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32.

In diesem Augenblick, und als ich eben Gott für diese Rettung, die so sichtlich von seiner Hand herbeigeführt worden, und doch nichtsdestoweniger so schwer zu bewerkstelligen war, dankte, verlor die arme Rosa, als sie mit der Kutsche ihre letzten Hoffnungen entfliehn sah, das Bewußtsein, und in sich selbst zusammensinkend, fiel sie leblos mitten in den Staub hin. Bei dem Schrei, den Gertrud ausstieß, eilte ich herbei, um sie aufzurichten; aber schneller als ich hatten sie schon zwei Gensd'armen auf ihre Arme gehoben, um sie in das Bureau zu tragen, woselbst wir uns auf das sorgfältigste um sie bemühten. Sie war kalt; ihr Puls schlug kaum noch, und außer einigen krampfhaften Zuckungen, die von Zeit zu Zeit ihre Züge zusammenzogen, schien sie schon in die Arme des Todes hinübergegangen zu sein. Nun bemächtigte sich meiner der Schreck nicht minder als das Mitleid, während Gertrud ihrerseits sich einem dem Wahnsinn nahen Ausbruch einer maßlosen Verzweiflung überließ. In diesem Augenblick rief mir einer der Gensd'armen, den ich nach einem Arzt in dem Dorfe geschickt hatte, von der Schwelle aus zu: »Er kommt!« – In der That kam der Arzt bald herbei, und nachdem er sich durch die Menge der Umstehenden, die dieser Auftritt in das Zimmer gelockt, Durchgang verschafft hatte, war er Rosa's nicht sobald ansichtig geworden, als er sagte: »Es war höchste Zeit.« – Dann zog er, ohne sich nach etwas Anderem umzublicken, seine Lanzette aus dem Besteck und machte ihr am Arm einen Einschnitt. Darauf sagte der Arzt: »Es ist gut; aber Jedermann entferne sich und man öffne die Fenster.« Auf diese Verordnung gingen die Anwesenden aus dem Zimmer, aber nur um sich vor der Thürschwelle und den Fenstern selbst zu schaaren, von wo aus der Blick das ganze Innere des Bureaus umfassen konnte.

Indessen dauerte es nicht lange, so schlug Rosa die Augen auf und richtete sie nach verschiedenen Seiten hin, schien sich aber noch keine Rechenschaft zu geben weder von dem, was mit ihr vorgegangen war, noch von dem, was um sie geschah. Sie ergriff nur, da sie Gertrud erkannte, deren Hand, um sie an's Herz zu drücken, und schien wieder ruhig und glücklich einzuschlummern. Aber das war nur auf wenige Augenblicke; und in dem Maße, als sie wieder zum Bewußtsein kam, malten sich dumpfer Schmerz und Schreck und Scham wechselsweise auf ihrem Antlitz. – »Meine Herren«, sagte sie, »ich habe nichts Böses begangen! ... Warum alle diese Leute? Ah! da sind Sie, Herr Bernier!« ... Dann sich plötzlich des Verlustes ihrer Hoffnungen und der Ursache ihrer Schmerzen wieder erinnernd, stieß sie einen durchdringenden Schrei aus und fiel wieder gegen die Ballen zurück, gegen welche man sie angelehnt hatte. Während wir mit Hülfe Gertrudens die Heftigkeit ihrer leidenschaftlichen Ausbrüche zu mäßigen suchten, hatten sich die beiden gutmüthigen Gensd'armen des Posthauses beeifert, alle die Anwesenden bis auf den Letzten zu entfernen, und der Chef des Bureaus brachte uns Herzstärkungsmittel, die er sich aus einem nahen Landhause zu verschaffen gewußt hatte. Nach Verlauf einer Stunde etwa war Rosa endlich dahin gelangt, ihre Verzweiflung zu beherrschen, und als ich nun sah, daß sie still weinte, den Kopf an die Brust ihrer Freundin gelehnt, so ging ich hinaus, um zu sehen, wie ich mir eine Kutsche verschaffte. – »Sie werden keine finden«, sagten mir die Gensd'armen. – Aber in demselben Augenblicke hielt eine Kalesche vor der Post. Daraus stieg eine Dame, die, aus meiner Tracht schließend, daß ich derjenige sein möchte, von dem man ihr gesprochen hatte, als man von ihr die Stärkungsmittel entlehnte, zu mir sagte: »Hier ist ein Wagen, mein Herr; bedienen Sie sich seiner gefälligst, um diese armen Fräulein nach der Stadt zu bringen, wenn es Ihnen nicht besser scheint, sie mir bis morgen früh anzuvertrauen: ich wohne hier in der Nähe und meine Betten stehen ihnen zu Diensten.«

Hingerissen von einem Gefühle der Dankbarkeit, ergriff ich die Hand der Dame, die ich niemals vorher gesehn hatte, und sie mit bewegtem Gemüthe betrachtend, sagte ich: »Wenn es schlimme Herzen gibt, so gibt es auch gute, und Gott sei dafür gepriesen! Ihre Menschenfreundlichkeit, werthe Dame, ist uns von großer Hülfe, und freudig nehme ich an, daß uns Ihre Kutsche wieder nach der Stadt bringe. Aber treten Sie gütigst ein, ich bitte Sie, damit auch diese unglücklichen Wesen sich der angenehmen Empfindung erfreuen, ihren Dank mit dem meinigen zu vereinen.« – Die wohlwollende Dame trat, schon vorher ergriffen, auch wirklich ein, und als sie dies traurige und doch anziehende Schauspiel der beiden jungen Freundinnen sah, die eine in tiefster Betrübniß, die andre so bemüht um jene, und alle beide, selbst mitten unter diesen Waarenballen, von einer so sichtlichen Auszeichnung in Haltung und Miene, überhäufte sie dieselben unter Thränen mit allen Arten mütterlicher Liebkosung und bat sie inständigst, doch mit ihr zu kommen und einige Tage in ihrem Landhause bei ihr zuzubringen. Aber weder Rosa noch Gertrud bezeigten die geringste Lust dazu, während ich selbst nach der Gefahr, der sie soeben erst entgangen waren, wohl einsah, daß ich sie nicht aus den Augen lassen dürfe bis zu dem Augenblick, in welchem ich sie wieder in die Hände des Grafen, oder in die ihrer Eltern überliefern könnte. Wir entschuldigten uns also so gut als möglich, und nachdem wir sowohl dieser Dame, als dem Bureauchef, wie auch den beiden Gensd'armen unsern Dank ausgedrückt hatten, stiegen wir mitten unter einem großen Andrang von Neugierigen in die Kutsche ein.


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