Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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14

Am andern Morgen, Montag, wurde schon um neun Uhr, als Laudin eben in die Stadt zu fahren sich anschickte, von einer der Parteien im Hause Egyd Fraundorfers telephoniert, denn dieser selbst hatte kein Telephon, Herr Doktor Laudin möge sogleich zu Doktor Fraundorfer kommen. Aber Laudin hatte einen unaufschiebbaren Termin bei Gericht, und da er an nichts Schlimmes dachte, vielmehr der Meinung war, eine der jähen Launen Fraundorfers sei die Ursache des Anrufs, ließ er bitten, man möge ihm gegen Mittag in die Kanzlei eine Nachricht bestellen, bis dahin habe er keine Möglichkeit, sich freizumachen.

Um elf Uhr wurde er in der Kanzlei von Pia angerufen. Schon als er ihre Stimme hörte, wurde er stutzig. Friedrich solle keine Minute verlieren und zu Fraundorfer hinausfahren; sie selbst sei bei ihm in der Wohnung. Was um Gottes willen geschehen sei? erkundigte sich Laudin. Zaudern; Pause. Nikolaus habe sich in der vergangenen Nacht erschossen, war die kaum vernehmliche Antwort. Mit zitternder Hand legte Laudin den Hörer auf die Gabel.

Den Chauffeur hatte er für zwei Stunden beurlaubt. Er ließ einen Taxameter kommen. Eine Viertelstunde später stieg er die vier Treppen zu Fraundorfers Behausung empor. Es war ein in allen Teilen verwahrlostes Gebäude, eine Mietskaserne in der Sechsschimmelgasse. Im dritten Stock standen einige Leute und flüsterten. Im vierten Stock stand Pia vor der Flurtüre. Aus der Wohnung drang die wütende Stimme Fraundorfers; er hatte einen heftigen Zank mit jemand.

»Gut, daß du da bist,« sagte Pia mit farblosen Lippen; »ich bin hier hilflos und nutzlos.«

Laudin machte eine fragende Miene, da er sich das Geschrei nicht erklären konnte.

»Ich verstehe es nicht,« sagte Pia achselzuckend, mit verhaltenem Schluchzen; »er zetert mit dem Hausmeister wegen eines Winterfensters. Und daneben liegt die Leiche. Ich versteh es nicht.«

Sie drückte Laudin die Hand und stieg die Treppe hinunter, während er zu Fraundorfer hineinging. In der Mitte des Wohnzimmers, das unordentlich aussah und nicht geheizt war, stand Egyd Fraundorfer in einem fleckigen, einst braun gewesenen Kittel, mit wüst gesträubtem Haar und zornverzerrtem Gesicht, und brüllte in der Tat wie außer sich auf den Hauswart ein, der geduckt, tückisch blinzelnd, die Mütze zwischen den Fingern drehend, vor ihm stand und das Unwetter über sich herabprasseln ließ. Es handelte sich um ein schlecht befestigtes Fenster, das der Wind am vorigen Abend aus den Angeln gehoben und in den Hof geschleudert hatte. Das Hausmeisterehepaar versah zugleich die Bedienung bei Fraundorfer.

Laudin kannte den Freund gut genug, um auf den ersten Blick zu wissen, was es mit dem Ausbruch auf sich hatte. Kaum war er ins Zimmer getreten, so schwieg Fraundorfer und sah ihn an, ein wenig fremd, ein wenig verwundert, mit einem Zusammenziehen des Mundes, das für ein Lächeln genommen werden konnte. Jetzt gewahrte Laudin auch die schreckliche Verwüstung in Fraundorfers Gesicht. Das Gesicht sah aus, als hätte er eine Rauferei gehabt; an der Stirn, über der linken Braue, befand sich sogar eine blutige Schramme.

Der gescholtene Hausmeister schlich davon. Das Hündchen, das sich hinter dem Ofen versteckt gehalten, kam hervor und schickte ihm ein paar heisere Knurrlaute nach. »Recht so, Herr Schmitt!« murmelte Fraundorfer atemlos und wischte die schweißfeuchte Stirn mit dem Ärmel ab, »lassen Sie mir diese menschliche Bestie nicht mehr über die Schwelle, Herr Schmitt.« Gleich darauf wandte er sich an Laudin und sagte mit einem höchst sonderbaren Anhub zum Lachen, das sich aber in etwas anderes, Zerstreutes, Wirres, Unartikuliertes verlor: »Warst du drinnen? Hast du ihn angesehen? Sieh ihn dir an. Die Amtspersonen waren bereits da. Arzt, Sarglieferant, polizeiliche Kommission, alle waren da. Wir haben viel Besuch gehabt, was, Herr Schmitt, unangenehmen Besuch. Nur Frau Pia, das war hübsch, daß sie kam. Leider konnten wir uns ihr nicht genügend widmen. Sieh ihn dir nur an, Laudin, geh nur hinüber . . .«

Er hätte vielleicht noch lange so fort geredet, wenn Laudin ihm nicht die Hand auf die Schulter gelegt hätte. Da war er still und senkte den Kopf. Hierauf wandte er sich ab und ging mit schweren Schritten in sein Schlafzimmer nebenan.

Nikolaus' Stube befand sich auf der andern Seite, auch neben dem Wohnzimmer. Wie in diesem waren auch dort die Fenster weit geöffnet und gaben den Ausblick auf Höfe, Mauern und Fenster, grau unter einem nebelgrauen Himmel. Auf dem Bett lag die Leiche des Jünglings, bis zum Hals mit einem Linnen bedeckt. An der rechten Schläfe, über die die Locken fielen, sah Laudin einen winzigen roten runden Fleck. An dieser Stelle, durch die dünnwandige Stirn, war die Kugel eingedrungen. Das Gesicht hatte etwas gewinnend Friedliches, eine liebenswürdige und sanfte Ruhe war darüber gebreitet. Das Weiß der Wangen hatte schon einen bläulichen Schimmer; auch die Nase zeigte Spuren von der raschen Arbeit des Todes. Aber der Umstand, daß die Brille weggenommen war, verlieh den Zügen, den schmalen, zarten, teilweise noch unreifen Formen etwas feierlich Schönes, gleichsam Unzerstörbares.

Laudin stand hochaufgerichtet da, ohne sich zu regen, den Hut in der Hand. Aus der Tiefe und dem Rund der Höfe drang das Schwatzen von Mägden herein, das Klirren von Geschirr, das Rauschen von Wasserleitungen. Laudin fragte mit lauter Stimme: »Warum?«

Dieses Warum blieb vor ihm stehen wie ein in nebelgrauer Ferne ragender Pfeiler, auf den er zuschreiten mußte ohne Willen und fast auch ohne Wissen.


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