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49.

Am folgenden Tage, welches ein Freitag war, wandte ich meinen Vormittag dazu an, einiges Geld zusammenzubringen. Ich hatte in meinem Schubfach einige zwanzig Thaler liegen, von denen ich nur so viel bei Seite legte als durchaus nöthig war, um bis zum nächsten Vierteljahrsgehalt auszureichen. Dann, weil ich einen ausnehmenden Widerwillen gegen das Borgen hatte, schickte ich, um die Summe, über die ich zu Gunsten der Damen verfügen wollte, zu vermehren, meinen Sohn mit sechs von unserem Dutzend silberner Bestecke und einem goldnen Fingerhute, den ich ehemals meiner Frau zum Hochzeitsgeschenk gegeben hatte, zu dem Goldarbeiter Durand, indem ich ihn bitten ließ, mir den Werth dieser Gegenstände anzugeben, ohne mir ihn jedoch zu senden, weil ich, nach dem, was in einem sehr nahen Zeitpunkt statt finden könnte, vielleicht dessen enthoben wäre, diese Stücke zu veräußern, an denen ich sehr hinge. Der Goldarbeiter Durand ließ mir sagen, daß der Werth dieser Gegenstände sich auf einhundert und fünfundneunzig Franken beliefe, und daß er mir überdies soviel leihen würde, als mir beliebte. Und als mein Sohn ihn über unsere Besorgnisse und Vorhaben in Kenntniß gesetzt hatte, beauftragte ihn jener, mir zu sagen, daß, weil er den Wunsch hegte, sich mit mir bei meinem guten Werke durch einen kleinen persönlichen Beitrag zu vergesellschaften, so ließe er mich bitten, dem Reisegelde, welches ich vorbereitete, die fünfzig Franken beizufügen, die mir von seiner Seite zugestellt werden würden. Auf dem Wege von dem Juwelier Durand hatte sich mein Sohn bedingungsweise einer guten Miethskutsche versichert, worin wir eine Art von Lager einzurichten beabsichtigten, auf welchem Rosa ausgestreckt ruhen konnte, und was die Reisekoffer anbetraf, so besaßen wir einen großen, der für das bescheidne Gepäck beider Damen mehr als hinreichend war. Als demnach mein Sohn gegen Mittag wiederkam, war Alles schon bereit, und ungerechnet, daß es uns gelungen war, diese Angelegenheiten in der besten Ordnung zu regeln, wie wir andrerseits kostbare Sicherheit dabei gewannen, so gewährte uns außerdem noch das Benehmen des Juweliers Durand eine reine Freude. Es gibt, in der That, keine angenehmere Empfindung als diejenige, mitten unter Bekümmernissen und Verlegenheiten einer großen Sorge, dem freiwilligen Beistande guter Herzen und dem gottgefälligen Mitgefühl der hülfreichen christlichen Liebe zu begegnen.

Jene kleinen Bemühungen hatten mich, sowohl wegen des Gegenstandes, den sie betrafen, als wegen des schnellen Gelingens, anstatt mir Beschwerde zu verursachen und meine noch sehr große Schwäche zu vermehren, im Gegentheil erquickt, indem sie dem angstvollen Sinnen Einhalt geboten und mich zu Gedanken für Thätigkeit veranlaßten, die stets weit weniger peinlich sind. Auch aß ich heute mit meiner kleinen Welt, Rosa mit inbegriffen, welche völlig gekräftigt schien, zu Mittag, und da ich mich gegen vier Uhr ziemlich aufgelegt fand, so ging ich aus, um mich zur Marie zu begeben. Nachdem ich ziemlich mühsam die Stufen ihrer Treppe erstiegen hatte, klingelte ich, und man führte mich zu ihr.

Ich fand Marie in jenem innern Theile ihrer Wohnung, worein man mich früher niemals eingelassen hatte, zu Bett. Obgleich dies Zimmer ausgeschmückter war, so herrschte doch dieselbe Unordnung darin, als in demjenigen, worin ich sonst war empfangen worden; mehr aber noch stießen mich darin die Besonderheiten einer Geräthsausstattung ab, die ganz und gar und ausschließlich zum Zweck verworfener Bedürfnisse eines schmachvollen Gewerbes zusammengesetzt waren. Einige Frauenzimmer, unter denen ich zwei von denen bemerkte, die ich im Gefängnisse gesehen hatte, die einen dastehend, andere hier und da sitzend oder in halb liegender Stellung, füllten vielmehr nur das Zimmer aus, als daß sie sich hätten nützlich zu machen verstanden, und ein Mann an dem Bett der Marie, den man sich aber entfernen ließ, sobald ich eintrat, schien die einzige Person zu sein, welche das Ansehn hatte, ihr einige vernünftige Hülfe zu leisten. Sonst standen und lagen überall Fläschchen und Arzneimittel auf den Stühlen, auf den Tischen, um das Kamin herum, verstreut umher, und Linnenzeug, das zum Verbinden gedient hatte, zog sich auf dem Fußboden der Länge lang hin, ohne daß auch nur eins der Frauenzimmer daran dachte, diese ekelhaften Fetzen zu entfernen oder die Luft des Zimmers dadurch zu reinigen, daß es auf Reinlichhaltung der Geräthschaften gesehen hätte.

Schon aus großer Weite warf die Marie, als sie mich eintreten sah, auf mein Gesicht einen forschenden Blick, worin der Ausdruck der Scheu sich mit dem der Neugierde mischte, und ließ mich an ihr Bett herankommen, ohne daß sie ein einziges Wort sprach. Gewohnt, wie ich es bin, Bettlägerige aller Art zu sehen, bald solche, welche die Krankheit stumpfsinnig macht, oder die das Fieber irre reden läßt; bald andere, welche Geschwulst entstellt oder Wunden abstoßend machen, ließ ich, als ich sie entstellt und unkenntlich vor mir sah, keinerlei Erstaunen blicken, und es entging mir nicht, zu gewahren, daß diese anscheinende Gleichgültigkeit meiner Miene, die sie täuschte, ihr einen angenehmen, hoffnungsvollen Eindruck gewährte. – »Nun, Marie«, sagte ich, indem ich mich ihr näherte, »muß ich dich schon auf dem Schmerzenslager liegen sehen und auf dem Wege, vielleicht bald Rechenschaft abzulegen?« – Diese Worte riefen, indem sie ihre Selbsttäuschung, an die sie sich noch eben geklammert hatte, vernichteten, Thränen bei ihr hervor, und, Lügnerin aus Furcht, sagte sie zu mir: »Ach! ich habe viel ausgestanden; aber Gott sei Dank, das Uebel hat in seinem Zunehmen eingehalten, und wenn Sie mich auch entstellt sehen, so habe ich doch schon bessere Augenblicke« ... Dann fuhr sie mit einem Blicke, der um eine günstige Antwort flehte, fort: »Sie, der Sie doch so viele Kranke gesehen haben, Herr Bernier, glauben Sie nicht, daß ich wieder davon kommen kann?« – »Ach, mein Kind, der Anblick täuscht, und unser Leben liegt in Gottes Hand, der bald das rührigste darniederwirft, bald das, welches dem Erlöschen nahe ist, rettet und wieder entflammt; ohne dieses, und wenn man seinen Wegen vorgreifen könnte, welche Nöthigung würde es dann geben, sich stets gegürtet und bereit zu halten, um vor ihm zu erscheinen? Ich halte dich für sehr krank.« – Bei diesen Worten überfiel die Marie die Verzweiflung, und die Frauenzimmer mußten jetzt herbeikommen, um ihre Verbände in Ordnung zu erhalten und sie in ihren verzweifelten Bewegungen zu hindern. In ihrer Wuth leistete sie ihnen heftigen Widerstand, Flüche entfuhren ihren Lippen, und wie neidisch über deren günstigeres Geschick, schwieg sie zuletzt und stierte sie nur mit wilden Augen an. – »Marie«, begann ich wieder, »ich glaubte, du hättest mich rufen lassen, um dir in der Versöhnung mit Gott beizustehen; wenn es aber nicht deine Absicht ist, die Augenblicke, die er dir noch vergönnt, zu diesem Zwecke zu benutzen, so werde ich mich von hier entfernen, wo ich, wie ich es dir offen sage, nur eingetreten bin, mit Schrecken für dich, und weil es mir auferlegt ist, keinem Sünder meinen Dienst zu verweigern.« – »Ich will leben! ich will leben!« schrie sie hierauf. »Ich bin erst fünfundzwanzig Jahr alt! Herr Bernier, ich beschwöre Sie, bitten Sie, daß ich leben bleibe; ich weiß es, der gütige Gott wird Sie eher erhören, als mich.« – »Nein«, sagte ich zu ihr, »ich werde nicht bitten, damit du so unreuig fortlebst. Du hast die Erde mit deiner Zügellosigkeit und deinen bösen Thaten befleckt; wieder davon kommend, wirst du sie noch ferner beflecken ... Es kommt also nicht auf mich an, daß du leben bleibst; vielmehr ist es an diesen Sünderinnen, die dich umgeben, für dich zu bitten, weil das Loos, das dich trifft, das ist, was auch sie erwartet.« – Auf diese Antwort erhob sich Marie aus ihrer Lage und schrie mit dem Ausdruck einer Wuth, die um so ungemessener war, je kraftloser sie selbst: »Du glaubst also, daß ich deine Fürbitte nöthig habe, um zu leben! Du glaubst« ... Als ich sie in solcher Stimmung sah, griff ich nach meinem Hut und Stock, und ging hinaus, begleitet von dem jüngsten der Frauenzimmer, die in dem Zimmer waren. – »Du bist noch jung«, sagte ich zu ihr, als wir uns allein auf dem Hausflur befanden, »und vielleicht mag dein Herz sich mehr nur sträflich verirrt haben, als tief verderbt sein. Wenn du also, gegenüber der traurigen Verdammniß, welche jene Unselige nahe erwartet, das Beben der Furcht und die Regungen der Reue empfunden hast, so höre mich an: gehe auf der Stelle von hier hinweg, um nie wieder hieher zurückzukommen; brich ohne Rückkehr mit allen diesen Frauenzimmern; gehe sofort weg zu deinem Oheim, den du niemals hättest verlassen sollen, damit er, weil er deine Bekehrung sieht, in deine Wiederaufnahme willigt, und dann komme zu mir. Wenn du es aufrichtig damit meinst, werde ich dich niemals verlassen; ich werde für dich und mit dir beten; ich werde dich, Unglückliche, wieder die Verheißungen der Frömmigkeit lehren, und dich zu einem der verlorenen Schafe machen, die, wiedergefunden, mehr Freude im Himmel verursachen, als neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen!« – Das arme Kind ergriff meine Hand, um sie zu küssen, und schluchzend verließ sie noch vor mir das Haus, um sich nach dem ihres Oheims zu begeben. –

Indem ich die Treppe hinabstieg, begegnete ich dem Arzte, welcher eben heraufkam, um die Marie zu besuchen. – »Dieses Mädchen«, sagte ich zu ihm, »ist sehr krank.« – »Sie ist verloren«, erwiederte er, »und nur in Folge einer sehr geringen Verwundung. Aber in ein verdorbenes Blut wirft ein Nichts den Funken, und die Entzündung erfolgt dann rasch. Ich gebe ihr nur noch Beruhigungsmittel.« – »Und glücklich genug«, sagte ich, »haben Ihre Beruhigungsmittel Wirkung, während die meinigen sie mehr aufreizen, als beruhigen.« – Hierauf grüßte ich ihn und begab mich zu dem Oheim, von dem ich soeben gesprochen habe, bei dem ich mich für seine Nichte verwendete, daß er sich wenigstens auf Versuch wieder ihrer annehme. Ich hatte große Mühe ihn dahin zu bringen, daß er es thäte; als er sich endlich willig zeigte, sie bei der Nähterarbeit zu beschäftigen, die sein Handel erforderte, geschah es nur unter der ausdrücklichen Bedingung, daß sie sich lange Zeit nicht unter die andern Arbeiterinnen mische, sondern zurückgezogen in einem Kabinet seiner Wohnung allein arbeite, widrigenfalls er sie beim ersten Anzeichen, das sie von übler Aufführung gäbe, auf Nimmerwiederkehr fortjagen würde. Da dieser Mann Wittwer und ohne Kinder war, so hoffte ich von dieser Lage und von dem Beistand, den ich dem jungen Mädchen leihen würde, daß sie noch zum Guten zurückkehren und sich ihrem Oheim nothwendig machen würde.


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