Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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51

Da ihm May hatte mitteilen lassen, sie sei bettlägerig, ging er am nächsten Tag zu ihr. Sein Geist war benommen, und körperlich fühlte er sich wie jemand, der einen schweren Fall getan hat.

Als er kam, verließen gerade sechs oder sieben Personen ihr Zimmer, Männer und Frauen. Es war ein Greis darunter, eine ältere Dame und zwei sehr junge Leute. Sie fielen ihm allesamt durch ihre friedlichen, heiteren, fast verklärten Mienen auf. Etwas Unschuldvolles war in ihrem Gehaben, und sie sprachen leise und zart miteinander, als fürchteten sie, laute Worte seien verletzlich. Ein Mann in mittleren Jahren mit einem braunen Vollbart und einer Brille hatte ein so kindlich reines, förmlich entlastetes Gesicht, daß Laudin seinen Schritt im Vorübergehen unwillkürlich hemmte und ihn erstaunt anblickte.

Es waren Freunde von May, Erleuchtete.

»Wie erlangt man Eintritt in die Gemeinde?« fragte er, als er an Mays Bett saß.

»Man muß den Glauben haben,« antwortete sie.

»Den Glauben? welchen Glauben?«

»Man muß an das ewige, unzerstörbare Wesen glauben.«

»An Gott, meinen Sie?«

»Der Gottesbegriff hängt vorläufig noch mit irgendeiner bestehenden Religion zusammen. Wir haben aber mit keiner dieser Religionen etwas zu schaffen, denn wir haben keine Dogmen, keine Lehrsätze und keine Kirche. Wir erkennen das Wesen nur durch Verinnerlichung und Versenkung.«

»Gut, aber wie erwirbt man den Glauben?«

»Durch Entsagung, durch Keuschheit und Geduld.«

»Leben alle diese Männer und Frauen keusch?«

»Alle.«

Er sah sie stumm an. Ihr stets entfärbtes Gesicht überflammte sich. Sie sprach stockend: »Wenn uns eine Elementarmacht in den unvollkommenen Zustand niederzwingt, wächst die Kraft der Sehnsucht. Das feindliche Prinzip kann wie ein Gewitter in der Seele wirken.«

»Darin liegt viel fromme Heuchelei,« antwortete Laudin; »wir machen uns manche Dinge nur deshalb klar, weil wir gegen die Stimme des Gewissens gerüstet sein wollen. Oder die des Blutes.«

Mit abirrendem Blick sagte May: »Oft denk ich an Sie wie an einen allwissenden Arzt. Dann wünsch ich mir, in Ihre Hand gegeben zu sein.«

Laudin schüttelte trübe den Kopf. Sie schwiegen eine Weile.

»Ich wollte Ihnen schon lange von Edmund erzählen,« nahm May wieder das Wort; »um so mehr, als ich mich innerlich noch nicht zurechtgefunden habe, ob ich nicht doch mitschuldig bin an dem Zusammenbruch seiner Ehe. Wenn überhaupt da von Schuld gesprochen werden kann. Das Verhältnis war ja morsch. Er hat es gewußt, sie nicht. Ich habe anfangs sogar noch zu stützen gesucht. Ich hatte eine heilige Scheu davor, zwischen zwei Menschen zu treten, die in einer Ehe verbunden sind. Es war etwas Unantastbares für mich. Auch Edmund, als ich ihn kennenlernte, betrachtete die Ehe als ein Sakrament. Nicht aus kirchlichen und religiösen Gründen, sondern aus seiner ganzen Beziehung zur Welt. Er hing sehr an seinen Kindern; ich habe selten einen Mann gesehen, der die Pflichten eines Vaters so ernst nahm; doch über das Pflichtgefühl hinaus war noch die zärtlichste Liebe in ihm; er hat mir erzählt, daß er in den ersten Lebensjahren der Kinder eine Zeitlang Nacht für Nacht ein oder zweimal an ihre Betten gegangen ist; er konnte nicht ruhig schlafen, wenn er es unterließ. Es war soviel Ehrfurcht vor den Kindern in ihm; eigentlich hatte er insgeheim beständig Angst um sie. Und da ist wahrscheinlich etwas Sonderbares geschehen; die Angst hat sich damals auf Konstanze übertragen; aber weil sie eine durch und durch rationalistische Natur ist, verwandelte sich bei ihr die Furcht vor dem Schicksal sogleich in Wahn und Aberglauben. Statt sich dem Unerforschlichen zu beugen, wollte sie ihm zuvorkommen und hatte für alle Übel ihre Rezepte, bis sie schließlich auf die gefährlichsten Quacksalbereien verfiel, in jeder Hinsicht.«

»Aber das ist ja nur eine von den vielen Verfallserscheinungen, an denen gerade diese Ehe so reich war,« schaltete Laudin ein; »je mehr ich darüber nachdenke und je mehr ich von Ihnen höre, desto mehr kommt mir die Altachersche Ehe wie ein Paradigma vor. Es steckt alles im Keim drin und wird an zwei typischen Vertretern abexperimentiert, was gesetzmäßig festzustellen dringend nottut.«

»Sie haben recht,« antwortete May. »Vor allem eins, und davon hat auch Edmund gesprochen. Er sagte: das ganze Problem der Ehe ist eine Frage des Tempos. Aus der Tempoverschiedenheit erwuchs auch ein großer Teil seiner Qualen, angefangen von den alltäglichen Selbstverständlichkeiten, wo Verabredungen eingehalten werden müssen und das Essen pünktlich auf den Tisch kommen muß, bis zu . . . nun, bis zu dem, was zwei Menschen nur allein voneinander wissen. Aber es hängt auch davon ab, in welchem Schritt sie zusammen auf der Straße gehn. Meinen Sie nicht? Ich habe beobachtet, daß, wenn zwei in gleichem Takt marschieren, immer der zuerst müde wird, der besser und schneller geht. Der andere, kann er seinen eigenen Takt nicht durchsetzen, hilft sich mit seiner Schwäche, bleibt beleidigt zurück – und ruht sich aus. Aber die Müdigkeit von dem, der schnell schreitet, ist geistig; eines Tages sieht er, daß er nicht bloß schneller gegangen, sondern daß er geflohen ist, um nicht mehr durch das tödliche Tempo gelähmt zu werden, und sein Gefährte ist weit hinter ihm zurückgeblieben. Das klingt alles so unscheinbar, und doch ist es so wichtig. Edmund konnte stundenlang davon sprechen, so sehr hat es ihn beschäftigt. Konstanzes Verhängnis war, daß sie bei allen solchen Gelegenheiten seinen guten Willen verdächtigte, als ob er wohl anders gekonnt hätte, aber von vornherein sie vergewaltigen wollte. Sie redete sich immer hartnäckiger in die Vorstellung hinein, daß sie sein Opfer war; in Wirklichkeit verhielt es sich so, daß sie ihn durch eine Art von Herrschsucht, die in der Welt nicht zum zweitenmal vorkommen dürfte, von Tag zu Tag mehr unterjochte. Das muß ich Ihnen erklären, denn es ist höchst merkwürdig. Ich habe ja viel über Konstanze nachgedacht. Ich wollte sie verstehen, schon weil ich Edmund helfen wollte, der an nichts so sehr litt als daran, daß er mit seiner Phantasie unablässig in dieser Frau drinnen war und im Grunde nie ganz von ihr loskommen konnte, mehr von dem Schatten, den sie warf, als von ihr selber. Sie kannte aber auch die Macht, die sie über ihn besaß, und nutzte sie gehörig aus. Ein willensschwacher Mann, werden Sie sagen. Das ist es nicht. Ich könnte Ihnen Vorfälle erzählen, bei denen Sie sogar sagen würden: ein feiger Mann. Und doch ist es nicht so. Jede Ehe wird durch die festgehaltene Richtung des einen Teiles bestimmt, scheint mir. Der Stärkere ist, wer eine Eigenschaft, gut oder schlecht, das ist egal, so in sich entwickeln kann, daß er damit den andern in ein Schuldverhältnis bringt. Ich weiß nicht, ob ich mich deutlich ausdrücke. Nun ist Konstanze eine Frau von außergewöhnlicher Leidenschaftlichkeit, bis zur Wildheit, bis zur Selbstvergessenheit, und hat vom ersten Tag an, sicher nicht planmäßig, sie ist eben, wie sie ist, Edmund mit der phantastischen Überzeugung erfüllt, daß sie bloß durch ihn existiere, daß sie gleichsam durch höheren Beschluß an ihn gebunden sei. Eine seltsame Art von Liebe, eine Besessenheit fast. Freilich weiß sie stets, was sie tut. Man mußte nur hören, wenn sie sagte: mein Mann. Mein! Da lag alles drin; als hätte sie ihn verschlungen. So hatte es aber Edmund nicht gemeint, als er die Ehe schloß. So hatte er sein Leben ganz und gar nicht anlegen gewollt. Er war wie überrumpelt, und das dauerte viele Jahre, ohne daß es ihm bewußt wurde. Er hätte einen freien Menschen neben sich gebraucht, einen, dem die geistigen Dinge wirklich waren, nicht nur schöner Schein. So wurde er nach und nach erdrosselt durch die unbedingte Abhängigkeitserklärung. Es war eine wunderliche und auch gefährliche Verdrehung des Besitzrechtes, wodurch er eben ein Eigentum wurde und sich auch so fühlte. Sie begreifen, was für eine Unterlegenheit hieraus entstehen mußte, wieviel Unrast, wieviel Flucht und innerer Konflikt, besonders wenn Empfindung und Berechnung, Ekstase und Vernünftelei so unlöslich ineinander verquickt sind wie bei Konstanze. Sie hat ihn in der Hand gehabt, hat ihn sozusagen auf Distanz regiert, auch dann, wenn er ihr zuwiderhandelte, und aus besserer Einsicht, aus Sehnsucht nach Freiheit und Bewegung zuwiderhandelte. Es war wie eine seelische Gefangenschaft, und ganz, ganz allmählich nur versuchte er den Bann zu brechen. Was ich da mitgemacht habe. Wie verstört er manchmal kam, mit abgerissener Haut förmlich; die vergeblichen Worte, die er gesagt, hingen wie Dornen an ihm. Ich weiß, daß er nächtelang an ihrem Bett gestanden ist, um sie zu trösten, aufzurichten, zu beschwichtigen, zu lehren. Bis zum Morgengrauen mühte er sich, die Zusammenhänge wieder herzustellen, zwischen ihr und ihm, ihr und den Menschen, ihm und seinen Freunden, alles, was sie verzweifelt und erbittert in ihrem Gemüt zerstört hatte. Weil aber meistens Erbärmlichkeiten der Anlaß waren, nicht zu fassen und nicht zu sagen was für welche, ein verlegter Brief vielleicht, oder ein Schmutzfleck auf dem Teppich, oder ein mißverstandenes Wort, merkten sie alle zwei nicht, wie tief es ging. Oder wollten es nicht sehen, er nicht in seiner bangen Knechtschaft, und um die Töchter nicht zu verlieren, und aus Angst vor Entschlüssen, die seine Existenz umwälzen mußten, und vor allem aus Mitleid mit ihr, mit ihrer unglücklichen Natur; sie nicht aus ihrer schrecklichen Verblendung und in ihrem Leid. Denn wie muß sie gelitten haben, auch sie! Wie ein Hund. Sie hat sich ja nicht selber geschaffen, sie ist ja auch da wie wir alle und handelt nach ihrem Gesetz und liebt nach ihrem Gesetz. Und das wußte und fühlte Edmund, und es lähmte ihn wie mit Ketten. Wie fremd einander die Nahen sind, und wie immer das Verwandelte das Unverwandelte mitreißen und in seine Influenz hüllen will, und wie unmöglich es doch ist!«

Laudin saß da, als hörte er nicht. Ein Zug von Geistesabwesenheit lag auf seinem Gesicht. Nach langem, beinahe peinlichem Schweigen und indem er sich einen Ruck gab, sagte er: »Ich muß immer an das Wort Ihres toten Freundes denken, daß die Institution der Ehe nicht mehr tragfähig, nicht mehr lebensfähig ist. Es wird mir täglich mehr zur Wahrheit. Wenn ich mir so die Menschen ansehe und miterlebe, was sie tun und wirken und beschließen, und wie sie gegeneinander wüten und einander zerfleischen, und am meisten in dem einen, wo sie alles auf das sogenannte Glück stellen, auf den Bund innerhalb der Gesellschaft zum Schutz gegen die Gesellschaft wie zur Förderung der Gesellschaft, auf die eigene soziale Sicherheit wie auf das Gedeihen der kommenden Generationen, wenn ich mir das ansehe und mir vor Augen halte, was statt dessen täglich und stündlich geschieht, an Sünden, die zum Himmel schreien, an unausmeßlicher Torheit und Schlechtigkeit und Blindheit, so sage ich: das kann keinen Bestand haben. So sage ich: da muß aufgeräumt werden. Besser Anarchie, besser das Chaos, besser das Nichts als das. Weg damit und von vorn anfangen. Mit irgend etwas neu beginnen, nur fort mit dieser Lüge, dieser Fratze, dieser Weltschande, diesem unseligen Gemengsel von Zwang und Ausbrecherei, von öffentlicher Moral und nicht weniger öffentlichem Laster, das einmal, in schamhafter Vorzeit, heimlich war. Es macht die Menschen böse, es macht sie verstockt und gemein, von Tag zu Tag mehr.«

Er hatte ruhig gesprochen, in einem sonderbar träumerischen Ton, mit gefalteten Händen. May richtete sich erschrocken auf und fragte, die verschleierten Mondsteinaugen groß öffnend: »Aber sollen sie denn zusammen leben wie Tiere?«

»Ich gestehe, es kostet einige Überwindung, sich einzubilden, daß sie momentan etwas anderes tun,« erwiderte Laudin; »außerdem würde ich fürchten, die Tiere ungebührlich herabzusetzen, wollt ich den Vergleich als zutreffend anerkennen. Auch die niedrigsten Arten vermischen sich nach den weisen Gesetzen, die ihnen die Natur vorschreibt.«

»Aber das ist doch keine Anschauung, über die sich rechten läßt; es ist ein Verzweiflungsausbruch.«

»Mag sein, mag sein, gute May.«

»Dabei kann sich ein Mann wie Sie nicht beruhigen. Was schwebt Ihnen vor?«

Laudin beugte sich weit vornüber. »Es schwebt mir vor,« entgegnete er, immer in demselben träumerischen Ton, »eine große Sklavenbefreiung. Eine große Ruhepause in der Ausübung der Gesetze, ja ihre vollständige Annullierung. Dann, nach einem Jahrzehnt oder zweien, müßte man sie sich neu bilden lassen; ich sage bilden lassen, nicht fabrizieren; das heißt, sie müßten von einem Areopag der besten, einsichtsvollsten und tiefsten Geister aller Nationen nach den neuen Erfahrungstatsachen und im Sinn einer hohen sittlichen Erkenntnis in vorsichtiger Weise neu formuliert werden. Haben Sie mal etwas von der sogenannten sibirischen Ehe gehört? Es ist dort üblich, daß sich ein Mann und eine Frau einzig nach den Gesichtspunkten freier Wahl und freien Entschlusses verbünden, ohne den Segen der Kirche und ohne behördliche Gutheißung. Es ist das, was wir mit einem deprekativen Ausdruck, den unsere gesetzgeberischen Moralhüter erfunden haben, Konkubinat nennen. Überraschenderweise hat sich herausgestellt, daß solche Verbindungen nicht bloß viel dauerhafter sind als die unter staatlicher oder priesterlicher Vormundschaft geschlossenen, sondern daß die beiden Partner, da ja ihr Beieinanderbleiben lediglich auf der Freiwilligkeit eines jeden beruht, in der Mehrzahl der Fälle, auch unter ganz einfachen Leuten, in ihrem gegenseitigen Verkehr sich voller Rücksicht und Schonung zeigen. Aber es schwebt mir noch etwas anderes vor . . .«

Er machte eine Pause, strich über die Stirn und fuhr fort: »Es schwebt mir etwas vor wie die Umbildung eines Gesellschafts-Ideals. Ein Gedanke, mit dem ich viel gerungen habe und der immer wiedergekehrt ist, in allerlei Formen. Immer ging es um das Ich, immer um das Selbst; weil wir doch in Selbstheit und Selbsttum ertrinken. Bald handelt es sich um die Auslöschung des Ichs, bald um seine Sprengung, bald um sein Hinüberfließen in andere Gestalt. Ist ein Individuum in seiner Daseinsform unbefriedigt, so sucht es eine neue, ihm gemäßere und wahrscheinlich auch freudigere. Ich kann den Glauben nicht mehr von mir weisen, daß der Einzelpersönlichkeit infolge der modernen Überbetonung und seit dem Christentum keine praktische Wirksamkeit mehr zukommt, ihre Bedeutung eingebüßt hat. Es muß erst wieder Humus dafür geschaffen werden; Menschenhumus. Ich finde, der einzelne ist nicht mehr wichtig für die Gesamtheit, soweit ihre seelische und sittliche Verfassung in Frage steht. Wichtig ist nur das Paar. Für jedes männliche und weibliche Individuum gibt es nur eine einzig mögliche Ergänzung, davon bin ich durchdrungen. Was die menschliche Gesellschaft durch die beständige Zunahme wirklich zusammengehöriger Paarwesen gewänne, an Frieden, an Lust, an Schwung, an Reinheit und an Reinlichkeit, ist kaum auszudenken. Daher sollte man alle Beschränkungen in der Wahl fallen lassen; Männer wie Frauen dürften nicht gehindert werden, weder durch das moralische Odium noch durch die Paternitätslast, weder durch Mutterschaft noch durch die Tugendprämie, alle im Bereich ihres Wunsches und ihrer Phantasie stehenden Erscheinungs- und Erlebnisformen der Liebe durchzuproben und auszuleben. Besitzen sie Instinkt, so werden sie ihn schärfen; regt sich in ihnen ein Wille zur Gemeinschaft, so wird er sie an ein Ziel führen. Nur nicht das, was jetzt Ehe heißt. Alles, nur nicht das. Besorge man nicht Verwilderung der Sitten oder gänzliche Auflösung. Was kann Schlimmeres kommen nach dem, was uns die Brust beschwert und den Geist verdüstert? Kein Preis ist zu hoch, selbst für den bloßen Versuch zur Wandlung. In jedem Menschen, auch im scheinbar gesetzlosesten, ist eine natürliche Neigung zur Gleichgewichtslage vorhanden. Die wird und muß über die Entartungen schließlich siegen. Ein hysterischer Krampf verkittet unsre Welt mit Bräuchen und Gesetzen, die einmal sinnvoll und notwendig waren, von denen aber heute nur die leeren Hülsen übrig geblieben sind. Seit wir die Todesstrafe abgeschafft haben, gibt es nicht etwa mehr Mörder, sondern weniger. Delikte erziehen Verbrecher, Strafen erzeugen Verbrechen. Es ist etwas im Menschen, etwas Wundersames: eine unauslöschliche Sehnsucht, daß dem Guten in ihm Vertrauen geschenkt wird, auch wenn von dem Guten nur ein winziges Korn da ist. Aber schließlich, wozu das alles?« seufzend stand er auf; »es sind Blasen, Schäume.«

»Nein, vielleicht doch nicht,« sagte May versonnen; »vielleicht schlummert der Gedanke in vielen Seelen. Vielleicht muß man ihn nur einmal aussprechen und verkündigen . . .«

»Die Erfahrung hat mich gelehrt, daß das Ausgesprochene und Verkündigte zwei Tage, nachdem es ausgesprochen und verkündigt ist, nichts mehr bedeutet,« versetzte Laudin. »Es wird zur Theorie, und wenn die Theorie gehörig beschwatzt ist, macht man einen Gemeinplatz daraus.«

»Paarwesen . . .,« murmelte May versonnen; »es klingt nach etwas Hohem, aber wird es denn in der Wirklichkeit bestehen? Die Geburt jedes Kindes verändert die Verpflichtungen, die zwei Menschen gegeneinander haben. Zieht nicht das Kind die Mutter vom Vater weg? Ich habe die glücklichsten Vereinigungen gesehen, und wenn dann die Kinder da waren, wurde alles grau und schwer. Die Frauen können wenig dazu tun, das Glücksniveau zu halten; sie haben es nicht in der Hand. Die Männer haben es in der Hand, bis zu einem gewissen Grad jedenfalls, aber sie geben nicht acht darauf. Entweder wird ihnen jedes Jahr ein neues Wurm geboren, das ihnen den Lebenskampf erschwert und sich wie ein Keil zwischen die verschwisterten Seelen der Gatten schiebt, oder sie müssen sich darauf verlegen, die keimenden Leben zu töten. Das geschieht ja nun meistens, es ist so gewöhnlich geworden, daß man kaum mehr darüber spricht, aber wie sieht denn eigentlich der Himmel über einer solchen Ehe dann aus? Es ist soviel geheimnisvolle Schuld zusammengeronnen; kein Wunder, wenn die zwei Leute einander spinnefeind werden und nicht einmal wissen warum. Man sieht Frauen, die aus lauter Traurigkeit häßlich werden; eben aus dem Grund; sie haben selber keine Ahnung von dem Grund; sie quälen sich ab und wissen nicht, was sie verbrochen haben oder was sie an sich haben geschehen lassen. Was sollen sie aber tun? Sollen sie alle vierzehn Monate ein Kind gebären? und was soll unsere Gesellschaft mit all den Kindern anfangen, wo sie doch schon jetzt nicht mehr weiß, wohin mit dem ungesegneten Überfluß. So sieht es aus mit der Wirklichkeit.«

»Wir wollen die Wirklichkeit nicht zum Maßstab der Möglichkeit machen, sonst müßte ja das ganze Getriebe still stehen,« sagte Laudin matt.

May sah ihn aufmerksam an und sagte stockend: »Aber wenn das, was Ihnen vorschwebt, dieser Traum, diese Schimäre . . . wenn sie Wirklichkeit enthält . . . ich meine, wenn die Idee mit dem Paarwesen, mit der einzig möglichen Ergänzung, wenn sie zum Beispiel auf Sie selbst angewendet werden sollte, auf das, zum Beispiel, was Sie mir neulich . . . Sie erinnern sich . . .«

Laudin unterbrach sie mit hastig abwehrender Handbewegung; sein Gesicht wurde bleich. »Nicht das,« stieß er schroff hervor, »keine Beispiele. Keine Anwendungen. Für diesen Fall wenigstens keine. Ich bitte. Ich bitte sehr . . .« Mit gesenktem Blick reichte er ihr die Hand, um sich zu verabschieden. Da ihm May in ihrer Bestürzung plötzlich leid tat, zwang er sich, ihr freundlich zuzulächeln, und erwähnte wie beiläufig das Gespräch, das er mit dem Schauspieler Keller in seiner Kanzlei gehabt; er werde ihr nächstens mehr davon berichten, fügte er hinzu.

»Es sieht aus, als käme ein Unglück von dorther,« sagte May.

»Ja. Für einen der Beteiligten wird es unglücklich enden,« erwiderte er und verließ sie schweren Schrittes.


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