Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

59

Um halb neun Uhr betrat Laudin den Raum, in welchem Konrad Lanz inhaftiert war. Er hatte bereits mit dem Untersuchungsrichter gesprochen. Da ein Verteidiger weder von Amts wegen bestellt noch von dem Verhafteten bis zur Stunde verlangt worden war, bedurfte es nicht einmal des Gewichts seines Namens, um Laudin den Weg zu Konrad Lanz zu öffnen. Der Richter bezeigte sich entgegenkommend und hatte ihm auch den Einblick in die bisherigen Aussagen des Häftlings gewährt.

Schmales, düsteres Gelaß. Die eiserne Bettstelle war von einer nicht ganz sauberen Matte bedeckt. Das vergitterte Fenster stand offen. Es ging nach dem Hof des riesigen Gebäudekomplexes. Abgesehen von dem fernklingenden Brodeln frühen Stadtlärms war es still.

Lanz saß neben einem gebrechlichen Tischchen. Ein aufgeschlagenes Buch lag vor ihm. Sein Gesicht war derart abgemagert, daß die Backenknochen eckig hervorragten und die Wangen nur aus Höhlungen bestanden. Sogar die bartlosen Lippen schienen eingesunken. Ein Asketengesicht, streng und stumm, nicht mehr das Bittstellergesicht, das Laudin in Erinnerung hatte. Schon dadurch wurde dem Gespräch eine Bahn gewiesen, die sich nicht hatte vorbestimmen lassen, die aber dem Antrieb, unter dem Laudin gehandelt, erst die Bestätigung verlieh.

Er sagte, er sei vollkommen informiert. Er sei willens und entschlossen, Lanz seine Rechtshilfe zu gewähren. Zwar fielen strafrechtliche Fälle nur noch selten in sein Ressort, trotzdem wolle er sich dieser Angelegenheit mit allen seinen Kräften widmen, wenn auch nicht in allen Stadien persönlich; er wisse heute noch nicht, ob er dazu imstande sein werde, es habe sich Verschiedenes in seinem Leben ereignet, was ihn zu durchgreifender, obschon in keiner Weise noch überblickbarer Veränderung seiner Dispositionen zwingen könne; wenn auch nicht persönlich also, könne er doch als Konsulent und spiritus rector durch einen umfassend bevollmächtigten Mittler wirken. Er erachte es als seine Pflicht. Es sei nicht äußerlich berufliches Interesse dabei im Spiel, es seien andere Motive. Sie zu erklären, erübrige sich. Zu beachten bitte er, daß er nicht erschienen sei, um als soziale Macht dem sozial Gestürzten und Entwaffneten eine Gunst zu gewähren, sondern aus einem inneren Bedürfnis und, dies kam zögernd, aus einem inneren Schuld- und Mitschuldgefühl.

Lanz schien überrascht; nicht allzusehr überrascht, nur obenhin. Vielleicht weil ihn alles, was jetzt von Menschen zu ihm gelangte, nur obenhin streifte. Viel mehr überrascht war Laudin, als der junge Mann, nachdem er bohrenden Blicks eine Weile vor sich hingestarrt, sein Anerbieten ablehnte. Da Laudin sich nach dem Grund der Ablehnung erkundigte, gab jener zur Antwort, der Gedanke an eine Verteidigung verursache ihm überhaupt Unbehagen; ginge es nach seinem Bedünken und Wünschen, so würde jede Art von Verteidigung unterbleiben. Die von ihm geschätzte, ja verehrte Person des Doktor Laudin in seine Sache zu verwickeln, diese durch und durch verlorene Sache, bereite ihm nur Qual; überflüssige Qual. Er habe sich abgefunden. Er sei mit sich ganz und gar im reinen. Das Schicksal sei besiegelt, die Existenz verwirkt. Art der Strafe, Dauer der Strafe, das habe keine Bedeutung mehr für ihn.

Die seelische Harakiristimmung, in der er augenblicklich befangen sei, könne nicht maßgeblich sein für den ferneren Verlauf seines Lebens, wandte Laudin ein; der Geist habe seine Ebbe, habe seine Flut.

Lanz schüttelte den Kopf. Was er gesagt, sei maßgeblich. Längst sei er sich über die Folgen klar; mit der Stunde des Beginns. Er habe gefährliches Spiel getrieben. Der Einsatz war sein Kopf. Was hat es für einen Sinn, wenn der Kopf fällt, Arme und Beine retten zu wollen?

Mit verschleiertem Blick entgegnete Laudin, durch solche Gefühlslogik unterhöhle man den gesamten Bau des Rechts, nicht bloß des bestehenden, wie er zugebe mangelhaften, sondern auch des in der Idee möglichen höheren.

Lanz darauf: er glaube nicht an höheres Recht, glaube an keine Entwicklung.

Die Antwort Laudins war keine; routinierte Floskel. Das Terrain wurde unsicher. Er selbst hatte den Boden gelockert. Heimlich allerdings. Die Zahl eigener Gebundenheiten bemerkt man erst, wenn andere anfangen, die ihren zu lösen.

Sein größter Frevel sei gewesen, daß er mit einem Wunder gerechnet habe, sagte Lanz. Zuletzt sei es auf Messers Schneide gestanden: Wohltäter der Menschheit und Leuchte der Wissenschaft oder überführter Fälscher und Zuchthäusler. Sich auf längere Wege und Entscheidungen einzulassen, habe er keine Zeit gehabt. Er gleiche einem Wettläufer, der dicht vorm Ziel, eh ihm der Atem brach, sich auf ein Automobil geschwungen und gehofft habe, man werde es nicht bemerken. »Ungeduld ist immer einfältig,« fügte er hinzu, aber auf dem Punkt, wo die Wissenschaft jetzt stehe, eilten Hunderte zu demselben Ziel, und wer es zuerst erreiche, sei nicht immer der Auserwählte, sondern der Entschlossenste und Kaltblütigste.

Seine Rede hatte etwas trocken Registrierendes. Er sei im Begriff gewesen, die künstliche Erzeugung von Zucker zu finden, sagte er in einem Ton, als setze er voraus, Laudin wisse zu würdigen, welch ungeheuern Inhalt das Wort hatte. Er ließ etwa durchblicken: Umwälzung aller Wirtschaft. Aber er lag doch nun zu Tode getroffen auf dem Schlachtfeld; auch das war drin. Was er äußerte, hatte den selbstverständlichen Stolz des Unbedingten. Wie in vielen Gelehrten war in ihm die unbedingte Vergötterung der Wissenschaft und der unbedingte Glaube daran. Als ihm Laudin schüchtern entgegenhielt, gerade die Importanz des Zweckes hätte ihn in der Wahl des Mittels vorsichtig machen müssen, schoß jähe Röte über seine hageren Züge und er fing an, in sonderbar zerschnittenen Sätzen von seinem Leben zu sprechen, dessen ganze Unterlage nach seiner Bezeichnung makabre war. Er wolle vom Hunger nicht reden, von der unaufhörlichen Demütigung nicht. Immer als ob man sich nächtlicherweile durch Zaunlatten auf ein fremdes Grundstück schleiche. Immer an die Mauer gedrückt, im Gymnasium, an der Universität, im Laboratorium. Immer von zufälliger Gnade abhängig. Jedes Retortenglas Gnade, jedes Buch Gnade. Jedes Semester mit Bittgesuchen und Bittbesuchen beginnen. Unaufhörlich sich klein machen, würdig machen und gleichsam beteuern, daß man ein anständiger Mitgeher, aber beileibe niemals ein Zuhochhinauswoller sein werde; sei doch die ganze Gesellschaft durchtränkt von der Angst, daß einer die Landstraße verlasse und neue Wege einschlage. Das Ärgste der Brotverdienst; Schreiber; Instruktor; Einpauker. Jede Stunde, die ihm auf diese Art abhanden gekommen, habe ihn schließlich geschmerzt wie ein abgehackter Finger. Das Gefühl: die Zeit rennt dir davon, sei schlimmer als Not. Täglich dehne sich das von andern gewonnene Gebiet aus; täglich wachse Erkenntnis, ändere sich Anschauung und Urteil; gewaltige Geister seien ununterbrochen am Werk; das Übersehen eines unscheinbaren Faktums könne einen ins Hintertreffen bringen und in die Lage eines Menschen versetzen, der das Pulver noch einmal erfinden will. Die Natur steht da, beladen mit Geheimnissen; ein einzelnes zu enträtseln, kostet oft alle Jahre des Menschen. Sie aber, die Natur, trotzig und geizig, gibt nichts heraus, wenn man sie nicht umbuhlt und ihr sein Herzblut verschreibt. Das hat er denn auch getan, das kann er mit ruhigem Gewissen behaupten.

Vielleicht stellte Laudin, abgerückt von sich selber, wie auf einer rotierenden Platte oberhalb der Lebensspiele, eine stille Betrachtung an über den Zusammenhang zwischen der Leidenschaft des Geistes und der der Sinne und der Seele, und über die Wege, die von da zur Verzauberung und von da zur manischen Verstrickung laufen. Er wagte keinen Einwurf. Er fand nur, daß das Menschentreiben ein sonderbares Spiegelbildwesen ist, unerhört aufklärend, wenn zwei einander begegnen, die von Bruderdämonen geschlagen worden sind und nun einander anschauen; nichts weiter als anschauen.

Die Frage sei freilich, was das Herzblut wert sei, fuhr Konrad Lanz eintönig fort; es sei kein Handelsartikel und habe für die Gesellschaft keinen Preis. Trotzdem habe er sich angemaßt, eine Leistung, die noch keinen Tauschwert besessen, aus eigenem Beschluß in blanke Münze umzusetzen. Er habe ihre Marktgängigkeit antizipiert. Er habe ein Darlehen darauf aufnehmen wollen. Er habe ein Haus, von dem freilich erst die Grundmauern standen, mit einer Hypothek belastet, die er hätte einlösen können, wäre es ihm gelungen, es unter Dach zu bringen. Er habe bei der bürgerlichen Gesellschaft eine Anleihe gemacht; Kreditgeschäft ohne Deckung allerdings. Er habe dem Staat, dem größten und gewissenlosesten aller Notenfälscher, ins Handwerk gepfuscht und die Milliarden von Papierfetzen, hinter denen nichts stehe als ein lügenhaftes Versprechen, um eineinviertel Dutzend Stück vermehrt. Die Vorstellung erlahme beim Vergleich. Es sei wie wenn einer zur Rechenschaft gezogen würde, weil er mit fünfzehn Kieselsteinen den Gaurisankar bombardiere und dadurch angeblich die Gefahr eines Erdbebens heraufbeschwöre. Oh, natürlich, er wisse, was Doktor Laudin entgegnen wolle und entgegnen müsse; wenn alle Bürger des Staats sich des nämlichen Tuns unterfingen, zerfalle alles in Atome, jeder wäre ein Morgan und ein Bettler zugleich, die Kuh fresse sich selber statt das Gras. Die Ordnung gegenwärtiger Welt bringe es mit sich, daß in solchem Fall wie seinem das Gesetz zum Furor werde und den Übertreter um so gnadenloser richte, als die leiseste Regung von Milde sofort die ganze Konstruktion ad absurdum führe. Da hieße es, entweder ganz verdammt, oder, da doch genau besehen das Delikt vor einem göttlichen Forum sozusagen nicht stichhaltig, vielleicht überhaupt keines sei, ganz ledig. Wenn das Gesetz auf der einen Seite nicht bloß ignoriere, sondern beschütze, was es auf der andern mit grausamer Strafe verfolge, müsse das Rechtsgefühl in jedem Bürger erkranken oder verdorren. »Außen also ist man gerichtet, innen ist man freigesprochen, irgendwie, von irgendeiner Stimme frei- und losgesprochen; was für ein Zustand! Der geschriebene Buchstabe verfemt mich auf ewig, nimmt mir Arbeit, Ehre und Lohn; der lebendige Geist in mir schreit: es geschieht Unrecht, Unrecht am Leben, Unrecht am Geist.«

Dennoch beugt er sich. Dennoch hat er gegen die Gesamtheit gefrevelt. Er erkennt es. Nur vermag er die Grenzlinie nicht zu bestimmen zwischen seinem inneren Recht und äußeren Unrecht. Er sitzt da und zermartert sich das Hirn. »Wo ist die Wahrheit? In meiner Verzweiflung und Notwehr, in der Angst um meine Sendung und der Abhilfe, die ich gesucht, oder im unerbittlichen Buchstaben des Gesetzes, in diesem versteinerten Recht, das meine Existenz schon zermalmt hat, indem es den Arm nach mir ausgestreckt, und mich vernichtet, gleichgültig, ob es drakonisch straft oder sich Milderungen abschmeicheln läßt;« auf die Nuancen legt er kein Gewicht. Sie können ihm nicht mehr dienen.

Er war in unerhörter Weise innerlich zerquält und aufgewühlt. Ein gebrochener Mann, so saß er vor Laudin da und suchte, den Weg abgehend, den er zurückgelegt, mit verstörtem, höchst beunruhigtem Gewissen die Trümmer seiner selbst zusammen. Es war, als rede er auch nur zu sich allein. »Sie sind nun hier, Herr Doktor,« begann er stockend wieder, »haben sich freundlich herbemüht . . . es ist so sonderbar . . . als Sie zur Tür hereintraten, war mirs, als ob Sie bloß eine kleine Weile fortgewesen wären. Es war nämlich . . . ich habe heute Nacht schon . . . Sie waren fast wie wirklich da. Ich bin kein Phantast, kein Geisterseher; im Gegenteil. In mir ists immer hart auf hart gegangen, für Träumereien war kein Platz. Freilich, diese letzte Zeit . . . Um zu sparen, um die gefälschten Scheine nur für das Unerläßlichste zu benutzen, hab ich fast nur noch von Brot und Kartoffeln gelebt. Oft war mir zumut, als hätt ich gar kein richtiges Blut mehr in den Adern. Wie ich nun gestern abend vom Verhör kam und auf das Bett fiel, wurde mir schwarz vor den Augen. Ich dachte, ich werde ohnmächtig, aber das wars nicht. Aus dem Schwarzen hob sich ein leuchtender Kreis, und ich befand mich plötzlich in einem unermeßlich großen Raum, der überwölbt war von einer unermeßlich hohen und weiten Kuppel. Gegen Süden, Westen und Norden öffneten sich drei mächtige Rundtore, in der östlichen Richtung stand ein Thron, und darauf saß eine majestätische Gestalt, ganz in Purpur eingehüllt, und statt des Gesichts erblickte man eine goldene Maske. Ich wußte: das ist der Richter. Durch jedes der drei Tore aber zogen unabsehbare Scharen von Menschen in den Raum; ich war mitten unter ihnen. Es waren Menschen aller Stände und Klassen, aller Völker und Zonen, Männer, Leiber, Kinder, Greise, Jünglinge und Mädchen. Sie gaben keinen Laut von sich, kein Gemurmel war zu hören, aber alle, und auch ich, waren von demselben Gefühl durchdrungen. Was für ein Gefühl es war, kann ich nicht bezeichnen; auf jeden Fall war es ein gewaltiges, zusammengesetzt aus Ehrfurcht und Flehen. Wir alle glaubten an die Gestalt im Purpur; unser ganzes Schicksal hing an ihr; es erfüllte uns ein Vertrauen von religiöser Tiefe. Ich war unter den Vordersten, und als wir dem Thron nahe kamen, warfen wir uns auf die Knie, und die Tausende und Abertausende hinter uns folgten unserm Beispiel. Jetzt löste sich aus den Tausenden und Tausenden von Kehlen ein einziger Schrei: Gerechtigkeit! Ein ungeheures Bangen und Verlangen war in dem Schrei, eine Sehnsucht und zuversichtliche Erwartung, so erschütternd, wie ich nichts vorher verspürt. Die Gestalt blieb stumm. Keine Falte des purpurnen Gewands regte sich. Und wieder, nach herzzerreißender Pause, der herzzerreißende Schrei: Gerechtigkeit! Keine Antwort von da oben. Und ich, ich ertrug es nicht länger. Ich wußte, daß alle diese Menschen von der Angst hierhergetrieben waren, Angst vor etwas Gräßlichem, dem sie entflohen waren und das sie mit Sicherheit ereilte, wenn ihnen nicht gegeben wurde, worum sie flehten. Mich erfaßte Erbitterung gegen die stumme Gestalt im Purpur, ich griff zu dem Mantel empor und zerrte ihn weg; zugleich fiel auch die goldene Maske herab, und vor uns stand ein Skelett. Da fing eine Stimme an zu sprechen, und das ist das Seltsame, es war Ihre Stimme, Herr Doktor Laudin; aber es war nun nicht mehr der gewaltige Kuppelraum, es war ein ganz gewöhnlicher Hörsaal; ich saß mit andern Studenten im Kolleg bei Ihnen; Sie deuteten auf das Skelett, der Purpurmantel lag zu Ihren Füßen, und Sie sagten: die Zeit ist vorüber, wo dieses tote Gebein ein richterlicher Gott war. Dieser Gott ist, wie ihr seht, verwest, und sein lebendiges Gesetz ist vermodert. Wir haben vergessen, ihn mit unserer lebendigen Seele zu speisen, darum steht er jetzt als Knochengerüst vor uns. Wir haben verabsäumt, dem erstarrten Körper neuen Odem einzublasen, darum das Leiden, der Zweifel und die Verzweiflung. So sprachen Sie mit Ihrer gewöhnlichen, alltäglichen Stimme, ich habe die Stimme noch jetzt im Ohr, und ich wußte, daß mir nicht mehr zu helfen ist.«

Er schwieg. Der Ausdruck seiner Züge hatte etwas Seherisches und zugleich Erloschenes. Da Laudin beklommen und ebenfalls schweigend vor sich hinsah, murmelte er: »Es war kein Traum. Es war so wirklich wie daß Sie selber hier sitzen.«

Laudin sagte: »Ich nehme an, daß es kein Traum war. So allegorisch pflegen Träume nicht zu sein. Ein Wahrgesicht, wollen wir annehmen. Ähnliches könnte ich schließlich äußern . . . oder denken. In jedem Fall könnte es ein Fingerzeig sein. Vorausgesetzt, daß man an die Auferstehung dieses . . . Gottes zu glauben vermöchte. Es sind Möglichkeiten, die, erachte ich, dem Jetztlebenden verschlossen sind, es sei denn, er bräche mit allem, was hinter ihm liegt. Ein gar zu umfassendes Ding: Gerechtigkeit. Eine Idee. Recht; das ist etwas anderes. Recht ist ein Werkzeug. Sehr irdisch. Sehr zugänglich. Sehr formbar. Aber das Recht in ein Verhältnis zum Gesetz zu bringen, ist so schwer, wie die Strafe in ein Verhältnis zur Schuld. Es will und soll gültig sein und ist voller Widerspruch. Es will und soll lauter sein und ist voller Schlacke. Allzu rigorose Rechtsforderungen zerstören die Humanität genau so wie Vernachlässigung oder Käuflichkeit und Bestechlichkeit. Feindlich steht das Gewordene wider das Entstehende. Ich könnte mir eine Zeit vorstellen, eine sehr ferne freilich, wo der Begriff Strafe so entlegen und barbarisch klingt wie heute der Begriff Folter. Auch zu mir sind viele gekommen, ihr Recht zu finden; Unzählige. Ich mußte sie vertrösten; durfte mich nicht an dem Purpur vergreifen. Ich mußte sie hinhalten mit Formeln, mit Vorläufigkeiten, mit Velleitäten. Der Mensch gewöhnt sich an nichts so schnell wie an das Unzulängliche. Aber Ihre Vision, oder wie Sie es nennen wollen, könnte ein Fingerzeig sein. Ob für mich, das ist die Frage. Für mich ist es wahrscheinlich zu spät.«

Er erhob sich, und tief aufatmend fügte er hinzu: »Jedes geschehene, jedes vollzogene Recht ist eigentlich nur das wider unsere menschliche Absicht durchgedrungene Mitleid eines höheren Wesens, das in uns wirkt.«

»Ein hoffnungsloses Wort,« sagte Konrad Lanz trübe.

»Ich wüßte keines, das mehr Hoffnung enthält,« versetzte Laudin, wider seine Absicht doppelsinnig.

Damit ging er und mit dem stummen Vorsatz, den Unglücklichen, sei es auch gegen dessen Willen, in den Kreis der Betreuungen einzuschließen, die ihm noch blieben.


 << zurück weiter >>