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42.

Bald am Morgen des folgenden Tages entschied ich mich dafür, ohne den jungen Damen etwas zu sagen, an Rosa's Eltern zu schreiben, damit kein Aufschub von Seiten derselben Gefahr brächte, Rosa's Lage noch mehr zu verwickeln, und mich in die beklagenswerthe Nothwendigkeit versetzte, sie allein mit Gertrud abreisen lassen zu müssen, ohne selbst zu wissen, an wen ich sie adressiren könnte, wenn die von der Polizei festgesetzte Frist abgelaufen wäre. Außerdem, wo würde ich Hülfsquellen auffinden, um so beträchtliche Ausgaben zu bestreiten, hauptsächlich, weil in dem Zustande, in welchem sich Rosa befand, Alles darauf ankam, daß sie, wie es die Klugheit oder die Nothwendigkeit erforderte, den Weg in kleinen Tagereisen fortsetzen könnte? So meldete ich denn, ohne auf die Erwägungen, die ich in meinem ersten Briefe ausführlich behandelt hatte, zurückzukommen und von vorn herein mit den neu hinzugetretenen Umständen beginnend, die meinen Schritt nothwendig machten, wie Rosa sich Mutter fühle; die vollkommene Entblößtheit von allen Mitteln, worein sie der Verlust ihrer Reisekoffer versetzt hatte; endlich den Befehl der Polizei, welche verlangte, daß sie binnen vierzehn Tagen den Kanton verließe. In Betracht der Dringlichkeit eines jeden dieser Beweggründe, bat ich, man möchte nach Lesung dieses Briefes schleunigst eine zuversichtliche Person absenden, deren Händen ich die beiden Freundinnen übergeben könnte, und die mit dem nöthigen Gelde versehen wäre, um alle die Bequemlichkeiten, die der Zustand Rosa's während ihrer Rückreise erforderlich machen dürfte, reichlich gewähren zu können. Ich fügte noch hinzu, daß nach meinem Dafürhalten und insoweit nicht unübersteigliche Hindernisse sich entgegenstellten, am besten ihre Mutter selbst es sein möchte, die sie abholte, weil Rosa aus gewissen wichtigen Gründen keiner andern Person ihr volles Vertrauen schenken würde, während ich aus andern, nicht weniger gewichtigen Rücksichten die Wachsamkeit und den Schutz einer Mutter für allein vollkommen wirksam hielte, um strafbare gegen Rosa und Gertrud gerichtete Ränke, die zugleich deren Ehre und Freiheit bedrohten, abzuhalten. Sobald ich den Brief beendet hatte, ging ich selbst, um ihn in den Briefkasten zu stecken, und die Gewißheit, daß er in wenigen Stunden schon auf dem Wege sein würde, um zu seiner Bestimmung zu gelangen, gab mir etwas die Ruhe wieder. Ich benutzte dies, um das Tagewerk meiner laufenden Geschäfte zu besorgen, das ich zu verschiedenen Malen hatte vertagen müssen, weil ich mich mit den Angelegenheiten der Damen beschäftigte, und ich machte eine ziemliche Reihe von Besuchen ab.

Als ich darauf am Nachmittage von einem meiner Pfarrkinder wegging, hörte ich meinen Namen hinter mir rufen, und mich umwendend, sah ich einen Briefträger, der stehen geblieben war, um aus dem Paket von Briefen, die er in der Hand hielt, einzelne hervorzusuchen, indem er mir sagte: »Ich habe Ihnen zwei einzuhändigen, Herr Bernier; hier sind sie, es macht drei Franken.« – Diese Briefe trugen alle beide den Stempel: Bremen, der eine an Gertruden, der andere an mich adressirt. Indem ich meinen Weg weiter verfolgte, öffnete ich sehr rasch den letzteren, und so groß war meine schmerzliche Enttäuschung, nachdem ich ihn zu Ende gelesen hatte, daß ich, statt in mein Haus zu treten, wie es meine Absicht war, mich einer einsamen Promenade zuwandte, sei es, um dort bei mir selbst in Berathung zu ziehen, was ich zu thun hätte, sei es, um Zeit zu gewinnen, damit ich meine Angst bewältigte, ehe ich vor Rosa erschien. Der Inhalt des Briefes war folgender:

»Herr Prediger!

Indem mich mein Gemahl beauftragt, Ihnen zu bezeugen, daß Ihre Absichten den Grundsätzen der Menschenliebe Ehre machen, die Sie an einer Unglücklichen ausgeübt haben, welche, nachdem sie unwürdiger Weise ihre Eltern hintergangen hat, nun Sie selbst auf eine höchst sträfliche Art täuscht: befiehlt er mir, Ihnen zu erklären, daß es sein unbeugsamer Wille ist, Rosa dem Schicksale zu überlassen, welches sie sich selbst gewählt hat. Die Zukunft unserer andern Kinder und die Ehre unserer Familie machen dies zu einem gebieterischen Gesetze.

Demzufolge ersuchen wir Sie, Herr Prediger, diese Erklärung zu Rosa's Kenntniß zu bringen und ihr gleichzeitig mitzutheilen, sie solle unter der Bedingung, daß sie keine Schritte thut, die zum Zweck haben, die Aufmerksamkeit von neuem auf ihre Aergerniß gebenden Handlungen zu lenken, regelmäßig ein Gnadengeschenk von hundert Franken monatlich erhalten, zahlbar in Genf, oder in einem andern solchen Aufenthaltsorte, den wir genehmigen würden, sofern er in einer gleichweiten Entfernung von der Stadt, in welcher wir wohnen, liegt. Beigeschlossen ist eine vorläufige Entschädigung von dreihundert Franken, von welcher Sie sich gefälligst alle Unkosten und Vorschüsse, die Sie bisher wohl Veranlassung gehabt haben werden zu machen, zurückzahlen mögen.

Genehmigen Sie, Herr Prediger, die Versicherung meiner ausgezeichnetsten Hochachtung.

Karoline S***.«

Die unbegreifliche Härte, welche dieser Brief athmete, versetzte anfangs alle meine Gefühle in Empörung. Was heißt das, sagte ich zu mir: sein Kind aufgeben! sich zu diesem Zweck völlig eigensüchtiger Gründe bedienen, nämlich der Zukunft der ohnedies schon so bevorzugten Brüder oder Schwestern! äußerst weltlicher Nöthigungen, nämlich der Ehre, das heißt, des Familienstolzes! ... Und ich war höchst entrüstet über so weit entartete Eltern, daß sie aus dergleichen Gründen ein reuiges, geprüftes, krankes Kind, welches das bloße Lesen eines solchen Briefes allein schon in Todesgefahr bringen konnte, von sich zurückzustoßen vermochten.

Aber auf diese heftigen Aufwallungen meines empörten Herzens folgte bald der Schreck, als ich über die geheimnißvolle Zweideutigkeit einiger Ausdrücke nachdachte, deren sich die Mutter Rosa's bedient hatte. »Welche Sie selbst auf eine höchst sträfliche Art täuscht«, las ich mit steigender Aufregung. Wie wäre das möglich? worin denn? auf welche Aussicht hin? und Zweifel, die ich für immer in meiner Seele verlöscht glaubte, Vorstellungen, Ahnungen, dumpfe Befürchtungen, die, wie ich mir einbildete, längst und gänzlich daraus entflohen waren, bis auf den leisen Schatten nachdenklicher Traurigkeit, den ich verschiedenemale auf der Stirn Gertrudens wahrgenommen hatte, bis auf die Bemerkungen des Polizeikommissärs, bis auf die Anspielungen des jungen Herrn und der Marie auf einen Grafen, der gar nicht vorhanden wäre oder niemals wiederkommen würde: Alles dies richtete sich nun vor meiner Seele auf als ebenso viele Phantome, die Rosa anklagten, und zu der schmerzlichen Beklemmung kam also noch die Bitterkeit ohnegleichen hinzu, sie trügerisch, ränkevoll und strafbar zu finden, nachdem ich ihr behülflich gewesen war und sie geliebt und beschützt hatte als eine aufrichtige, treuherzige, einfache und von liebenswürdiger Redlichkeit erfüllte Seele! Während dessen troff mir der Schweiß von den Schläfen, die innere Bewegung schüttelte meine Glieder, Schwindel machte mein Sehen unsicher; ich ließ mich auf eine Bank hinfallen.

Als ich etwas ruhiger geworden war, schien mir die Menschenliebe die Pflicht aufzuerlegen, für jetzt Rosa Alles, was dieser Brief enthielt, zu verschweigen; aber die Klugheit gebot mir, mich darüber Gertruden zu eröffnen, weil es mir ja auch nicht einmal freistand, ihr den für sie bestimmten Brief vorzuenthalten. So sagte ich ihr denn, als ich nach Hause zurückgekehrt war, nach dem Thee, wobei sie an diesem Abende allein erschien, sie möchte unter irgend einem Vorwand Rosa sich niederlegen und einschlafen lassen und darauf zu mir in's Eßzimmer kommen, sobald sie könnte; sonst wollten wir auch, wenn sich dies nicht thun ließe ohne die Gefahr, die Neugier ihrer Freundin rege zu machen, diese geheime Unterredung bis auf den folgenden Tag verschieben.


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