Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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5

Im oberen Geschoß der Villa lagen die Kinderzimmer. In dem einen war mit seiner Pflegerin der kleine Hubert untergebracht; im andern, gegenüber, hausten Marlene und Relly.

Marlene saß im weißen Nachtkleid am Tisch und schrieb in ein Heft, das die Bezeichnung »Tag- und Stundenbuch« trug. Ihr rundes hübsches Köpfchen mit den runden Wangen, dem runden Näschen, der runden, an die Stirn des Vaters gemahnenden Stirn und dem lieblich-ausdrucksvollen Mund war über das Papier gebeugt; sie schrieb mit den Augen nah am Papier wie eine Sechsjährige. Die zwei dicken aschblonden Zöpfe hingen auf beiden Seiten bis zu den Stuhlbeinen herunter.

Relly lag im Bett, den Kopf auf den verschränkten Armen, und blinzelte müde. »Bist du bald fertig mit deinem Geschmiere?« trompetete sie in ein langes Schweigen hinein; »ich möchte schlafen.«

»Wer hindert dich am Schlafen, Grobian?« fragte Marlene mit ihrer hellen, sanften Stimme; »mußt du gleich schimpfen? Schlaf doch; ich bin still wie eine Maus.«

»Erstens sind Mäuse nicht still,« replizierte Relly kampflustig, »zweitens kratzt deine Feder, drittens ärgert mich die ganze Schreiberei. Was hast du immerfort zu schreiben? Ich versteh das nicht.«

»Und weil dus nicht verstehst, suchst du Streit,« erwiderte Marlene lächelnd und im gelassenen Gefühl ihrer Überlegenheit. »Wie oft hab ich dir erklärt, ich schulde mir Rechenschaft, und deshalb schreib ich nieder, was mich beschäftigt. Gibt mir kein andrer Mensch Aufschluß, muß ich selber die Antwort auf meine Fragen suchen. Du natürlich hältst keine Ordnung in deinen Gedanken. Sie kommen, sie gehen. Aber da unterscheidet man sich nicht sehr vom Zwerg Uistiti.«

»Das ist . . . das ist . . .« rief Relly zornig, außerstande, die passende Bezeichnung zu finden, »ich weiß wahrhaftig nicht, wie das von dir ist!«

»Du meinst etwas Tantenhaftes, beruhige dich,« erwiderte Marlene spöttisch; »willst du mich durch die Methode der Oberlinge überzeugen, die statt mit Logik mit Entrüstung kämpfen?«

Oberlinge war, wie Zwerg Uistiti, ein Kunstausdruck, den übrigens Relly erfunden hatte, und er bedeutete: würdige Herren und Damen, die jungen Mädchen Lehren erteilen und moralische Vorhaltungen machen.

Relly schnellte mit einem Satz empor. Ihre ehrlichen blauen Augen schossen Blitze. Es brachte sie in Harnisch, auf eine Stufe mit den Oberlingen gestellt zu werden, deren Mangel an Aufrichtigkeit und gesunder Vernunft bei Meinungsverschiedenheiten sie so häufig empörte, daß die immer beherrschte Marlene Mühe hatte, sie zu beschwichtigen. Denn vor den Oberlingen selbst mußte man sich zusammennehmen; man hatte ihnen die vorgeschriebenen Ehren zu erweisen und sich in einem Zustand abwartend zu verhalten, der ein schmerzliches Gemisch von äußerer Aufmerksamkeit und innerem Hohn war.

Relly war die Person nicht, die einen ungerechten Vorwurf schweigend hinnahm. Sie verteidigte ihre Ansicht, man dürfe sich mit den eigenen Angelegenheiten in keiner Weise, auch nicht vor sich selber, interessant und wichtig machen. Man sammle Erfahrungen, gewiß; aber man kritisiere sie nicht fortwährend. Man sehe zu, was aus den Dingen werde. Man überhebe sich nicht; man bringe sie nicht mittels Verallgemeinerung durcheinander. Man betrachte sich alles und handle wie man müsse, nicht wie man sichs auf dem Papier zurecht gelegt habe.

Sie wurde heftig, sogar ausfällig und scheute in ihrer frischen Derbheit keine Kraftworte. Doch war sie Marlene höchstens im Tempo der Rede gewachsen, in allem übrigen schnitt sie kläglich ab. Marlene war ja so spitz und fein; sie meisterte das Wort wie ein gelernter Grammatikus. So verlor Relly beständig an Boden wie einer, der sich gegen einen geschmeidigen Florettfechter plump mit dem Knüttel wehrt. Dadurch wuchs ihre Erbitterung nur, und als sie ihre Position für aussichtslos erkannte, warf sie sich wieder in die Kissen, drehte das Gesicht zur Wand, zog die Decke über die Ohren und verstummte trotzig.

Auch Marlene war in Hitze geraten; ihre Wangen und Ohren glühten. Es schien als bereue sie die verletzenden Bemerkungen, durch die sie die Schwester herausgefordert hatte; sie machte Anstalten, Relly zu versöhnen, aber die Anstalten gediehen nur zu mehrmaligem Räuspern. Relly beachtete diese Friedenssignale nicht; bald regte sich nichts mehr drüben im Bett, und Marlene verzichtete auf weitere Versuche.

Die lebhafte Auseinandersetzung hatte sich nicht auf das Gebiet beschränkt, von dem sie ausgegangen war. Die Frage, ob Marlene befugt sei, sich in ihrem Tagebuch anmaßenderweise über ihre Konflikte mit der Umwelt, ihre Meinungen und Erlebnisse auszubreiten, führte mit Notwendigkeit zu den Konflikten selbst, den kleinen, innren, feurigen, meist sehr verborgenen Erlebnissen selbst und tauchte sie in ein verräterisches Licht.

Zunächst hatte es Relly übel vermerkt, daß sich Marlene herausgenommen hatte, dem Vater ihr Urteil über Doktor Egyd Fraundorfer aufzutischen. Wie käme sie dazu? was berechtige sie dazu? sie habe doch sehen müssen, wie unangenehm es dem Vater gewesen sei; sie wisse doch, daß Doktor Fraundorfer Vaters bester Freund sei. Marlene hörte sich das scheinbar zerknirscht an, dann konnte sie nicht umhin, die Schwester mit gespielter Unschuld zu fragen, ob sie nicht in dem Punkt, ohne es zu wissen natürlich, denn für so abgefeimt halte sie sie nicht, ihre sittliche Empörung mit ihrer Eifersucht verwechsle, da sie doch kirschrot geworden sei, als der Vater die scherzhaften Andeutungen über Nikolaus Fraundorfer gemacht –? Relly flammte und wehrte sich mit Händen und Füßen gegen den perfiden Verdacht. »Oh!« rief sie aus und »Himmel!« Sie, Relly, eifersüchtig! Marlene möge sich gefälligst erinnern, wie unverschämt sie mit Nikolaus kokettiert habe, als er neulich unten am Flügel gesessen sei und gespielt habe. Sie, Relly, eifersüchtig! Da habe sie Besseres zu tun, wahrlich; wenn Marlene ihre Busenfreundin Laura Arndt der Eifersucht bezichtige, das wäre zu begreifen, dazu liege Grund vor; aber Relly! oh! Marlene wurde ärgerlich, und von ihr unbarmherzig in die Enge getrieben, wußte sich Relly nur durch einige gröbliche Indiskretionen und täppische Anspielungen auf gewisse Unabhängigkeit, ja Aufruhrgelüste der Schwester zu helfen, so daß Marlene, erschrocken, daß Dinge laut gesagt wurden, die sie im stillen kaum zu denken gewagt, sie gebieterisch hatte in die Schranken weisen müssen.

Nun saß sie da, ihren Gedanken überlassen, nagte mit den kleinen Zähnen am Federhalter und begann mit zusammengezogenen Brauen wieder zu schreiben.

»Relly hat also erraten, daß zwischen mir und der Mutter ein Mißklang ist. Das kränkt mich. Hab ich mirs doch zur Aufgabe gemacht, mir nichts anmerken zu lassen. Aber sie hat Augen wie ein Luchs, und sie ist ja auch damals dahintergekommen, wie wenig ich von der Geburt unseres Bruders begeistert war. Wie hätte ich auch sollen? Plötzlich war ein Eindringling da, ein lächerlicher Tyrann, der von unserer kleinen Welt ein großes Stück gefräßig abgebissen hat. Am meisten war ich entsetzt, als sie das vom Vater sagte. Es ist ihr herausgerutscht, zu ihrem eigenen Entsetzen; sie ist ganz blaß geworden. Arme tapfere Relly. Bei jeder Gelegenheit läßt sie sich von ihrem Temperament hinreißen; das kann zu nichts Gutem führen. Ist es denn wahr, daß ich bereits die Autorität des Vaters anzweifle, daß ich ihm die unbedingte Achtung nicht mehr entgegenbringe, die er verlangen darf und auch verdient? Sie behauptet es. Sie sagt, sie fühlt es. Sie kennt mein Gesicht, sagt sie. Hat sie wirklich recht? Prüfe dich, Marlene. Nein, sie hat unrecht. Nur das kann ich leider nicht in Abrede stellen, daß mich seit einiger Zeit etwas im Wesen des Vaters bedrückt; sogar die besondere Art von Höflichkeit, die er hat, die Rücksicht im Umgang mit der Mutter, mit uns, mit allen Menschen, mit denen ich ihn sprechen sehe. Es ist manchmal, als wolle er jeden schonen, nur weil er von jedem etwas Häßliches weiß, oder als kämpfe er innerlich mit etwas Schwerem und finde nicht den Mut, es zu gestehen. Die Mutter ahnt gewiß nichts davon, und das ist es, was ich ihr übelnehme. Zwar weiß man bei ihr nichts mit Sicherheit. Sie hört jedem zu und läßt eigentlich jeden gelten. Und doch habe ich den Eindruck, als wenn ihr Interesse für den Vater nicht ganz das richtige wäre. Ich stelle mirs anders vor. Mein Leben muß ganz anders werden. Aber das ist vielleicht ein eitles Bemühen. Vielleicht kann man mit dem Willen nichts ausrichten. Wieviel Rätsel um einen sind! Meine schlimmste Eigenschaft ist gegenwärtig, daß ich voll Mißtrauen gegen die Menschen im allgemeinen bin und infolgedessen überall Böses wittere, namentlich Verstellung und Unterdrückung. Wenn mir nur Gott nicht zürnt deswegen und es wie Relly für sträflichen Vorwitz betrachtet.«

In dieser jungen Seele, hierdurch enthüllte sichs, herrschte ein unstillbares Verlangen nach Wahrheit, Verlangen ohne selbstisches Gepräge, ohne verkleidete Neugier, ohne den Hauch von Überspanntheit. Der Weltzustand hat die Grenzen zwischen den Lebensaltern verwischt. Zehn Jahre vor der Reife erwacht eine Generation, und wenn auf der einen Seite Kinder zu Verbrechern werden, macht sie auf der andern die Ernsthaftigkeit der Zeit zu frühen Erleuchteten.

Alle Handlungen Marlenes bezeugten das instinktive Streben, nicht faul zu sein, die Art schon, wie sie schrieb, über das zu Schreibende nachdachte, sogar wie sie schließlich das Heft zuklappte und in eine Lade sperrte.

Mit einem nachsichtig lächelnden Blick auf die schlafende Schwester schlüpfte sie ins Bett.


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