Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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Er leugnet nicht: die Frage hat ihn irritiert. Doch ist es ja seines Amtes, auf Fragen zu antworten. Im Grunde war es nicht May, die gefragt hat, es war nur ihre Stimme. Gefragt hat die Welt; vielleicht auch einer von oben. Er kommt sich vor wie an die Wand gedrängt und als sei ihm so lang der Weg verbarrikadiert, bis er geantwortet hat. Um klar und genau zu sein, müßte er eigentlich weit in die Vergangenheit zurückgreifen, aber er würde daran schnell müde werden. Er ist ohnehin schon in mancher Hinsicht müde. Ungewiß auch, ob es nicht ein Versuch am untauglichen Objekt wäre. Menschen seiner Art bestehen, grausam es zu sagen, aber es ist so, letztlich durch einen Gedächtnisdefekt, durch den sie gezwungen sind, immerfort gegenwärtig zu sein, bei Tag wie bei Nacht, im Handeln wie im Ruhen. Das Übermaß von Gegenwart schlägt alles hinter einem liegende Leben in Trümmer. Ärger noch, es entheiligt es. Er hat nur seine Gegenwart, nichts sonst; er produziert nur Gegenwart, nichts sonst. Oben, unten, vorne, hinten, rechts, links: schauderhaft leerer Raum.

Er kann den Zeitpunkt nicht bezeichnen, von welchem ab in seinem Geist die Sehnsucht geboren wurde, ein anderer zu sein als er ist. Das fühlbare Erlebnis davon: Überdruß am eigenen Wesen, an dem stahlhart und unveränderlich Dauernden, das man den Charakter nennt, das Soundsosein, einmalig, unverrückbar, fortsetzungslos, entwicklungslos. Es mag mit seinem Tun und Verrichten zusammenhängen, der seelischen Totengräberarbeit, zu der ihn Leben und Beruf verpflichtet; daß er immer nur die starre Seelenmasse der Menschen in die Hand bekam, und was niemals eins geworden, noch je hätte eins werden können, noch je in schmiegsamen Fluß geraten, noch auch willens dazu gewesen, von Natur und Bestimmung nicht und durch Erkenntnis und sittliches Verlangen nicht, daß er dies auseinander hat reißen müssen, wodurch es Stückwerk vom Stückwerk wurde, Konglomeratabfall. Nichts hat werden können im Schoß dieser Gesellschaft und Menschheit, nichts hat entstehen können, vor seinen Augen nicht, unter seinen Händen nicht. Das hat sich zurückgeworfen in die Nacht des inneren Seins; gegen die Erstarrung im Charakter, Charakter im weitesten Sinn, hat sich der zermalmte Mensch drinnen zur Wehr gesetzt und wollte verwandelt werden; im Traum ist ihm das eigene Ich als Mörder entgegengetreten, und er hat mit ihm um sein Leben gerungen, ums irdische Teil gefeilscht, ums gegenwärtige, einsame, verlorene Teil. Und anders dann, wachend, vor dem Tatenspiegel, ums künftige, ums auferstandene, oder ums vergangene seinetwegen, ums verlorene. Ist doch am Ende jeder selber sein verlorener Sohn und kehrt zurück ins Vaterhaus, wenn ihm die Flügel gebrochen sind.

So also. Laudin, unlöslich in seiner Starrheit, unerlöst von sich selber, trifft am Kreuzweg Luise Dercum, die ewig Verwandelte, die täglich Verwandelbare. Wunder des Geschickes; da ist nichts von Charakter; da ist alles löslich und erlöst. Da ist keine Ursache, da ist keine Wirkung; da ist kein Grund, da ist keine Folge. Ein Leib nur. Doch der Leib ist fast ohne Gesetz. Seele? Kann man Seele heißen, was von tausend Seelen her in ein Becken geronnen ist, um, wie in der Alchimistenretorte, plötzlich einen neuen, geisterhaften Stoff zu bilden? Ist da Lüge, wo niemals Wahrheit war, Wahrheit nicht begriffen wird und gar nicht sein kann? Alle Kräfte und Blutströme, Ahnentum und dunkles Naturtreiben schmelzen bei ihr im Augenblick göttlicher Selbstliebe und Selbsttrunkenheit zur Gestalt zusammen, und wieder ist Gestalt nur Bildnis und Gleichnis, fortrinnendes Element, zeugendes und verwandeltes. Ist nicht mehr da, wenn man sie fassen will, hat nicht Gesicht noch Auge, steht nur im Zauberkreis vor den an sich selbst geketteten Millionen Laudins und zerfällt in nichts, in unbestimmte Eigenschaften und Begierden, wenn sie ins Leben herabsteigt. Umarme sie; du drückst einen Schatten an deine Brust; nimm sie für einen Menschen; du mühst dich, Wasser in der hohlen Hand zur Kugel zu ballen; stelle sie vor Nein und Ja und zwei mal zwei: das Wort wird Gespenst und die Zahl Gelächter.

Und so ist Laudin an sein Schicksal geraten, als sei es von tausend Jahren her vom spekulativsten Kopf über den Sphären errechnet und als habe die Parze Fäden von den äußersten Enden der Spule tiefsinnig ineinanderschlingen wollen, um zu prüfen, was für ein absonderliches Geflechte daraus würde, Gott oder dem Teufel ein Wohlgefallen. Er muß es aushalten. Er muß sich beugen. Er kann nichts anderes tun als von Weile zu Weile in die Höhe blicken und rufen: was solls, Herr? wohin führst du mich? was hast du vor mit deinem Knecht? Vergeblicher Ausblick, vergeblicher Ruf, wie zu befürchten ist, denn er und seinesgleichen haben den Herrn, der da hören soll, längst um dreißig Silberlinge verschachert.

Er stand noch einige Minuten, knöpfte den langen Gehrock sorgfältig zu, sah die Mondsteinaugen des jungen Mädchens saugend auf sich gerichtet, nahm Mantel und Hut und verließ abschiedslos das Zimmer.


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