Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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38

Da er ein Stück Wegs zu Fuß gehen wollte, ersuchte er den Chauffeur, bis zu einer bestimmten Straße vorauszufahren und auf ihn zu warten. Beißend kalter Wind schlug ihm entgegen. Es war eine sternklare Februarnacht. Er war noch nicht bis zur nächsten Ecke gelangt, da vernahm er Schritte hinter sich. Zuerst beachtete er es nicht, aber nach und nach, als die Schritte auf der sonst völlig menschenleeren Gasse in gleichbleibender Entfernung hörbar blieben, wurde es ihm lästig; sein Kopf war lauschend vorgeneigt. Klapp, klapp, klapp, machten die Schritte. War es nicht, wie wenn das Gelächter von dort oben in der Winternacht erfroren wäre und ihn, stumm geworden, oder zum bloßen Klapp-Klapp geworden, auch da unten beharrlich verfolge?

Er ging langsamer; die Schritte wurden gleichfalls langsamer. Er blieb stehen und sah sich um. Er gewahrte eine Frau, dem Anschein nach eine ältere Person, gut gekleidet. Unter einer Laterne blieb er wieder stehen. Der schwefelgelbe Lichtschein fiel in das Gesicht der Frau. Zwei Augen lohten ihn an. Er erkannte Brigitte Hartmann.

Er ließ sie herankommen. Sie näherte sich mit lauernder und zugleich furchtsamer Langsamkeit. »Was bedeutet das?« fragte er und maß sie von Kopf bis zu den Füßen. »Was soll die nächtliche Verfolgung, gute Frau? Sie geben sich mit wunderlichen Auffälligkeiten ab. Ich verstehe nicht. Was wünschen Sie von mir?«

Sie stand jetzt vor ihm und murmelte mit zu Boden gesenktem Blick: »Ich hab nur wissen wollen, wie lang Sie bei der Theaterurschel oben bleiben.« Sie wies mit dem Daumen zurück und zuckte die Achseln.

Laudin betrachtete sie, als hielte er sie für wahnsinnig. So klang auch seine Erwiderung gemäßigt und gleichsam sondierend: »Ich sagte Ihnen bereits, ich verstehe nicht, gute Frau. Sie haben sich wahrscheinlich irgendwie übernommen. Es ist Ihnen nicht klar, mit wem Sie sprechen. Schon vor ein paar Tagen war ich gezwungen, Ihre ungehörigen Eingriffe in mein und meiner Frau Privatleben zurückzuweisen. Ich empfehle Ihnen, den Brief genauer zu lesen. Er belehrt Sie hinlänglich darüber, daß man derartigen Überfällen keineswegs hilflos ausgeliefert ist. Merken Sie sichs also.«

Er drehte sich um und ging weiter.

Aber das Unglaubliche war, daß Brigitte Hartmann von der barschen Strafpredigt und dem Umstand, daß der sonst so gezirkelt höfliche Mann sie einfach stehen ließ, keine Notiz nahm. Nach wenigen Sekunden war sie dicht an seiner Seite. Klapp, klapp machten die Schritte. Vermutlich trug sie zu hohe Absätze, die ihr das Gehen erschwerten. Laudin ging rascher. Zorn überwältigte ihn und außerdem verspürte er ein leises Gruseln. Auch die Schritte wurden rascher, und er hörte die Frau stärker atmen. Und er hörte alsbald, was sie sprach; er mußte es hören. Es war ein ununterbrochener Schwall, ein aufgeregter, besinnungsloser und besinnungraubender Mischmasch.

Ja, sie habe Posten gestanden; habe sichs nicht verdrießen lassen, zwei Stunden lang in der Kälte vor dem Haus auf- und abzumarschieren; es sei nicht das erstemal heute; auch ihren Knecht habe sie schon zweimal geschickt, den vom Hartmannshof, aber der habe schlecht aufgepaßt. Es lasse ihr keine Ruhe, wenn er bei der Komödiantin sei; der Doktor Laudin und eine solche, das reime sich nicht. Wer die sei, wisse doch die ganze Welt; da brauche man bloß die Schneiderinnen und Hutmacherinnen zu fragen, bei denen sie ihre Rechnungen schuldig bleibe; die sei ja für jeden zu haben, jawohl; ein feiles Weib, eine unzüchtige und ausschweifende Person; eine Schnapssäuferin; alle Theaterbediensteten wüßten, daß sie Schnaps söffe, ganze Gläser voll Kognak, und wenn sie halb besoffen sei, spiele sie am besten Komödie. Sie, Brigitte, kenne sich aus; sie habe mal bei einer Schauspielerin im Haus gewohnt, was für einen skandalösen Wandel die geführt habe, nicht zum Sagen. Ein so verehrter Mann wie der Doktor Laudin dürfe da nicht mal hinriechen, ein so allseitig geachteter Herr. Habe er denn nicht eine Frau, und eine so liebe Frau noch dazu? Was die sich wohl denken solle. Ach Gott, warum läuft denn der Herr Doktor so schnell? warum rennt er denn davon vor ihr? Ist sie denn ein Mist, daß er sie nicht anhören will. Sie hat keinen Atem mehr, bitte. Sie ist dem Herrn Doktor grenzenlos ergeben. Sie hat sich vorgenommen, ein neues Leben anzufangen; seit sie den Herrn Doktor kennt, ist sie ein anderer Mensch geworden. Er braucht einen bloß anzuschauen, und man hat schon bessere Gefühle. Bloß soll er solche Briefe nicht mehr schreiben lassen, das hält sie nicht aus. Sie will der Karoline Lanz fünfundzwanzig Millionen geben; er soll aber die Sperrung des Kontos aufheben, die Schande bringt sie um den Schlaf, der selige Hartmann selber könnt es nicht gutheißen. Sie war bei der Karoline Lanz draußen; aber was will denn der Herr Doktor? die Leute leben ganz anständig, bitte. Weit und breit kein Elend. Na ja, power; Sprünge können sie nicht machen, aber von Hunger und sowas nicht die Spur. Sie hat der Lanz ein bißchen Wäsche und gestrickte Kleider für das Kind gebracht. Er, der Student, hat ihr die Tür gewiesen. Großartig. Wer ist er denn? Da hat sie ihre Sachen wieder mitgenommen. Die Leute im Haus sagen, mit den Lanzischen ist es nicht ganz richtig, da geht was vor. Ihretwegen, was kümmert das sie. Aber der Herr Doktor sieht, daß sie einen guten Willen hat, bitte. Er soll ihr nur ihre Reden nicht übelnehmen, auch die über die Dercum nicht. Sie sei eben ein aufrichtiger Kerl und die Sittlichkeit gehe ihr über alles. Nur weil sie den Herrn Doktor so hoch stelle und für ein gutes Wort von ihm durchs Feuer ginge, passe sie so auf ihn auf und gräme sich so über das unbarmherzige Vorgehen gegen sie. Aber das sei gar nicht er, er sei viel zu vornehm dazu, das seien seine Beamten; es werde gegen sie intrigiert, das wisse sie längst, man habe ihn gegen sie aufgehetzt, und wenn es mit den Quälereien nicht bald ein Ende nehme (eine arme schutzlose Witwe, die zwei unmündige Kinder zu versorgen habe, so zu quälen, bitte) und wenn der Herr Doktor sie wie einen Hund neben sich herlaufen lasse und es nicht für der Mühe wert halte, ihr eine Antwort zu geben, werde auch sie ihrerseits ihre Maßregeln treffen, bitte, dann sei auf ihre Anständigkeit nicht mehr zu zählen. Recht müsse Recht bleiben und wo Treue geschworen worden, müsse Treue sein, sonst gehe die Welt unter . . .

Klapp, klapp machten gespenstisch die Schritte.

Das Auto war erreicht. Laudin stieg hastig ein und warf den Schlag zu. Ein finsterer, unlaudinscher Blick streifte die Frau. Sie stand in der Mitte der Straße, als sich der Wagen in Bewegung setzte, der Mund war halboffen, und man sah die Zahnlücke.

Nach wenigen Minuten war das Auto von der Dunkelheit verschluckt. Brigitte Hartmann stand noch immer da, regungslos, wie ein Stück der Nacht, die schwer und schwarz über der Stadt lagerte, und schaute in die Richtung, wo der Wagen verschwunden war.

Der Schmerz, den eine Kreatur erleidet, ist etwas Absolutes, und mit ihm steht sie Aug in Aug mit Gott.


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