wie sie ihn erlitten, jedes Vorurteil breche und ein Dasein der Mißkennung und der vergeblichen Opfer, wie sie es geführt, das Herz einer Frau liebefähiger und milder stimme, wenigstens, was ihre Person betreffe. Ihr Gefühl sei nicht erkaltet, in keiner Weise, und mit Freude wolle sie sich eines Wesens annehmen, das dem unvergeßlichen Toten so nahe gestanden wie May. Und so weiter, und so weiter, Doktor Laudin werde wohl auf die wörtliche Übermittlung verzichten. Er bemerke ja: sie und immer wieder sie; ihr Gram, ihr Schicksal, ihre Großmut, ihre herrliche Gesinnung, sie und nur sie, nichts anderes. Jawohl, schaltete Laudin mit gesenktem Kopf ein, der Dünkel, der unsägliche Dünkel. Gut, sprach Luise weiter, zwei Tage nachher sei ein Brief von ihr gekommen, worin sie, nach eingehender Rücksprache mit ihrem Anwalt, die Summe fixiert, die Pension, nach ihrer geschmackvollen Bezeichnung (denn, nicht wahr, geschmackvoll sind sie, diese Damen der bürgerlichen Gesellschaft, zartsinnig und vornehm?), und was glaube Laudin, wie hoch sie sich verstiegen in ihrer Rührung und neugebackenen Freundschaft? Was glaube er? sie geniere sich, es zu sagen, es koste einfach ein Lachen, es handle sich etwa um das Jahrgeld eines entlassenen Bahnwärters, einen richtigen Unterstützungsbeitrag.

Luise hatte sich dicht vor Laudin hingestellt, ihn an beiden Armen gepackt und schaute ihn glühendspöttisch an, als ob sie sagen wollte; da hast du die Deinen, da hast du deine Welt, nun sprich, Verteidiger! verteidige dich. Sie sah hinreißend aus. Es war entschieden ein glücklicher »Moment.«

Er schwieg.

»Ja, sie wollen alle zahlen,« murmelte sie mit geringschätzig herabgebogenen Lippen; »sie wollen für ihre Fehltritte zahlen und für die ihrer Gatten und Söhne; auch für die Kränkungen, die sie ihren Kutschern, Friseurinnen und den Geliebten ihrer Männer zufügen, wollen sie zahlen; aber nicht viel, beileibe nicht viel. Ein Trinkgeld; den Unterstützungsbeitrag; und wenn sie sich begeistern und einem schwören, daß man einen neuen Menschen aus ihnen gemacht hat, das kommt ja vor, auch Blumen schicken sie einem, auch Gedichte, aber das ändert nichts, gehts ans Zahlen, so fangen sie an zu feilschen, und der Tempel wird zum Trödelmarkt.«

Laudin schwieg, als sei er wirklich ein überführter Angeklagter und als habe er gar nicht bemerkt, wie geschickt sie Mays Angelegenheiten mit ihren verkuppelt hatte; dann sagte er gleichsam tröstend, und die Erbitterung brach noch durch, er habe einen Punkt in der Korrespondenz gefunden, von dem aus er gegen die Frau werde vorgehen können.

»Ein toller Lärm dahier,« sagte Luise ärgerlich; »die Kollegen halten schon beim Kognak, ergreifen wir die Flucht. Ich habe Ihnen noch etwas mitzuteilen, lieber Freund; kommen Sie.«

Wie bei seinem ersten Besuch führte sie ihn in das hinter dem Atelier gelegene kleine Gemach, forderte ihn zum Sitzen auf und setzte sich ihm gegenüber.

Sie verschmäht die Vorbereitungen. Sie fällt mit der Tür ins Haus. Es handelt sich um die Filmgesellschaft. Sie sieht in dem Unternehmen eine Möglichkeit zu ungeahnter Entfaltung ihres Könnens. Es ist ein Weg nicht bloß zum Weltruhm, sondern auch zum Reichtum. Sie will nicht in den Dienst einer fremden Anstalt treten, weil sie sich mit ganz bestimmten und eigentümlichen Plänen trägt, deren Ausführung bei den rein merkantilen Interessen der meisten bestehenden Gesellschaften auf Schwierigkeiten stoßen würde. Was für Pläne dies sind, wird sie ihm später einmal anvertrauen. Sie hat Ideen in Fülle; ihr Gehirn brodelt von Fabelhaftem. Das Theater liegt in den letzten Zügen; Theater wirkt nicht mehr aufs Volk; die Zukunft gehört dem Film. Gut. Sie hat ein Angebot von einem deutschen Kapitalisten. Sie kennt zwar den Mann, hält aber nicht viel von ihm; er ist einer von den Emporgekommenen, und sie hat Grund, seine Eitelkeit und Machtgier zu fürchten. Sie will das Geld lieber von einem Freund haben. Sie hat an Laudin gedacht. Nötig ist ein Betrag von dreißigtausend Goldmark. Die Sicherheit, die sie bieten kann, ist ihr Talent, ihr Stern, ihr Name. Daß Laudin reich ist, weiß sie. Daß er, wenn es um sie, ihr Gelingen, ihre Sache geht, keine kleinlichen Ängste und Bedenken haben wird, hält sie für gewiß. Er soll ihr sagen, wie er zu dem Vorschlag steht. Keine lange Überlegung; sie hat keine Zeit zu warten, sie muß morgen früh telegraphieren, er muß ihr heute noch antworten: Nein oder Ja.

Man kann einem Mann nicht kaltblütiger das Messer auf die Brust setzen. Nein oder Ja. La bourse ou la vie. Ist denn Laudin so reich, wie Luise in begnadeter Unbekümmertheit anzunehmen scheint? Schüttelt er dreißigtausend Goldmark aus dem Ärmel? Ist er nicht vielmehr ein sorgsamer Hausvater, der sein Vermögen Schritt für Schritt erarbeitet und es bedächtig verwaltet hat? Keineswegs arm. Es gebricht ihm nicht an Mitteln. Kapitalien sind festgelegt, andere sind im Fluß. Er hat gut gewirtschaftet; politische Reife und eine gewisse pessimistische Voraussicht haben auch in dieser Beziehung Früchte getragen, und die Praxis war namentlich in den letzten Jahren äußerst lohnend gewesen. Man erzählt sich, daß viele von seiner Kanzlei erlassene Expensennoten in die Hunderte von Millionen betragen haben. Man ist rangiert, man zählt zu den Oberen, zu der starken Phalanx der Gesellschaft. Aber der auf einen herkömmlichen und bedingten Bewegungsradius des Geldes eingerichtete bürgerliche Geist hat sich Beschränkungen zu unterwerfen, die ungeschriebenen Gesetzen gleichzuachten sind. Frivol und leichtfertig, ein beträchtliches Stück des Barbesitzes vom zinsentragenden Ganzen loszureißen und einem Zweck zu widmen, der fragwürdig und verlustdrohend schon deshalb ist, weil Sachkenntnis mangelt und das Ergebnis nicht berechnet werden kann. Ein Abenteurerstreich.

Andererseits: hier wird eine menschliche, persönliche, in unleugbare Verbindlichkeit geratene Haltung aufgefordert, ihre Wertigkeit zu beweisen. Hier ist Natascha (oder Käthchen oder Ophelia oder Hannele) und spricht: zieh die Konsequenzen; Maske herunter! Zeige, was du bist: Genießer, Schwärmer, Lüstling, Enthusiast in Gefühlen, die nichts kosten, oder Bekenner und Verfechter. Ist es Spaß oder Ernst? Sind wir auf dem Trödelmarkt oder im Tempel?

Luise, die den deutlich wahrnehmbaren inneren Kampf des Advokaten mit malitiöser Ironie beobachtete, zündete eine Zigarette an und sagte kühl: »Mit den dreißigtausend ist es natürlich nicht getan. Es ist der vierte Teil von dem, was man braucht. Aber für den Anfang genügt es. Requisiten leihen wir aus, Stücke machen wir selbst, die Hauptzugkraft haben wir, die ergebenst Gefertigte nämlich, die Reklame großen Stils will Herr Max Ortelli, der draußen sitzt und mit dem ich eben Bruderschaft getrunken habe, ein gewitzter Kopf, Chef eines großen Inseratenhauses, einstweilen so übernehmen, daß man ihm ein Aktienpaket gibt; diese Formalitäten übernehmen Sie ja ohnehin, Doktor; wenn dann die Sache einmal läuft, besonders, wenn es bekannt wird, daß unser Geldgeber, Phönix wird die Gesellschaft heißen, daß der Advokat Laudin den Phönix aus der Asche hebt, fließen uns Kapitalien zu, soviel wir wollen. Na? wie stehts? Haben Sie sich entschlossen?«

Laudin verneigte sich. »Sie sind außerordentlich expeditiv, Frau Lu,« sagte er mit ruhiger Würde; »der Betrag steht Ihnen selbstverständlich zur Verfügung.«

»Gut,« nickte Luise; »sehr gut. Ich habe es nicht anders erwartet. Sie sind der, für den ich Sie genommen habe. Sie sind ein Mann. Sie sind ein Freund. Sie kneifen nicht, Sie winden sich nicht, Sie klappern nicht mit den Zähnen, wenns mal um einen Einsatz geht; schön; ausgezeichnet; danke.« Sie reichte ihm beide Hände und erlaubte es, daß er sie in den seinen festhielt. »Das übrige erledigen wir morgen,« fügte sie hinzu.

»Darf ich auch meinerseits eine Bitte wagen,« begann Laudin zögernd, sie an den Händen näherziehend und den ernsten, durchdringenden Blick auf sie heftend, »darf ich, sofern ich wirklich der Freund bin, als den Sie mich akzeptiert haben, darf ich Sie fragen, liebe Frau Lu, auf Herz und Gewissen fragen, was es mit dem Gerede Ihrer Kollegen und Kolleginnen da draußen, den armen Nikolaus Fraundorfer betreffend, auf sich hat? Seien Sie mir nicht böse, Kind; nicht wahr, Sie sind ja ein Kind, gegen mich und meine Jahre gehalten, ein wunderbares, anbetungswertes Kind, aber doch ein Kind. Zürnen Sie also dem unverbesserlichen Pedanten nicht, nehmen Sie ihm die Zweifelslast von der Seele: was ist vorgegangen? Was steckt hinter diesen Reden? was ist wahr? was ist Klatsch und bloße Zungenübung?«

Luise war außerordentlich verwundert. Welche Reden meinte er? welches Gerede? Ach das, das von vorhin? Was die da draußen gefaselt hatten? Unsinn. Was will Laudin denn? Unsinn. Sie macht ihre Hände frei und streicht ihm mit der einen nachlässig durchs Haar, flüchtig nur, doch mit spöttischer Zärtlichkeit, die ihn emporblicken läßt, schaurig beklommen emporblicken wie ein Tier im Zwinger. Sie weiß nichts. Auf Ehre, so wahr sie eine Seele hat, sie weiß nichts. Alles ist weggeblasen. Leider. Ihr bleibt nicht viel in Kopf und Herz. Sie wird sich schon wieder erinnern. Zum Kuckuck, was verhört er sie denn immer in dieser alten faulen Sache? Wie eigen, auf einmal wird sie zornig. Ist er denn ein Untersuchungsrichter, he? Sie stampft mit dem Fuß; ihr Gesicht bekommt einen zugleich leidenden und wilden Ausdruck. Ists vielleicht ein Verbrechen, daß sie den Buben geküßt hat? Hätte sie aufnotieren sollen, wie oft und an welchem Tag? Hätte sie ihm Gartenlaubenpoesie vordeklamieren sollen? Sie lacht. Sie schlägt die Hände zusammen, biegt den braunen Hals zurück und lacht. Sie kniet vor Laudin nieder, kauert sich auf den Boden, stützt das Kinn auf sein Knie und sieht ihn mit strahlendem Lachen an. Und er, in fassungsloser Bestürzung, sammelt Atem in seiner Brust und sucht den Sinn in diesem Spiel. Falls es ein Spiel ist. Man kann es nicht durchschauen.

Es wird an die Tür geklopft. Jemand reißt die Tür auf. Luise wirft sich rittlings auf den Teppich und lacht noch immer. Schäferstunden seien nicht gestattet, quiekt eine betrunkene Stimme. Lu soll kommen, Lu wird benötigt. Lu soll Poker spielen. Laudin erhebt sich, fordert wortlos artig, daß man ihn hinauslasse, draußen herrscht erst recht tobende Aufgebundenheit, das Gelächter Luises flattert hinter ihm her; im Vorraum stehen Leute; als er endlich im Besitz seines Pelzes und seines Hutes ist, muß er sich auch hier eine Gasse zum Ausgang bahnen; auch hier links und rechts Gelächter, seltsam grundloses, hackendes, brummendes, klirrendes, kettenartiges Gelächter. Noch auf der Stiege, noch unten im Hausflur hört er es dröhnen, kichern und meckern.


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