Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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58

Fraundorfer und hinter ihm Herr Schmitt.

Er stand da im Mantel, den Schlapphut auf dem Kopf, den dicken Stock in der Hand, genau wie er einundzwanzig Stunden vorher sich aus Laudins Haus entfernt hatte. Sein Gesicht hatte das Tückisch-Schläfrige im Ausdruck; der Blick war schräg zur Erde gekehrt; unter dem Hut hingen unordentlich, tagelang nicht gekämmt, die heufarbenen Haare hervor; auch war er seit Tagen nicht rasiert und besonders das Kinn stand voll grauer Stoppeln. Die enorme Gestalt füllte den Türrahmen; Herr Schmitt sah wie ein weißes Insekt daneben aus.

Seiner Miene war nicht zu entnehmen, warum er, einmal eingetreten, solange an der Tür verharrte. Schwerlich war der Grund der, daß er erst die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich lenken oder sich über die kartenspielende Gesellschaft orientieren wollte. Auch lag es nicht in seiner Gepflogenheit, einen berechneten Effekt hervorzubringen und sich an der Steigerung zu ergötzen. Im Gegenteil, alles an ihm verriet äußerste Unlust, fast ingrimmiges Unbehagen. Er liebte nicht dramatische Situationen und gespannte Momente. Er hatte tiefe Verachtung gegen alles, was im gemeinen Leben an Szene und Theater erinnerte. Menschen zu stellen war ihm ein Greuel, sich selber den Menschen zu stellen verwehrten ihm geistiger Hochmut und die Gewohnheit der Einsamkeit. Wie Außerordentliches ihn veranlaßt hatte, über diese Schwelle zu treten, war es auch vermutlich Einflüsterung höherer Kenntnis, die ihn zaudern machte. Ein letztes Licht mußte gleichsam erst erlöschen.

Herr Schmitt rieb leise jaulend die Schnauze an seinem Bein; er nickte dem Hündchen zu und bewegte sich gegen den Tischbord. Der Baron und die Filmdarstellerin rückten jäh auseinander. Das Gelächter, trunkene Gelall und Geschrei hatten aufgehört. Verwunderte, unsichere, ängstliche Blicke richteten sich auf den Koloß. Daß er immer noch den Schlapphut auf dem Kopf hatte, wirkte unheimlich. Er ergriff den Stock in der Mitte, kehrte ihn um, klopfte mit dem Knauf dreimal auf die Tischplatte, daß die Flaschen klapperten und die Gläser und Spielkarten tanzten, streckte den linken Zeigefinger in die Richtung aus, wo Laudin stand, und sagte mit seinem gequetschten Baß: »Ich hab es nun doch nicht länger aufgeschoben, Dyskolos. Herr Schmitt und ich waren heute bei dem Bonzen. Und deswegen sind wir jetzt hier, Herr Schmitt und ich.«

Keiner von der Tafelrunde schien das Unverständliche dieser Worte oder den Mann selbst erheiternd oder komisch zu finden. Sie sahen ihn alle an, als ob sein Gesicht ein Magnet und ihre Blicke Eisenspäne wären. Es wurde mit jeder Sekunde stiller. Alle spürten, daß sich etwas Ungewöhnliches vorbereite. Lu stand hinter ihrem Stuhl, den leeren Sektkelch noch in der Rechten, und schaute mit zusammengezogenen Brauen, die linke Hand unwillkürlich an ihre nackte Brust pressend, bald auf ihre Gäste, bald auf Laudin, bald auf den Unbekannten im Schlapphut, der überlebensgroß zwei Schritte von ihr entfernt wie ein Turm ragte.

Laudin rührte sich nicht. Seine Augen waren zu Boden gekehrt wie die von Fraundorfer. Und Fraundorfer, auch jetzt ohne den Freund anzusehen, mit der einen Hand den Stock umklammernd, die andere in die Richtung gestreckt, wo Laudin stand, begann wieder: »Du mußt ihr sagen, wer ich bin, Dyskolos. Sag dem Weibsbild, wer ich bin!« Lähmende Stille. »Du sagst es nicht? Sie scheint es nicht zu wissen. Sie scheint nicht zu wissen, daß ich der Fraundorfer bin.«

Lu wich einen Schritt zurück. Ihr Gesicht zuckte. Furcht, Zorn und Entrüstung rannen in den Augen zusammen. Sie versuchte zu sprechen. Da ertönte ein betäubender Schlag, Fraundorfer hatte mit dem Stock auf den Tisch geschlagen; mit aller Gewalt seines mächtigen Arms. Zwei Gläser zersplitterten. Er hob die Lider; der Blick traf stählern die bleich gewordene Lu. »Du hast ihn mit deiner vergifteten Umarmung hin gemacht, du Laster!« schrie er ihr zu.

Sie wich weiter zurück, mit aufgerissenen Augen, den Sektkelch wie eine Waffe vor sich haltend.

»Gesteh!« brüllte er mit Mark und Bein durchdringender Stimme; »gesteh, Kreatur. Gesteh, sonst erwürg ich dich wie eine wütige Katze. Gesteh, daß du ihm die Seuche eingeträufelt hast, verworfenes Mensch. Gesteh, daß du ihn mir genommen hast, Hure, gesteh!«

Der kostümierte Boy war aus dem Schlaf gefahren; er stand mit offenem Mund und erhobenen Händen an der Wand. Die ganze Runde an der Tafel sah aus wie eine Versammlung von Wachsfiguren.

Mit Lu geschah eine seltsame Verwandlung. Sei es, daß Grauen und Angst sich gänzlich ihrer bemächtigt hatten, sei es, daß der rein körperliche Eindruck des ungeheuren Richters und Rechenschaftsforderers sie aus allen Wehren und Gittern trieb, sei es schließlich, daß die Maßlosigkeit der Drohung, das Unausdenkliche einer Züchtigung sie fast um den Verstand brachte (da mochten sich düsterste Bilder aus früher Vergangenheit vor ihr erheben), genug, sie fing an, wie Espenlaub zu zittern, ließ das Glas auf den Teppich fallen, beugte den Kopf, legte ihn in die Hände und begann zu flennen wie ein Schulmädchen.

»Gut, gut,« höhnte Fraundorfer, »das Unmensch präsentiert einen Wechsel auf Rührung. Wer ihn ausgestellt und unterschrieben hat, soll ihn einlösen. Herrschaften, hat niemand Lust? Je nun, ihr wißt, warum ihr die Taschen zuhaltet. Falscher Wechsel. Falsche Unterschrift. Urkundenfälschung. Du siehst, Dyskolos, du hörst. Was willst du noch für Beweise?«

Und sich wieder an Lu wendend, fragte er mit schrecklicher Unerbittlichkeit im Ton: »Warum hast du es so weit kommen lassen, infernalische Bestie? Steh Rede!«

Lauter flennend zog Lu den Kopf zwischen die Schultern.

»Warum die Blüte zerstampft?« fuhr Fraundorfer mit einer Stimme fort, die sich schrill überschlug; »warum dem Vater seinen Sohn massakriert? Warum ihm sein Einziges in Sündenfrechheit weggestohlen? Warum, Weib? warum, du Spottbild von einem Menschenwesen, warum der Welt einen Menschen entrissen? hat sie denn Überfluß davon, die bedreckte Sauwelt? Warum kein Erbarmen gehabt, Weib? Warum einen mit der Pestilenz beschenkt, die ihn hinaustrieb aus dem Leben? Warum, frag ich?« Diese letzte Frage klang donnernd; er schüttelte die Faust in der Luft; dicke Wülste hingen wie Geschwüre um die farblosen Augen, und aus den zerfurchten Lidern, es kann nicht verhehlt werden, brachen Tränen.

So standen auf einmal beide weinend voreinander, jeder wie an einem Pol der Welt.

Lu hob das schneeweiße Gesicht und stotterte kaum vernehmlich: »Er hat es gewußt.« Es war klar, daß sie log, daß sie nicht glaubte, man würde ihr glauben, und daß sie nur um jeden Preis einen Ausweg finden wollte.

Da stand Anton Keller langsam auf. Es war, als habe er einen Toast zu halten oder als trete er vor den Vorhang, um dem Publikum eine Umänderung des Programms mitzuteilen. Er legte die Zigarre auf die Aschenschale, räusperte sich kurz und sagte: »Verzeihung, Herr. Ich darf wohl darauf aufmerksam machen, daß hier kein Schwurgericht mit Verhör und Urteil ist. Es ist auch nicht würdig, sich in solcher injuriösen Weise zu erhitzen. Besonnenheit würde ich empfehlen. Denken Sie an das Wort des Seneca: magnus animus remissius loquitur. Ist denn die Bedauernswerte mit jenem Gebrechen zur Welt gekommen? frage ich Sie. Hat sie es etwa aus ihrem eigenen Leibe und aus Boshaftigkeit erzeugt? Oder ist sie nicht auch ihrerseits das unschuldige Opfer? Ihr laßt den Armen schuldig werden, heißt es; und an anderer, noch ehrwürdigerer Stelle: erlöse uns von dem Übel. Also sachte, geehrter Herr, und bei aller gebührenden Rücksicht auf Ihren Schmerz: respektieren Sie den Genius in dieser Frau, machen Sie halt vor einer Seele, die tabu ist.«

Ein kollerndes Gelächter Fraundorfers war die Antwort. Er kehrte sich zur Seite und krächzte, stoßhaft weiterlachend: »Herr Schmitt, Sie verstehen das . . . Hilfe, Herr Schmitt . . . ich muß an Sie appellieren, Herr Schmitt, es würgt mich . . . es verschlägt einem die Luft . . .«

Indem er das gegen den Boden hinabschrie, und es machte den Eindruck, als geschehe es in körperlichem Schmerz, hatte Lu sich auf die Knie niedergelassen, hatte nach Arnold Kellers Hand gehascht und drückte sie an ihre Brust. Das emporgewandte, schneeweiße Gesicht hatte den Ausdruck der büßenden Magdalena. Der Baron, der wie einige andere des Kreises den lähmenden Bann allmählich weichen fühlte, ließ ein entzücktes Murmeln hören, der Filmregisseur aber, vollständig betrunken, erhob sich, schlug taktmäßig in die Hände, wie er zu tun pflegte, wenn eine Pose zu seiner Zufriedenheit ausfiel, und sagte glucksend: »Bravo. Gut. Gut. Aufnahme! Drehn! Aufnahme!«

Der Ausruf in seiner grenzenlos naiven Roheit hatte etwas Offenbarendes. Er legte ein so diabolisch vernesteltes Gewebe von Verschlagenheit, Selbstbetrug, komödiantischer Schaustellung, Hingabe an Schall und Augenblick, Vergessen aller Wirklichkeit und Nichtwissen von ihr so von allen Seiten bloß, daß Fraundorfer, nachdem er einige Sekunden hindurch finster gestutzt hatte, plötzlich die Krempe seines Hutes packte, sie fast bis über die Augen herunterzog und, sich gegen Laudin kehrend, mit wunderlicher Freundlichkeit sagte: »Dyskolos, ich werde jetzt einmal gehen und den Pflastersteinen drunten auf der Straße eine Predigt halten.«

Laudin trat zu ihm. »Ja, Egyd, es ist Zeit zu gehen,« sagte er; »erlaube mir, daß ich dich begleite.«

Was war das aber für ein Mann, der dieses sprach? Er hatte eine befremdliche Stimme und ein nicht minder befremdliches Aussehen. Erlaube mir, daß ich dich begleite; es klang wie Zweifel, ob die Erlaubnis gewährt werden könne. Das Gesicht war gealtert und sah feuchtfahl aus. Die Hände machten zwecklose Gebärden. Beim Überschreiten der Schwelle stolperte er. Im Vorraum konnte er erst den Mantel nicht finden, dann ihn nicht umtun. Fraundorfer mußte ihm helfen. Das Zuknöpfen des Mantels dauerte Minuten.

Man hatte ihnen zum Hinabgehen eine Kerze gereicht. Fraundorfer hielt sie und schritt voran. Sein ungeheurer Schatten bedeckte das ganze Stiegenhaus. Unten sagte Laudin: »Zu wissen, daß man zum letztenmal eine Stiege hinuntergeht, das gehört zu den vielen Kommunikationen mit dem Tod, die das Leben bietet.«

»Woher weißt du, daß es zum letztenmal ist?« fragte Fraundorfer hart und in die Luft hinein.

»Woher weißt du, daß du mit einem Buch fertig bist, wenn du die letzte Seite umgeschlagen hast? Woher weißt du, daß du ein Glas nie wieder in die Hand nehmen wirst, wenn es zertrümmert ist? Das sind unsere Abschiede. Die Stiege, nun ja, die Stiege ist eine Hyperbel. Aber nicht alle Dinge versinken hinter uns ins Nichts, wenn wir sie endgültig verlassen. Ein Glas, ein Buch und eine Stiege können nicht so nichtig werden wie ein Mensch, der abgetrennt dasteht von Menschheit, Gott und Erde und von dessen Nichtigkeit, o gibt es denn kein stärkeres Wort, warum sind denn alle Worte so nichtig? von dessen Nichtigkeit wir so wenig begreifen, daß wir sie erst zu ahnen beginnen, wenn wir auf die Uhr unseres Herzens sehen und bemerken, daß sie keine Zeit mehr angibt.« Er drückte die Stirn auf das Geländer, schämte sich aber sogleich dieser Schwäche und nahm wieder seine rückensteife Haltung an.

»Du phantasierst, Bruder; komm,« sagte Fraundorfer unbewegt.

Sie traten auf die Straße. »Also, jetzt könnte man mal das mit den Pflastersteinen probieren,« rief Fraundorfer kaustisch und stieß den Stock so heftig gegen den Boden, daß Herr Schmitt erschrocken winselnd zurücksprang und hierauf seinen Meister vorwurfsvoll anblickte. »Schau dir diesen Mépris an,« sagte Fraundorfer und wies auf den Hund; »schau dir an, was in dem Tier für ein Mépris steckt. Trauriges Pack ihr, spricht er zu uns, traurige Hungerleider der Illusion, traurige Vagabunden auf einem traurigen Jahrmarkt.«

»Auch du phantasierst, Egyd,« sagte Laudin, wieder in zusammengebückter Haltung.

»Ich wohne nicht mehr in meinem Hause,« sagte er dann. »Ich wohne seit heute bei Frau von Damrosch. Pia hat es veranlaßt. Pia und ich werden wohl auseinandergehen.«

Fraundorfer brummte etwas Unverständliches. Sie gingen schweigend den kurzen Weg bis zur Löbelstraße, aber Laudin hatte sichtlich Mühe, zu gehen. »Mir ist kalt,« sagte er. Dann machte er Fraundorfer den schüchternen Vorschlag, er möge bei ihm bleiben. Es war, wenn man schärfer hinhörte, eine dringliche Bitte. Fraundorfer knurrte wieder, aber das Knurren war Einwilligung. Am Morgen müsse er mit einem Untersuchungsgefangenen konferieren, fuhr Laudin in demselben gedrückten, überbescheidenen Ton fort; es sei ein Student, jemand, den er unverantwortlich habe verkommen lassen. Jemand, dessen Schicksal er mitverschuldet habe. Den müsse er sprechen. Dann müsse er noch einen Gang tun. Dann habe er, um elf Uhr, einen wichtigen Termin bei Gericht. Zu dem Konrad Lanz wolle er schon um acht Uhr, und er müsse vorher noch den Untersuchungsrichter aufsuchen oder telephonisch seiner habhaft werden, da er die Legitimation brauche. Es handle sich also nur um ein paar Stunden, für die er Fraundorfers Gesellschaft in Anspruch nähme.

Alle diese Reden schienen Fraundorfers Bedenken wachzurufen. Er schob seinen Arm in den Laudins und schleppte den schwer Gehenden weiter. Die Straßen waren wie ausgestorben.

Als sie endlich in Laudins neuer Behausung angelangt waren, nicht ohne Schwierigkeit hatten sie mit den verschiedenen Schlüsseln hantiert, sah sich Laudin in dem mit blauem Stoff behangenen Zimmer besinnend um. Am Fußende des Bettes stand der Koffer, den Pia geschickt. Und wie am Nachmittag, kaum umfaßbares Leben, das seit jener Stunde und der jetzigen verflossen war, murmelte Laudin, wie vom selben Objekt mechanisch zur selben Äußerung gedrängt: »Also das ist Pia . . .«

Er entledigte sich des Mantels und ließ sich in einen Lehnstuhl fallen. Fraundorfer tat ebenfalls den Mantel ab, warf den Schlapphut auf den Boden, räkelte sich in einen andern Stuhl und stützte, massig nach vorn gebeugt, das Kinn auf seinen Stock.

Herr Schmitt, geräuschlos wie immer, den in Ergebenheit schwimmenden Blick auf den Meister gerichtet, lagerte zwischen ihnen.

Stunden vergingen, die Dämmerung kam, der Tag brach an, die Sonne begann zu scheinen, keiner von beiden Männern schlief, keiner von beiden sprach.


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