Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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12

Trotz seiner gegenteiligen Versicherung erriet Pia, daß er noch nicht zu Mittag gegessen habe, und ließ nachservieren. Er vertilgte beträchtliche Mengen Fleisch, Gemüse, Salat, Kompott und Mehlspeise, trank eine für ihn warmgestellte Flasche Chambertin leer und reichte bisweilen unter Pias stiller Mißbilligung, die für die Sauberkeit des Teppichs fürchtete, seinem Hündchen einen Bissen hinab. Herr Schmitt kauerte bescheiden und winzig neben den ungeheuern Füßen seines Meisters.

Er berichtete, daß er einer Schauspielerin zuliebe ins Theater gegangen sei; besser gesagt, dem Niki zuliebe, der auf diese Schauspielerin große Stücke zu halten scheine; Luise Dercum heiße sie; man habe sie aus Berlin importiert; er halte zwar nicht viel von Berliner Importen, sei aber hingegangen, weil ihm der Niki keine Ruhe gelassen habe. Der Bub kenne sie schon seit dem Sommer; eine Zeitlang sei jedes dritte Wort von ihm die Dercum gewesen; die Dercum hin, die Dercum her; der Name sei ihm schon auf die Nerven gefallen; Dercum; klinge es nicht wie ein Stärkemittel oder wie ein neuer Likörersatz? Na, dann habe der Kleine wochenlang den odiosen Namen nicht weiter im Munde geführt; heute morgen habe er ihm plötzlich das Billett gebracht, es sei die erste große Rolle, in der die Dercum hier auftrete, in einem neuen französischen Stück. Zwar habe er nicht sonderlich gedrängt; wenn es dich interessiert, Vater, dann geh, habe er gesagt; diese heuchlerische Gleichgültigkeit habe ihn, Fraundorfer Vater, jedoch geärgert, auch ein wenig neugierig gemacht; er halte, Laudin wisse es ja, Neugier für eine Tugend, eine Entdeckertugend, und da er schon lange den Verdacht gehegt, zwischen dem kleinen Nikolaus und der besagten Dercum gehe etwas vor, habe er einen Anlauf genommen und sei in das Theater spaziert.

Gefallen habe ihm das Frauenzimmerchen nicht übel. Publikus allerdings habe wieder einmal in gewohnter Manier übers Ziel geschossen und einen unanständigen Begeisterungslärm vollführt. Anzuerkennen sei eine hübsche Begabung für das beliebte Fach: weiblicher Satan mit Cherubsseele; süßer Kern in bitterer Schale; doch alles in schlauer moderner Aufmachung. Für ihn sei ein Schauspiel im Schauspiel der dumme kleine Niki gewesen. Bleich sei er dagesessen, die Stirn von Schweiß betropft; regelrecht gezittert habe er und kaum daß der Vorhang zum letztenmal gefallen, sei er davongestürzt wie von Bauchgrimmen geplagt.

Fraundorfer wiegte den Schädel und zwinkerte mit weinfeuchten Augen erst Laudin, dann Pia zu, mit einem unsicheren Blick, als prüfe er heimlich, ob seine Erzählung beifallswürdig sei oder nicht. »Übrigens wollte ja der Kleine heute nachmittag herauskommen,« sagte er; er hätte Marlene versprochen, mit ihr vierhändig zu spielen . . .

»Nein, Marlene wollte ihm vorsingen,« erwiderte Pia; »eine italienische Arie. Sie hat die ganze Woche mit Feuereifer geübt. Das Kind hat ja eine reizende Stimme. Sie müßten sie mal hören.«

Fraundorfer winkte erschrocken mit der Hand ab. »Ach, ich, Frau Pia,« sagte er; »alles Singen klingt mir wie Bleistiftspitzen, was doch das ärgste Geräusch auf der Welt ist.«

Die Herren gingen in die Bibliothek. Fraundorfer setzte sich breit in einen Sessel, zündete eine Zigarre an, faltete die Hände über dem Leib und schaute behaglich vor sich hin. Herr Schmitt war ihm gefolgt und schlummerte zu seinen Füßen, die Schnauze zwischen den Pfoten.

Laudin wanderte auf und ab.

Es begann eine sonderbare Art von Gespräch. Es hörte sich an wie ein Selbstgespräch Laudins; Fraundorfer gab nur schläfrige Antworten, schenkte den Worten seines Freundes, scheinbar wenigstens, nur geringe Beachtung, blinzelte träg in die Luft, ganz dem Verdauungsgenuß hingegeben, blies Rauch von sich und beugte sich von Zeit zu Zeit vor, um an das Hündchen eine Frage zu richten: »Was ist Ihre Meinung, Herr Schmitt?« oder: »Wir sind uns darüber noch nicht ganz klar, wie, Herr Schmitt?«

Allein wenn Laudin ihm den Rücken kehrte, spähte er unter den verdeckten Lidern aufmerksam und verwundert zu ihm hinüber, denn was er vernahm, war ihm ziemlich neu und zwang ihn offenbar zu unbequemem Nachdenken.

Was Fraundorfer, da er doch so etwas wie ein Philosoph sei, von der Identität halte? fragte Laudin und lächelte gleichsam listig hinter dem Schnurrbart hervor. Von der Selbstheit eines Menschen nämlich, von der Unveränderlichkeit seines Charakters? Oder was sei das im Grunde, was man Charakter nenne, diese oft so diffuse Zusammensetzung von Eigenschaften, die in ihrem gemeinsamen Bestand und in ihrem Auswirken ein Ich ausmachten, ein Selbst? Wie lästig und zu gleicher Zeit auch beängstigend, immerfort und ein ganzes Leben lang ein und dasselbe Individuum vorstellen zu müssen; einen Tag wie den andern auf dieselben Ursachen in derselben Weise zu reagieren! Es nehme sich wie eine Kerkerstrafe aus: du, Friedrich Laudin, bist verurteilt, fünfzig oder fünfundfünfzig oder sechzig Jahre hindurch der und der zu sein, Friedrich Laudin eben und kein anderer, verurteilt zu der und der Stadt, zu dem und dem Haus, zu dem und dem Tun, und nicht den kleinen Finger kannst du anders rühren als es dem Aggregatzustand, etikettiert Friedrich Laudin, entspricht.

Und doch gäbe es Augenblicke eines geheimnisvollen Aufruhrs, wo eine Flamme im Gehirn oder in der Seele hinüberzucke in ein fremdes Ichgebiet und in die Möglichkeit einer unbekannten Verselbstung. Wie, wenn einer zum Beispiel müde würde seines Ichs? eines Tages gründlich und unheilbar müde der Despotie des eigenen Charakters? dieses Konglomerats von Gewohnheiten, Neigungen, Geschäften, Redeformen, Denkformen? da stehe er doch sozusagen gegen sich selber auf? das sei doch geradezu, wie wenn ein Spiegelbild lebendig werde, um auf eigene Faust zu handeln? Man stelle sich vor: ein Arzt habe genug von den wetterwendischen Hypothesen der Wissenschaft; er habe genug davon, einen Beruf auszuüben, der ihn nötige, die Unzulänglichkeit seiner Mittel und die eigene vollkommene Skepsis mit einer irreführenden Sicherheit zu verkleben; habe genug von den um Rettung flehenden Blicken der Todgeweihten, denen er nicht helfen kann, genug von den Fragen, auf die er keine Antwort weiß und doch eine hat; genug von Rezepten, Methoden und Regeln und genug von den Standesvorurteilen, in die er durch stillschweigende Gegenseitigkeitsverträge hineingewachsen ist wie ein Kieselstein in einen Eisblock. Wolle er heraus, so halte ihn der Rahmen fest; wolle er sich einem andern Fach zuwenden, so müsse er die Entdeckung machen, daß ihm nicht einmal so viel Fertigkeit gegeben sei wie ein Tischler besitzt, um ein Brett zu hobeln; er habe vielleicht Familie; er habe Kinder; da werde jeder freie Entschluß gezügelt, jede entscheidende Erkenntnis erstickt, und er müsse bis zu seiner letzten Stunde fortsetzen, was er in der ersten begonnen, unerbittlich, unwandelbar, und wenn er darüber wahnsinnig würde.

Kein Zug in Fraundorfers Gesicht verriet, daß ihm diese Reden des Freundes irgendwelchen Eindruck machten oder daß er irgendeinen Schluß daraus zog; am ehesten noch hätte man etwas wie Langweile wahrnehmen können, und wenn es eine gespielte Langweile war, so war sie gut gespielt. Er räkelte sich faul und warf in seiner faulen, gequetschten Mundart hin: »Ich habe es ja immer gesagt: der ganze Planet ist mißlungen. Die Institution Menschheit, wie wir sie bis dato überblicken können, ist eine lächerliche Stümperei. Man müßte eine wirksame Beschwerde einreichen. Es fragt sich nur, bei wem. Da wird einem natürlich geantwortet: Gott. Aber das einzig Gute an Gott ist ja gerade, daß er nicht existiert. Finden Sie nicht auch, Herr Schmitt?« Er lachte in kurzen, schläfrigen Stößen.

Laudin nahm ein Buch aus dem Regal, blätterte zerstreut darin und stellte es wieder an seinen Platz. Alle Weisheit der Weisen bringe einen nicht weiter, fährt er fort; nicht so weit, daß man die Berufskette zu einer anständigen Freiheit lockern könne. Wie es mit dem Arzt stehe, so stehe es mit dem Lehrer; wie mit dem Lehrer, so mit dem Priester; wie mit dem Priester, so mit dem Anwalt. Auf jedem Gebiet werde ein Ideal von Selbstlosigkeit aufgerichtet (aha, Egyd Fraundorfer, hörst du das Wort? merkst du, wie die Sprache für uns denkt und unsere geheimen Kümmernisse signalisiert?), ein völlig lügnerisches Ideal von Selbstlosigkeit, jawohl, denn jeder Versuch, es zu erreichen, werde mit den härtesten Strafen belegt, die die Gesellschaft ersinnen kann. Was für eine mißliche Sache zum Beispiel, Rechtsvertreter zu sein, wo es kein Recht gebe. Eine verteufelt windige und unehrliche Sache, im Namen von Gesetzen zu reden und zu handeln, die nur geschrieben seien und nie gelebt würden. Man sei gleichsam bei einem Juwelier in Dienst, der ein prunkvolles Schild und in der Auslage herrliche Perlen und Edelsteine hat, indes er in seinem Laden die schmutzigsten Wuchergeschäfte betreibt, an denen teilzunehmen man einen Eid geleistet, der einem in Unkenntnis der Verhältnisse erpreßt worden ist. Oh, die Bitterkeit! Könnte man all die Bitterkeit ausgießen, die man in sich trägt, das Pflaster einer ganzen Stadt würde überschwemmt davon.

Er ging herum und ging herum, Hände auf dem Rücken. Fraundorfer rauchte und schwieg. Auf seiner Stirn bildeten sich Faltenwülste. Er hatte offenbar die Lust an ablenkenden Sarkasmen verloren. Wenn durch ein unvermutetes Naturspiel eine Wand durchsichtig wird, ist man immerhin begierig zu erfahren, was sich hinter der Wand zuträgt.

Man vernahm, aus dem Musikzimmer, sehr gedämpft, den Gesang Marlenes.

Was hätte Laudin noch sagen sollen? was noch sagen dürfen? Er ging herum und ging herum. Er rückte ein etwas schief hängendes Bild an der Wand gerade. Er glättete mit seinem Fuß eine eingeschlagene Ecke des Teppichs. Er öffnete auf dem Lesetisch eine Mappe und betrachtete eine Radierung, ohne sie zu sehen. Dann ging er wieder, Hände auf dem Rücken, herum.

Plötzlich blieb er dicht vor Fraundorfer stehen und sagte: »Es ist mir jedesmal peinlich, mein lieber Egyd, wenn du dich, wie vorhin bei Tisch, über deinen Sohn Nikolaus mokierst. Es kommt mir vor, als wenn sich ein Mensch darüber lustig machte, daß ihm ein gottbegnadeter Maler ein reineres und schöneres Abbild seiner selbst vor Augen hält. Und warum tust du es? Weil sich in dir eine gewisse fixe Idee von deinem Charakter geformt hat, nicht von der Art, wie du wirklich bist, sondern von der, wie du zu sein glaubst und wie du glaubst, daß wir dich sehen. Aber die gefällt dir besser und schmeichelt dir mehr als die wirkliche, Gott weiß, weshalb. Laß es doch sein, Egyd. Warum den jungen Menschen überflüssigerweise in unserer guten Meinung verkürzen? Warum etwas vorläufig noch Ganzes zerstückeln? mutwillig verkleinern? Schau einmal, diese Sechzehn- und Achtzehnjährigen sind ja unsere eigentlichen Gläubiger, und wir stehn so verzweifelt hoch in ihrer Schuld, daß es in Worten gar nicht mehr auszudrücken ist. Du weißt es ohnehin. Wer soll schließlich wissen, was die Glocke geschlagen hat, wenn nicht jemand wie du? Wenn ich solchen Sohn hätte, ich würde mich um seine Freundschaft bewerben, als wäre er ein Hochwürdenträger, und mich in seine Phantasie einschmeicheln wie ein Weib. Ein Sohn ist ja doch der Wegweiser ins Zukünftige. Wir wollen lehren, doch wir reichen denen, die fliegen können, bloß Krücken. Töchter müssen wir beschützen; mit fünfzehn sind sie fertige Menschen, wir haben keine Macht mehr über sie, eines Tages erscheint ein Quidam und maßt sich Rechte über sie an, und wenn wir gute Miene zum bösen Spiel machen, tun wir noch das Gescheiteste. Mein Hubert, der liegt ja noch in den Windeln, und wie er werden wird und ob er werden wird, steht dahin. Du aber hast einen jungen Adler in deinem Nest und führst dich auf, als wärs eine Dohle. Und das alles einer Spiegelfechterei zuliebe.«

Fraundorfer sandte einen dumpf-spöttischen Blick zu Laudin empor, schlug aber die Augen sofort wieder zu Boden. Er schmatzte befriedigt, suchte zugleich mürrisch auszusehen, und alles dies war so eigentümlich, wie wenn er einen Moment lang befürchtet hätte, durchschaut zu sein, dann aber diese Befürchtung als grundlos erkannt hätte und sich im stillen darüber amüsiere.

»Ei ja,« quäkste er breit; »Strafpredigt nach dem Mittagessen; gemildert durch die Opulenz selbigen Mittagessens. Schön, schön. Du sammelst goldene Worte auf meinem Haupte. Oder sollt ich sagen: feurige Kohlen?« Er lachte schmetternd, als Laudin sich unwillig abkehrte, und bat um Pardon. Es sei ihm interessant, wirklich interessant, die stürmische Parteinahme Laudins für die Jugend. Wenn ein Friedrich Laudin, gewissermaßen geprüfter Welt- und Menschenkenner, sich so entschieden zu den Optimisten geschlagen habe, müsse einen das stutzig machen. Spiegelfechterei? Nein. Er, Egyd Fraundorfer, wisse mit besagter Jugend nichts anzufangen. Für ihn sei sie der geometrische Ort von Verwirrungen, Verfinsterungen, törichten Eitelkeiten und falschen Prätensionen. Die durchschnittlichen jungen Leute heutzutage und wahrscheinlich aller Tage seien so blitzdumm in der Beurteilung der Lebensverhältnisse wie sie dreist in der Selbstbehauptung und unfähig zur Selbstregierung seien. Wozu ihnen einen Glorienschein spenden? In seiner Geschäftsniederlage seien überhaupt keine Glorienscheine zu haben, die habe er lang vor dem Eintritt in sein frühes Greisenalter zu billigen Preisen veräußert.

Da falle ihm ein, weil sich doch Laudin so altruistisch für Nikis Wege und Irrwege entflamme, daß er auf dem Schreibtisch des Sohnes ein Bild der Luise Dercum gefunden und zu sich gesteckt habe. Eigentlich aus Ärger; die Person schaue gar zu romantisch-verloren in die Welt, wie wenn sie nicht das harmloseste Wasser trüben könne; abends, wenn er heimkomme, werde er das Ding wieder an seinen Platz stellen, der Bursche glaube sonst an Wunder was für Attentate. Laudin möge doch den unbestechlichen Seelenforscherblick dran erproben; er müsse sich aber vor Augen halten, daß er das Bild einer Komödiantin vor sich habe; also Abstriche von vornherein, sonst blamiere er sich.

Er kramte in seiner Rocktasche und brachte zuerst ein paar Geldscheine hervor, sodann ein Schokoladefragment, an dem Brotkrumen klebten; dann mehrere Zigarrenstummeln; endlich die Photographie, die er Laudin hinreichte und an der der Aufenthalt in der Tasche nicht spurlos vorübergegangen war.

Laudin blies lächelnd Staub, Asche und Tabak von dem Bildnis weg und schaute es an. Seine Miene wurde ernst. Er ließ den Arm sinken, hob ihn wieder und schaute von neuem. »Das ist nun freilich . . .« begann er stockend und sonderbar grübelnd, »das ist allerdings ein Gesicht von unbeschreiblicher, von erstaunlicher Wahrheit und Unschuld.«

Fraundorfer grunzte; offenbar machte er sich lustig über die Äußerung des Freundes. Laudin gab ihm das Bild zurück, und er verstaute es wieder in dem unsauberen Behältnis seines Rocks.


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