Jakob Wassermann
Laudin und die Seinen
Jakob Wassermann

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23

Konstanze Altacher kam selbst, um Laudin den versprochenen Bericht zu überreichen. Sie machte unverkennbar eine Situation daraus. Die tragische Haltung, die sie bei dieser Gelegenheit annahm, verpflichtete den Advokaten zu einer mitfühlenden. Es war das zu beobachtende Zeremoniell. Viele Frauen verzichteten lieber auf einen Vorteil als auf das Zeremoniell.

Konstanze Altacher war von zierlicher Gestalt; sie hatte ein Katzengesicht: weit voneinander stehende schwarze Augen, strähniges, schwarzes Haar, eine etwas gestülpte Nase; nicht unschön im ganzen. Ihre Stimme war sanft und dunkel, und sie sagte manchmal Dinge, die ohne Bedeutung waren, bedeutungsvoll. Das ermüdete den Zuhörer. Sie hielt den Partner im Gespräch so fest im Blick, als wolle sie ihn mit den Augen annageln. Das war nicht behaglich. In ihrem Wesen lag ein beständiger stummer Hinweis auf ihr schweres Geschick. Das erweckte stummen Widerspruch.

Der Bericht, mit gewandter Feder abgefaßt, lautete wie folgt.

 

Meine Ehe mit Edmund Altacher ist unter glücklichen Vorzeichen geschlossen worden. Edmund war schon damals vermögend und hatte eine bedeutende Stellung in der Industrie; ich war aus einem guten Haus, besaß eine stattliche Mitgift und war äußerlich nicht gerade reizlos. Auch hatte ich eine vorzügliche Bildung genossen, beherrschte mehrere Sprachen und hatte zwei, drei Winter hindurch Vorlesungen im philosophischen Seminar gehört.

Wir richteten uns standesgemäß ein, sahen häufig Gäste bei uns und gingen viel in Gesellschaft. Ich darf sagen, daß in den ersten Jahren unseres Zusammenlebens die Harmonie durch keine Wolke getrübt wurde, und wenn wir auch nicht immer Turteltauben waren, gute Kameraden waren wir stets.

Soweit ich mich entsinnen kann, ergaben sich die ersten Mißverständnisse, als die Kinder schulpflichtig wurden. Unsere drei Töchter waren in Zwischenräumen von je einem Jahr geboren worden; ihr Entwicklungsgang war also beinahe gemeinsam. Ich wünschte, daß die Kinder zu Hause unterrichtet werden sollten, und zwar aus vielen Gründen. Zunächst fürchtete ich die Gefahr, die von ansteckenden Krankheiten drohte. Ich wollte diese geliebten Wesen, die ich mit so unendlicher Pflege und Sorgfalt aufgezogen hatte, nicht mutwillig einer Schädigung preisgeben. Ich konnte es verhindern, daher mußte ich es verhindern. Außerdem wollte ich meine Kinder auch in moralischer Hinsicht nicht den Einflüssen des Schulbesuchs überliefern. Die Zuchtrute und die zopfigen Disziplinen schreckten mich ab. Ich neige in meiner Gesinnung zu einem gewissen Aristokratismus; die geistige Massenabfütterung habe ich von je verabscheut. Vielleicht überschätzte ich die Anlagen meiner Töchter ein wenig, doch durfte man es mir nicht verübeln, daß ich sie nicht in den Pferch lassen wollte, worin alle individuelle Ausbildung im Keim erstickt wird.

Edmund teilte meine Meinung nicht. Er glaubte vor allem nicht daran, daß die Mädchen von einer besonderen Art seien. Das mußte ich ihm verzeihen; was wissen Väter von ihren Töchtern? Doch leugnete er auch, daß sie sich von den Kindern anderer Eltern unterschieden. Ich könnte jedoch viele Zeugnisse anführen, und von maßgebenden Menschen, daß gerade dies der Fall war. Als Frau und Mutter sah ich auch schärfer und stand in innigerer Beziehung zu den Kindern denn er. Beruf und abziehende Sorgen erlaubten ihm ja nicht, sich wirklich mit ihnen zu beschäftigen. Es war immer wie ein Spiel. Der Berufsmensch will von seinen Kindern möglichst wenig Unbequemlichkeiten haben; verdüstert ihn die Welt, sieht er gleich alles düster im Haus. Wohin die Mädchen kamen, erregten sie Bewunderung, sei es durch ihre musikalischen Talente, sei es durch Aufgewecktheit und unbefangenen Frohsinn. Edmund aber nahm das Wohlwollen der Leute für Schmeichelei, und meinen berechtigten Stolz nannte er Verblendung. Ich hatte bestimmte pädagogische Ziele; meine Freunde billigten sie; Sachverständige holten sich Rat bei mir und sagten, ich hätte ungewöhnliche Ideen. Edmund allein vermochte ich keine Anerkennung abzuringen; für ihn war es nichts als Verschrobenheit und Blaustrümpfigkeit. Das verdroß mich bitter.

Nach und nach kam es dahin, daß er mir in allen Dingen widerstrebte, an allem nörgelte und meine Handlungsfreiheit in jeder Richtung zu verkürzen suchte. Nicht bloß, was die Kinder betraf; in allem, sage ich. Die Leute, mit denen ich umging, waren ihm nicht recht; meine Toiletten mißfielen ihm; meiner Wirtschaftsführung mißtraute er; mit der Wahl der Dienstboten war er unzufrieden; die Bücher, die ich las, ärgerten ihn; die kleinen kunsthistorischen Arbeiten, die ich in meinen spärlichen Mußestunden schrieb und die von meinen Freunden rückhaltlos gewürdigt wurden, waren bloß dilettantische Versuche in seinen Augen. Der Grundzug meines Wesens ist die Begeisterung für das Schöne und das Große in der Welt; hierin habe ich mich seit meinen Mädchenjahren nicht geändert, und es hat mir diese Eigenschaft schon über vieles Schwere hinweggeholfen; warum war Edmund bestrebt, sie herabzusetzen, war es doch zumindest eine unschädliche Eigenschaft, und nicht bloß vor mir, auch vor andern herabzusetzen?

Warum, fragte ich mich mit Kummer, warum dieser Mangel an Billigkeit? warum greift er den friedlichen Bezirk meines Wirkens an wie eine Säure, die sich langsam immer mehr konzentriert und alles um sich her der Zerstörung unterwirft? Ich zweifelte damals noch nicht an seiner Liebe, wie ich es leider im Verlauf der Jahre tun mußte. Ich hatte keine Ursache dazu, ich meine keine tiefere. Ich verzieh ihm seine Launen und Verstöße beständig, und ich kann wohl behaupten, daß es eine so bedingungslose Ergebenheit einer Frau gegen ihren Mann zum zweitenmal nicht gibt. Ergebenheit von den geringsten bis zu den größten Angelegenheiten des Lebens, im unausrottbar verwurzelten Gefühl noch heute, nach alledem, was geschehen ist. Er und die Kinder, weiter wußte ich nichts, weiter kannte ich nichts auf Gottes Welt; sein Wohl, sein Behagen, sein Gelingen, sein Glück, das war mein einziger Gedanke.

Doch wie lohnte er mirs? aus meinen Liebesbeweisen saugte er Gift, das Gift der Verdrossenheit, des Mißtrauens und der Einsamkeit. Jede Enttäuschung, die er von Menschen erfuhr, mich ließ er sie entgelten, ob es sich um öffentliche Interessen oder um die Unzulänglichkeit seiner Angestellten und Beamten handelte; mit der Zeit achtete er auch die gebotene Rücksicht nicht mehr und schien die verwunderten und traurigen Augen der Kinder nicht zu gewahren. Welchen Stachel senkte er in ihre Seele; wußte er es? bedachte er, wie er ihnen das Leben entfärbte und sein eigenes Bild in ihnen verunglimpfte?

Er fing an, das Haus zu meiden. Unser gemeinsames Heim wurde ihm zu einem Quartier, in dem man nächtigt. Die Mahlzeiten nahm er im Klub oder bei Freunden, will sagen bei sogenannten Freunden. Für die nichtigsten Menschen hatte er Zeit; für mich nicht, für uns nicht; die zudringlichsten abzuwehren, besaß er nicht die Kraft; bedurften die eigenen Kinder seiner, so spürte er es nicht. Wie war das zu erklären bei einem Mann von solcher Rechtlichkeit und Klugheit, Gemüts- und Geistesbildung? Unzählige schlaflose Nächte habe ich mit schmerzlichem Grübeln verbracht, mit Tränen, Vorsätzen und Gebeten. War ich denn zu schwach, ihn zu halten? Wohin strebte er? Wonach verlangte er? Was war die Ursache seiner Entartung? anders kann ichs nicht nennen; es war, als hätten wir ihn verloren. Ich habe ihn gefragt, oft und oft zur Rede gestellt. Er hat sich keineswegs in Schweigen gehüllt; Gründe gab es für ihn die Menge. Aber wie sollten mich diese Gründe überzeugen? Es waren Scheingründe. Er hatte sie zu seiner Rechtfertigung konstruiert. Das warf ich ihm vor. Dann endete gewöhnlich das Gespräch in Zorn bei ihm, in Ausbrüchen der Verzweiflung bei mir. So konnte man nicht weiterleben.

Ich wußte natürlich schon längst, daß er gewissen bösen Einflüssen ausgesetzt war. Ich behaupte nicht, daß der Umgang mit Ernevoldt und May Ernevoldt und später mit Luise Dercum die einzige Ursache meines Unglücks gewesen ist. Die Entfremdung zwischen mir und Edmund reichte ja viel weiter zurück und hat viele Jahre, bevor diese Leute aufgetaucht sind, ihren Anfang gehabt. Aber seit sie in sein Leben getreten sind, ist es in jeder Beziehung schlimmer geworden, so kann ich also nicht umhin, ihnen die Hauptschuld an dem rapiden Zusammenbruch unserer Ehe zuzuschreiben. Mögen sie es vor Gott verantworten.

Es ist ungefähr anderthalb Jahre her, daß Edmund zum erstenmal den Namen Ernevoldt nannte. Er brachte ihn dann öfters ins Haus, aber da ich meine Abneigung gegen den Menschen nicht verbergen konnte, mir auch Übles von der neuen Freundschaft ahnte, trafen sie sich anderwärts, meistens wohl bei Ernevoldt selbst, wo Edmund dessen Schwester May kennenlernte. Ernevoldt war zu meinem Mann durch die Empfehlung eines Geschäftsfreundes gelangt, wenn ich mich recht erinnere. Ich weiß von seinem Charakter wenig; ich weiß nur, daß er in jeder Hinsicht eine verkrachte Existenz ist. Sein Vater soll aus Schweden eingewandert sein und eine heruntergekommene Adlige geheiratet haben; er hat sich nirgends halten können und ist schließlich in Amerika gestorben, wie es heißt. Ernevoldt hat Frau und Kind; die läßt er aber darben, während er selbst in Saus und Braus lebt; er hat sich ihrer auch entledigt, so hat man mir erzählt; sie wohnen irgendwo in einem süddeutschen Nest, und die Frau muß mit erniedrigenden Arbeiten ihr Brot verdienen. Bernt Ernevoldt war Kriegskorrespondent, Unterhändler, Firmenvertreter, Filmregisseur und wohnt jetzt in Hietzing, in einer geliehenen Villa, mit seiner Mutter, zwei Tanten, einem Bruder und seiner Schwester May.

Dieser May war es beschieden, in verhängnisvoller Weise in das Leben meines unglücklichen Gatten einzugreifen; ihr zuerst und nachher der Schauspielerin Dercum, in deren und in den Händen Bernts sie vielleicht nur ein blindes Werkzeug war. Ich will es zu ihrer Ehre annehmen. Ich kann nicht dafür, wenn das, was ich nun berichte, einen Anschein von Hintertreppenromantik hat. Es ist nun einmal so, daß die Verwicklungen des Lebens alle Phantasien der Geschichtenschreiber übertreffen. Ich will mir Mühe geben, den Sachverhalt möglichst zusammengedrängt zu schildern, denn verständlich zu machen, wie da eins ins andere geht, ist nicht ganz leicht, und sollte ich mit meiner Darstellung auf Zweifel stoßen, so kann ich mit Beweisen aufwarten, die der größte Skeptiker nicht zu widerlegen vermag.

Daß Ernevoldt mit seinem sympathischen Äußeren und seinen einschmeichelnden Manieren die Freundschaft meines Mannes gewann, konnte mich, wie die Dinge standen, nicht wundern. Menschen zu erobern ist ja beinahe das Gewerbe dieses halben Abenteurers, und mit seinen fünfunddreißig Jahren sieht er noch immer aus wie ein jugendlicher Athlet. Dazu muß man bedenken, daß er in einem Moment in Edmunds Leben trat, wo der Fünfzigjährige in seinem ganzen Verhältnis zur Welt wankend geworden war, in seinem bisherigen Glauben sowohl, oder vielmehr Unglauben, als auch in seiner Arbeit und seinen Arbeitszielen. Er suchte krampfhaft neuen Boden, neuen Inhalt. Das war mir leider schon lange bekannt. Ich war dagegen ohnmächtig. Meine Stimme drang nicht mehr zu ihm.

Ernevoldt beschäftigte sich unter anderm, wahrscheinlich von seiner Schwester beeinflußt, mit Okkultismus und Theosophie, aber da er nach seiner ganzen Veranlagung ein Dilettant ist, wird auch dahinter wenig Ernst gewesen sein. Er erzählte Edmund viel von der Gemeinschaft einer Gruppe von Menschen, die sich dem niedrig Irdischen schon entzogen hätten, vor denen er nur ein unwissender Schüler sei; er erzählte ihm von seiner Schwester May, die er als Erleuchtete bezeichnete; sie habe Visionen und sei magisch erfüllt. Dieser Köder verfing. Schon bei der ersten Begegnung mit May war Edmunds Schicksal besiegelt. Vom ersten Augenblick an hat er ihr unbegrenztes Vertrauen geschenkt. Sie wurde seine Privatsekretärin; bald erstreckte sich ihr Einfluß auf alles, was er tat und dachte. Edmund begann damals schon zu kränkeln; das schwere Herzleiden, an dem er jetzt siecht und das ihn vor zwei Wochen gezwungen hat, sich in Sanatoriumspflege zu begeben, zeigte sich im ersten Stadium. Er war, wie ich schon sagte, seiner selbst nicht mehr sicher; nun geriet er auf einmal in das benebelnde, quasi religiöse, geheimnishafte Treiben; die Sekte nahm ihn auf und verstrickte ihn, und über den hypnotisierenden Gesprächen und der Lektüre verwirrender und verworrener Bücher und Schriften vergaß, vernachlässigte er alles andere. Diese May und ihr Anhang machten ihn nicht bloß von Frau und Kindern vollkommen abwendig; das mystische Gebaren, der freche Schwindel brachten ihn auch dahin, daß er, der früher so vernünftige und sparsame, in Gelddingen trotz seines Reichtums mehr als zurückhaltende Edmund Altacher die bedenklichen Unternehmungen Ernevoldts finanzierte, ihm große Summen zur Verfügung stellte und außerdem die ganze Familie aushielt. So weit hätte es aber nach meiner festen Überzeugung ohne Luise Dercum nicht kommen können, und sie betrachte ich als den eigentlichen Dämon aller dieser Menschen, Edmund inbegriffen. Es ist leicht, sich über meine sogenannten Einbildungen lustig zu machen, wie Edmund es zu verschiedenen Malen getan hat und wie mir auch über andre berichtet wurde. Sollen sie nur; ich sehe, was ich sehe, und weiß, was ich weiß.

Daß die Dercum eine skandalöse Vergangenheit hat, wird niemand leugnen, ist doch ihr Name genugsam durch allen möglichen Zeitungsklatsch geschleift worden. In Berlin flüstert man sich die unerquicklichsten Dinge über sie zu. Der Schauspieler Arnold Keller, der sie geheiratet hat, soll geistig und seelisch vollkommen durch sie ruiniert worden sein; die Internierung in der Irrenanstalt ist ihr Werk, sagt man; er war ihr einfach lästig geworden, und um sich seiner zu entledigen, da es anders nicht ging, verschaffte sie sich auf raffinierte Weise Atteste über seinen Geisteszustand, die seine Einsperrung zur Folge hatten. Es haben sich bereits Stimmen erhoben, die seine Entlassung aus der Anstalt fordern, aber sie widersetzt sich dem energisch, indem sie behauptet, Arnold Keller trachte ihr nach dem Leben. Was für Menschen, was für eine Welt; ich hätte nie geglaubt, daß der Hauch davon bis zu uns dringen könnte.

Es wurde mir erzählt, Ernevoldt habe die Dercum als siebzehnjähriges Mädchen auf einer böhmischen Provinzbühne entdeckt und sei von ihrer Genialität so hingerissen gewesen, daß er sie auf seine Kosten habe ausbilden lassen. Jedenfalls hat er sich in all den Jahren kräftig ihrer angenommen, und über das intime Verhältnis zwischen ihnen kann ein Zweifel nicht gut bestehen. Aber erst als sie vor einigen Monaten das Berliner Domizil gänzlich aufgab und hierher übersiedelte, führte Ernevoldt sie bei seiner Familie ein, und dort sah sie auch Edmund bisweilen. Ich sage »bisweilen,« denn ich weiß nicht, wie oft; man hat es da wohl mit einer Frau zu tun, die keine langen Vorbereitungen nötig hat, um ihre Netze auszuwerfen und die Beute in Sicherheit zu bringen. Das klingt vielleicht herzlos und ungerecht; aber ich kann mir nicht helfen. War man nicht auch gegen mich herzlos und ungerecht? Die Entrüstung in meiner Brust schwemmt alle milderen Gefühle hinweg.

So schrankenlos Mays Macht über meinen Gatten war oder ist, denn alles das besteht ja noch, während ich dies niederschreibe, so ungemessen ist die der Schauspielerin über May. Diese erblickt geradezu ein höheres Wesen in Luise Dercum. Sie führt widerspruchslos ihre Befehle aus, gehorcht ihren verhülltesten Andeutungen, und man braucht dabei keineswegs anzunehmen, daß sie um die selbstsüchtigen Absichten ihres Bruders und seiner Freundin weiß; sie steht offenbar unter einer Bezauberung, wie ja auch alle übrigen Menschen, die in irgendwelcher Verbindung mit der Dercum sind, obschon es natürlich nicht immer so weit geht, daß sie der Selbstbestimmung beraubt werden. Und das scheint mir bei May Ernevoldt der Fall zu sein, die ich für ein überaus reizbares, hypersensitives und willensschwaches Geschöpf halte. Ich habe sie mehrmals gesehen, allerdings nur flüchtig, und glaube in meinem Urteil nicht zu fehlen.

Ich bin überzeugt, daß zwischen May und meinem Gatten kein sträfliches Verhältnis besteht, noch je bestanden hat. Nicht bloß kann ich mich dabei auf die feierlichen Versicherungen Edmunds berufen, die in Zweifel zu ziehen für mich kein Grund vorliegt, sondern auch mein Instinkt bestätigt es mir. Aber das ist ja das Rätselhafte; um so unheimlicher muß mir und jedem Klardenkenden die ganze Verstrickung erscheinen. Edmund ist ihr mit Haut und Haar verfallen, ihr und somit Ernevoldt und der Dercum. Er ist das Opfer. Er ahnt nicht, daß er das Opfer ist. Es ist als schlafe er, als träume er. Er fühlt sich wohl, während sie sein Blut trinken. Bis zum Ende des Herbstes hegte ich noch die Hoffnung, daß er aufwachen, seine schmähliche Lage erfassen würde; an seinem Geburtstag noch, im Oktober, habe ich ihn mit den innigsten Worten beschworen, habe an seine Ehre appelliert, von dem Kummer und der Scham unserer Töchter gesprochen, die nunmehr zu erwachsen sind, als daß man ihnen den unbegreiflichen Fehltritt des Vaters gänzlich verhehlen könnte; er hat mich finster schweigend angehört und ist dann eine Woche lang nicht nach Hause gekommen. Da, einige Tage, bevor er ins Sanatorium ging, sprach er plötzlich von Scheidung. Zum erstenmal. Ich war wie vom Donner gerührt. Scheidung nach zwanzigjähriger Ehe? Scheidung von dem Mann, den ich über alles liebte und der krank war, vielleicht unheilbar krank? Scheidung, ohne daß ich mir eines Vergehens bewußt war und ohne daß er, eingestandenermaßen, eine neue Ehe schließen wollte? Was ging in ihm vor? mußte man nicht an eine fluchwürdige Behexung glauben? Wie aber soll ich erst meine Empörung, meine Verzweiflung beschreiben, als ich drei Tage später von vertrauter Seite erfuhr, daß er den Plan hatte und auch im Begriff war, ihn auszuführen, May Ernevoldt den vierten Teil seines Vermögens zu schenken, damit sie noch zu seinen Lebzeiten aller Sorgen enthoben sei.

Da erst habe ich mich entschlossen, zu handeln. An diesem Punkt durfte ich nicht mehr ruhig zusehen und ihn gewähren lassen. Wer war May Ernevoldt für ihn, wer war sie für mich, für meine Töchter, daß sie die Nutznießerin seiner Arbeit und des rechtmäßigen Besitzes der Familie werden sollte? Absurderes konnte nicht ausgedacht werden, und schließlich hatte ich nun der Demütigungen und Leiden genug geschluckt. Diese unsinnige und frivole Schenkung muß verhindert werden; Gott sei Dank ist sie noch zu verhindern. Sie wäre ein Schlag ins Gesicht, mir und den Kindern, eine beispiellose Bloßstellung. Ich habe einen Familienrat einberufen; alle Verwandten sind zu dem Ergebnis gelangt, daß ich in die Scheidung, falls mein Gatte weiterhin darauf bestehen sollte, nur dann willigen könne, wenn er sich rechtskräftig verpflichtet, die Schenkungsabsicht aufzugeben; weigere er sich aber, so dürfe man nicht davor zurückschrecken, und ich werde nicht davor zurückschrecken, so sehr sich alles in mir dagegen sträubt, das Entmündigungsverfahren zu beantragen. Triumphieren sollen jene nicht, die aus der körperlichen und seelischen Schwäche eines edlen Menschen ihren Vorteil ziehen wollen. Im übrigen haben die drei ältesten Mitglieder der Familie sich bereit erklärt, Edmund aufzusuchen, um den unheilvoll betörten Mann auch von dem Gedanken der Scheidung abzubringen. Sie wollen sein Gewissen aufrütteln und ihm über die Tragweite seines Vorhabens die Augen öffnen. Sobald die behandelnden Ärzte ihre Erlaubnis dazu geben, wird dieser letzte Schritt geschehen. Bleibt er fruchtlos, dann gnade uns Gott, mir und meinen Töchtern.

 

Mit tiefgefurchter Stirn, den bohrenden Blick auf die zu Ende gelesene Seite gerichtet, blieb Laudin unbeweglich sitzen. Das Klingeln der Telephonglocke ließ ihn zusammenfahren, als wären es Hammerschläge.


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