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Rosa und Gertrud.

1.

Als ich mich eines Tages zu einem Sterbenden begab, sah ich beim Durchschreiten jener gewöhnlich einsamen Straße, in welche die Treppe der Barrieren einmündet, und die man, wenn ich nicht irre, die Klosterstraße nennt, zwei junge Damen Arm in Arm, die sich mit freundschaftlicher Heiterkeit gegenseitig in dem Bemühen beistanden, die regelrechte Verfassung ihrer Kleider gegen den Angriff des Windes zu behaupten, der mit ausnehmender Heftigkeit wehte. Bei meinem Anblick geriethen sie zwar anfangs in einige Verlegenheit; aber da sie sich, wie sie mir eröffneten, gerade dadurch, daß sie von Straße zu Straße der Beschwerlichkeit dieses Sturmwindes entgehn wollten, verirrt hatten, so wies ich ihnen, auf ihre Bitte, den rechten Weg zu ihrem Hotel. Nachdem ich sie einige Augenblicke begleitet hatte, verabschiedete ich mich von ihnen, um mich in aller Eile nach dem Hause zu begeben, wo man mich erwartete. In dem Augenblick, als ich daselbst eintrat, war eben der Sterbende verschieden, so daß ich nur noch an die Seinigen, die sich um ihn versammelt hatten, die Tröstungen richten konnte, die uns unsere heilige Religion zur Beschwichtigung der Trauer an die Hand gibt.

Die Ausdruckweise der jungen Damen war von der Art, daß ich vermuthen konnte, sie wären Deutsche; übrigens aber hatte ihre Erscheinung, die sie als reich, heiter und schmuckliebend darstellte, mir einen anfangs unbemerkten Eindruck gewährt, der im Augenblick, als ich bei dem Sterbenden eintrat, lebendiger geworden war. Dies rührte offenbar von jenem Gegensatz zwischen dem Alter, der Lage und dem Schicksale her, welcher, wenn er auch fortwährend auf Erden stattfindet, uns doch nicht immer so sichtlich in die Augen fällt, selbst bei Berufsarten, die, wie die meinige, uns in gewohnte Berührung mit den Glücklichen und Unglücklichen dieser Welt bringen, als wenn er uns bisweilen unvermuthet da aufstößt, wo wir es nicht erwarteten. Das wenigstens ist sicher, daß ich, nach Hause gekommen, vergeblich über meine Predigt für den nächsten Sonntag, nach dem Texte, der mich schon zu einer guten Hälfte davon begeistert hatte, weiter nachzudenken suchte. Genug, ich mochte wollen oder nicht: nachdem ich die größten Anstrengungen gemacht hatte, mir diese gute Hälfte schon abgethaner Arbeit nicht entgehn zu lassen, sah ich mich doch zuletzt genöthigt, einen neuen Text zu wählen und wieder von vorn anzufangen. Hierauf entwarf ich nichtsdestoweniger, durch die empfangenen Eindrücke und durch meine Erinnerung zwischen der Vorstellung von den beiden glücklichen Mädchen und der von dem Anblick des Todten, umgeben von seiner trostlosen Familie, schwebend, in ziemlich kurzer Zeit eine andere Predigt über den Text: »Ich sprach zum Lachen, du bist toll, und zur Freude, was machst du?« (Pred. K. 2). Mein Sohn, dem ich jederzeit meine Predigten vorzulesen pflegte, theils um von seinen Bemerkungen Gebrauch zu machen, theils, damit er selbst Nutzen daraus ziehen möge, in sofern er auch die Laufbahn eines evangelischen Predigers zu seinem Berufe wählte, fand einige Stellen derselben gut, und als er die übrigen kritisirt hatte, unterhielten wir uns über die beiden jungen Mädchen, denen ich am Morgen begegnet war.


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