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63.

Uebrigens zerstreuten, während dieser inhaltsleeren Wochen, zwei Vorfälle die Langweile, welche wir in Folge der Abwesenheit Gertrudens empfanden. Der erste war die Einweihung meines Sohnes zum Priesteramte. Bei dieser Gelegenheit lobpries ich Gott dafür, daß er mich die Freude hatte erleben lassen, mein Kind schließlich in seinen heiligen Beruf eingeführt zu sehen, und bereitete mich darauf vor, ihn für das, dem er sich gewidmet hatte, immer würdiger zu machen, indem ich sein Herz mehr als gewöhnlich mit ernsten Gedanken erfüllte und mich bemühte, es von dem Sauerteig der christlichen Liebe durchdringen zu lassen. Der gute Junge, so sehr er auch von der Liebe ergriffen war, denn die Liebe befestigt in ehrenhaften Gemüthern den Hang zur Großherzigkeit noch mehr, als sie ihn verändert, zeigte sich voll Muth, entstammt von Eifer und der Gelehrigkeit ergeben, so daß unsere Unterhaltungen und unsere Spaziergänge einen gewissen Reiz durch gottesfürchtige Hoffnung und fruchtbringende Heiligung erhielten.

Das andere Ereigniß war die Ankunft eines Briefes von der Mutter Rosa's, als Antwort auf den, worin ich den Tod ihrer Tochter gemeldet hatte. Diese arme Dame, glücklich, in mir einen Schmerz gefunden zu haben, der sich dem ihrigen anschloß, machte mich darin zum Vertrauten ihres schon lange währenden Kummers, womit die starre Strenge des Gemahls ihr von Natur zur Nachsicht geneigtes Herz gequält hatte, und die nicht so weit abgestumpft war, die Befehle eines gereizten Gatten zu unterschreiben, ohne nach einander alle Qualen eines blutenden Mitleids zu empfinden. Nach diesen vertrauten Mittheilungen kam sie auf den Bericht, den ich über den Tod Rosa's gegeben hatte, und sie fand darin viel weniger Gründe, sich zu trösten, als vielmehr Ursache, sich tausend Vorwürfe über ihre Härte, ihren Mangel an Gefühl und ihre Unbarmherzigkeit gegen dieses so grausam verkannte und so unwürdigerweise verlassene, theure Wesen zu machen. Endlich schloß sie, indem sie den tiefempfundensten mütterlichen Dank gegen mich darlegte und erklärte, daß sie so lange keine Ruhe und Linderung ihres Grames finden würde, bis sie die Erlaubniß erhielte, nach Genf zu kommen, um dort ihren Gefühlen freien Lauf lassen und das Grab ihrer Tochter besuchen zu können: »Was Gertrud anbetrifft, so will ich sie besuchen, und dies allein gibt mir die Kraft zu warten: sie ist die geliebte Schwester Rosa's gewesen; sie soll meine vielgeliebte Tochter sein, und ich sehne baldigst den Augenblick meines höchsten Wunsches herbei, daß ich Wenigstens meine Thränen mit den ihren vermischen kann!«

Ich las diesen Brief meinem Sohne vor, der ebenso lebhaft wie ich davon ergriffen war, und wir durchlebten in der Erinnerung noch einmal alle die Wechselfälle, durch welche sich diese letzten Monate ausgezeichnet hatten, um zu erkennen, daß Gertrud in der That während dieser Prüfungszeit alle Beweise von Muth, von gesundem Sinne, von Erhebung, Hingebung und wahrer Frömmigkeit dargelegt hatte. – »Ohne Zweifel«, sagte mein Sohn, »hat das so schöne Ende Rosa's ihren Vorzügen das Siegel einer frühzeitigen Festigkeit und den Glanz einer evangelischen Selbstentäußerung aufgedrückt; aber was hat Gertrud auch nicht für schwere Tugenden entfaltet, was für engelgleiche Seltenheiten, nicht allein bei den Millers, sondern auch in dem eingeschränkten Raum dieses Zimmers! Ich will dem Charakter Rosa's keinen Abbruch thun; aber gestehen Sie zu, mein Vater, daß sich noch eher Sterbende, die uns erbauen, finden lassen, als Lebende, die Monate, Jahre, ja ein ganzes Leben mit stets gleichbleibender Ausdauer in täglicher Ausübung alles dessen, was die Kreatur vor Gott und vor den Menschen ehrt, widmen!« – In dieser Weise warf sich mein Sohn, beherrscht durch ein sehr natürliches Gefühl tiefer Liebe, von freien Stücken zum leidenschaftlichen Vertheidiger Gertrudens auf. Ich war weit davon entfernt, ihn dadurch, daß ich ihm in Bezug auf diesen Gegenstand widersprochen hätte, noch mehr aufzuregen; aber indem ich das, was in dem von ihm Vorgebrachten geeignet war, zum unterrichtenden Unterhaltungsstoff zu dienen, aufgriff, erwog ich mit Milde, schätzte ich mit Mäßigung ab, und bald fanden wir uns, ohne weiter an Rosa oder an Gertrud dabei zu denken, in einen Meinungskampf über Fragen der Moral, über Regeln der Abschätzung verwickelt, und unterwarfen letztlich die Endergebnisse unserer gebrechlichen Weisheit der höchsten Entscheidung der heiligen Schrift, weil wir jene entweder bald aufgeben, oder bald anders wenden mußten.


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