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54.

Als Gertrud wieder zu sich gekommen war, versuchte ich mit ihr über diesen so heitern Tod, diese so hülfreiche Befreiung zu sprechen, über jenes Wort, das sie selbst geäußert hatte: »Es ist besser, sie stirbt!« – Aber das war noch zu früh: diese Worte verwundeten sie, und sie wies sie durch Geberden von sich. An ihrer Freundin ruhend, die sie unablässig in ihren Armen hielt, lächelte sie ihr bald zu, als ob Rosa noch lebte, sprach mit ihr, verschwendete alle Beweise einer Zärtlichkeit ohne gleichen an sie; bald fiel sie, nachdem sie dieselbe mit den liebevollsten Namen angerufen hatte, in die Ausbrüche einer irre redenden, verzweiflungsvollen Trauer, um bald darauf in stummem Seufzen oder düsterer Betäubung zu verharren.

»Gertrud«, sagte ich endlich zu ihr, in der Absicht, sie aus diesem Zustande zu reißen, indem ich ihr vorstellte, daß sie Verpflichtungen gegen die Todte zu erfüllen habe: »Sie wissen, es gibt Begräbnißgebräuche, die man erfüllen muß; halten Sie es für gut, daß ich die Frau Miller holen lasse, um Ihnen zu helfen?« – »Nein! nein! ich bitte Sie dringend, unterlassen Sie das!« antwortete sie mir mit den Geberden des Abwehrens. »Ich selbst werde ihren Körper in die gehörige Lage bringen; ich will allein bei ihr wachen; allein will ich die letzten und geheimen Wünsche meiner sittsamen Freundin vollziehen!« – Ich verließ hierauf Gertrud, um unter dem Linnenzeug meiner Hauswirthschaft das feinste auszuwählen, so wie das, was sich für die Anwendung, die sie davon machen wollte, eignen würde, und kehrte darauf zu ihr zurück. Während dieser kurzen Abwesenheit hatte sie die Haarflechten Rosa's aufgelöst, so daß die Wellen ihrer langen Haare ihr Lager ganz überfluteten, und ich bemerkte zugleich, daß der Trauring von ihrer Hand verschwunden war. Gertrud nahm schweigend das Linnenzeug an sich; dann bat sie mich, nachdem sie mich sanft an das Bett hingezogen hatte, damit ich ihrer Freundin noch eine Liebkosung ertheilte, sie allein zu lassen, indem sie mich belehrte, auf eine gewisse Weise zu klopfen, wenn ich ins Zimmer wollte, um dadurch zu vermeiden, daß irgend jemand sonst hineinkäme.

Als ich Gertrud verlassen hatte, begab ich mich zu meinem Sohn, und gegen Abend erhielten wir einen Besuch vom Juwelier Durand. Dieser redliche Mann, ganz durchdrungen von der Trauer, die ich hatte empfinden müssen, kam, mir seine aufrichtige Theilnahme zu bezeigen, und fügte hinzu, daß er, weil ich bei der Verlassenheit, worin Rosa gestorben wäre, wohl wünschen könnte, es möchten einige Personen, anstatt der fehlenden Verwandten, sie zur letzten Ruhe geleiten, gern hätte einer der Ersten sein wollen, um mir seine Dienste zu diesem Zwecke anzubieten. Ich gab ihm zu erkennen, welche Befriedigung mir sein Anerbieten, ohne mich zu überraschen, verursachte, und alsbald gingen wir auf den Gegenstand über, worauf der Zweck seines Erscheinens ganz natürlich leitete. Es fand sich, daß mein Sohn schon alle Vorbereitungen zu dem Begräbnisse getroffen hatte. Und da er uns mittheilte, daß Miller an diesem Nachmittage sogar so gefällig gewesen war, seine Arbeit zu unterbrechen, um mit ihm zu dem Civilbeamten zu gehen und als Zeuge zu dienen, damit die Papiere betreffs des Todes Rosa's ausgefertigt werden könnten: so kamen wir mit einander überein, daß mein Sohn ihm den Vorschlag thun sollte, mit uns dreien gemeinschaftlich an der Stelle eines Verwandten am Tage des Leichenbegängnisses den Sarg zu begleiten, und wollten, wenn jener dies annehmen sollte, es hierbei bewenden lassen. – »Und so wird denn«, fügte ich hinzu, »dieser bescheidene Zug blos aus vier Männern bestehen, die in verschiedener Weise der armen Rosa während ihrer Verbannung zu Genf ihre Theilnahme bezeigt haben, und ich glaube nicht, daß es ihrer Freundin angenehm sein würde, ihn durch gleichgültige Personen vermehrt zu sehen.« Nachdem dies festgesetzt war, unterhielt ich Herrn Durand und meinen Sohn von den zugleich rührenden und tröstlichen Umständen, welche die letzten Lebensaugenblicke Rosa's begleitet hatten; und als ich an jene Regung des Dankgefühls kam, die sie bewogen hatte, meinen Sohn herbeirufen zu lassen, ergriff dieser das Wort, um unter Thränen zu erklären, daß ihn niemals ein schöneres Zeugniß so zu dem Verlangen entflammt hätte, sich dessen würdig zu machen, und daß diese Auszeichnung, die ihm Rosa hätte angedeihen lassen, indem sie von seiner Freundschaft den Kuß des ewigen Lebewohls zu empfangen wünschte, für ihn einen Reiz und einen Werth hätte, welche seine Trauer überböten und seine Betrübniß in den Hintergrund drängten.

Als Herr Durand uns verlassen hatte, sahen wir Miller und seine Frau ankommen. Beide erschienen, um mit uns zu klagen und mir ihre Selbstvorwürfe kund zu thun, die sie sich seit dem Abend unserer Rückkehr von Versoix unaufhörlich machten, weil sie sich da so hartherzig und verletzend gegen diese engelgleiche junge Dame bezeigt hatten. – »Was das anbelangt«, sagte ich zu ihnen, »so habe ich es euch schon längst verziehen, denn bald den Tag darauf habe ich erkannt, welcher falsche Schein bewirken mußte, daß ihr so handeltet, wie ihr gehandelt habt; und um euch den Beweis zu liefern, daß ich nicht den geringsten Groll deshalb gegen euch hege, und euch zugleich die Gelegenheit zu geben, auch die letzte Spur eures damaligen verletzenden Benehmens durch ein Zeichen liebevoller Achtung zu verwischen: so bitte ich Euch, Miller, als der Vierte mit Herrn Durand, meinem Sohn und mir, an Verwandtenstelle Rosa's Leiche zu begleiten.« Ueber diesen Antrag gab Miller eine freudige Rührung zu erkennen und dankte mir mit Wärme, daß ich ihm die Ehre erweise, bei solcher Veranlassung an ihn zu denken.

Gegen zehn Uhr ging ich selbst, um Gertrud einige Abendkost und Licht zu bringen. Ich fand sie still weinend neben dem Bett sitzen, und indem ich sie wiedersah, konnte ich nicht umhin, mich auch von neuem dem Schmerze zu überlassen. Als ich jedoch Rosa wieder erblickt hatte, deren Antlitz, obwohl so weiß wie das Laken, in das sie gehüllt war, doch einen unaussprechlichen Ausdruck heiterer Sanftmuth und seliger Zufriedenheit zeigte, so sagte ich, während ich mich niederbeugte, um meine Lippen auf ihre eisige Stirn zu drücken: »Theures Kind! wie klar bezeugt dein Antlitz, daß du in dem Herrn gestorben und nun zu seinem Frieden eingegangen bist! Ach, als ich dich noch unlängst mit meinen Vermahnungen betrübte, war ich noch weit davon entfernt, deine wahre Seele zu kennen und zu wissen, daß du, trotz der Größe deines Vergehens, doch noch den vollen Schmuck der heiligsten Unschuld trugst, wie unter diesem gebrechlichen Aeußern alle Stärke christlicher Frömmigkeit!« – Dann wandt' ich mich gegen Gertrud und sagte: »Meine sehr geliebte, meine theure Tochter (denn Sie selbst sagten mir dieser Tage, ich habe es nicht vergessen, daß Sie es im Herzen wären) – lassen Sie uns zu unsern Thränen des Schmerzes die der Freude und des Trostes mischen, daß nun unsere Rosa erlöst und glücklich ist und sich von jetzt an unter einem Schutze befindet, der ihr niemals entgehen wird. Denn mögen sich jetzt auch die Schmähungen der Bösen erheben, mögen vor allem die schrecklichen Enthüllungen, die Aufdeckungen unbewußter Schmach, unverdienter Schande laut werden: sie ist ihnen auf immer entrückt durch die offenbare Fürsorge dessen, der über diesen Engel wachte. Ach nein, Gertrud, im Namen Rosa's selbst, keine Bitterkeit, kein Murren! und wenn wir nicht des Vorbildes, das sie uns gegeben hat, unwürdig sein wollen, so finde nur Trauer, und zwar durch Dankbarkeit gemilderte, in unseren Herzen Statt!« – Gertrud war zu tief erschüttert, um mir durch Worte bestätigen zu können, daß ihr mein Zuspruch Trost gewährte; aber sich einer Weise bedienend, die ihr jetzt mehr zu Gebot stand, hatte sie ihre Thränen zurückgehalten, um meine Rede anzuhören, und die Hingebung, mit der sie sich meinen sanften Liebkosungen überließ, war mir ein Zeichen, daß sie sich mit meinen Gefühlen in Einklang setzte.

Nachdem wir eine Weile still geschwiegen hatten, benachrichtigte ich Gertrud, daß ihre Trennung von der sterblichen Hülle ihrer Freundin übermorgen, als am Donnerstage, gegen Mittag stattfinden, und daß ich zu der Zeit nach dem Gebrauch unserer Kirche einen kleinen Todtengottesdienst in Gegenwart der übrigens sehr wenigen, zu der Bestattung eingeladenen Personen abhalten würde; außerdem müßte sie gestatten, daß bald morgen früh Rosa in ihrer letzten Behausung untergebracht werden dürfe, und daß bei dieser traurigen Verrichtung ihr durchaus die Mithülfe von irgend Jemandem nöthig sein würde. Hierauf nannte mir Gertrud die Frau Miller als diejenige Person, von welcher sie am liebsten diesen Dienst annehmen wollte. Dann sagte sie, auf einen andern Gegenstand übergehend: »Ein Wunsch meiner Rosa, der gewissenhaft erfüllt werden muß, ist, daß niemals ihre Mutter durch irgend wen erfahre, daß der Brief, den sie ihr geschrieben hat, die Veranlassung zu ihrem Unfall und die Ursach ihres Todes gewesen ist. Ich beschwöre Sie also, bester Herr Bernier, da Sie doch gewiß so bald als möglich an die Eltern Rosa's schreiben werden, daß Sie in Rücksicht auf diesen Wunsch die Umstände so darzustellen suchen, daß jener nicht einmal eine Ahnung von dem Wahren in den Sinn kommt. Sollte es Ihnen widerstreben, in diesem Punkte den Wunsch Rosa's zu vollziehn, dann vertrauen Sie mir die Sorge dafür an, und ich werde noch in dieser Nacht schreiben.« – »Haben Sie keine Furcht«, erwiederte ich ihr; »ich werde in diesem Punkte wie in allen übrigen der getreue Vollstrecker des durchaus kindlich liebevollen Wunsches Rosa's sein, und es soll nicht an mir liegen, daß diese unglückliche Mutter niemals erfahre, sie habe unbewußt und indem sie nur liebevoll zu handeln glaubte, ihr Kind hingeopfert.«

Hierauf sagte Gertrud, an diese letzten Worte anknüpfend: »Ach, lassen Sie uns dieser unglücklichen Mutter vergeben, die, obgleich sie wußte, was wir soeben erst kaum durchschaut haben, nämlich die unheilbare Schande ihrer Tochter, dieser dennoch so weit verzeiht, daß sie es wagt, und zwar gegen den Willen der unerbittlichen Tyrannei eines herzlosen Gatten, das schmachvolle Vergehn, dessen sie sie mitschuldig hält.« ... Hierauf sprach sie mit dem plötzlich hervorbrechenden Tone rachevollen Hasses: »Heben wir unsere Verwünschungen für den auf.« ... Aber der Unwille, der Abscheu bei der Vorstellung der Entehrung und die Bemühungen, ihren Schauder und ihre Aufregung zu unterdrücken, verhinderten sie, fortzufahren, und ich sagte zu ihr: »Gertrud! wenden wir unsere Gedanken von diesem Menschen ab, sonst würden nur haßvolle Erinnerungen jene himmlische Heiterkeit Rosa's in ihren letzten Augenblicken stören. Was kümmert sich jetzt unsere Freundin darum, daß ein Unmensch diese nur für die Erde bestimmte Hülle entehrt hat, da die unsterbliche Seele, die sie einschloß, zum Himmel aufgeschwebt ist, rein, wie die reinsten, und keusch, wie die keuschesten?« – Diese Worte schienen sich auf das schmerzlich berührte Herz Gertrudens gleich einem heilungsvollen Balsam auf eine brennende Wunde zu legen; so daß sie, mit sichtlicher Erleichterung meiner Meinung, die ich soeben geäußert hatte, beitretend, den Trauring, der auf dem Tische dalag, ergriff und ihn mir mit den Worten übergab: »Nehmen Sie ihn an sich; versprechen Sie mir, ihn zu zerstören, und niemals mehr hinfort – ich empfinde wie Sie dies Bedürfniß – niemals mehr soll weder der Name dieses Menschen, noch irgend ein Wort, das ihn betreffen könnte, wieder meine Lippen beflecken.«

Gegen elf Uhr, nachdem ich Gertruden bedeutet hatte, daß mein Sohn die Absicht hätte, selbst in dem Eßzimmer wach zu bleiben, um zu ihrem Dienste sogleich bei der Hand zu sein, und auch um zu verhindern, daß sie sich dem Eindruck völliger Verlassenheit preisgegeben sähe, verließ ich sie, um einige Ruhe zu genießen.


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