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27.

Als ich am folgenden Tage bei früher Zeit in meinen Geschäften als Seelsorger aus war, begegnete ich auf der Straße einem der Millerschen Kleinen, das zur Schule ging. – »Nun, mein Kind«, sagte ich zu ihm, »ihr seid wohl gestern sehr spät nach Hause gekehrt?« – »Ja«, antwortete es, »wir machten eine schöne Partie in die Berge.« – Hierauf erzählte es mir von den Ergötzlichkeiten des Tages, von der guten Mahlzeit, die man dorten gefunden hatte, zuletzt, wie sie noch auf dem Wege, hier Sahne, dort Bier und andere Getränke genossen hatten. »Und das Alles«, setzte es hinzu, »hat der junge Herr bezahlt.« – Ich erfuhr also, daß er die Ursache der langen Abwesenheit der Millers gewesen war, und abgesehen von dem Aerger, den es in mir erregte, zu erfahren, daß sie meine wiederholten Warnungen, ähnliche Gunstbezeigungen von Seiten des jungen Herrn nicht anzunehmen, hatten so in den Wind schlagen können, so verursachte mir auch diese Thatsache ihrer von jetzt an außer allen Zweifel gesetzten Verbindung mit einem so gefährlichen Menschen die lebhafteste Beunruhigung. Was sollte in der That aus allen meinen Bemühungen werden, wenn er endlich dazu gelangte, sogar im Hause selbst, worin ich die beiden jungen Damen untergebracht hatte, die der Gegenstand seines heftigsten Begehrens und seiner, bald von unglaublicher Verwegenheit, bald von hinterlistiger Geschmeidigkeit unterstützten Ränke waren, sich Einverständnisse zu verschaffen wußte! Auf der Stelle entschlossen, um jeden Preis die erforderlichen Maßregeln dagegen zu ergreifen, brach ich meine Besuche frühzeitig ab und begab mich, nachdem ich den Rückweg eingeschlagen hatte, unmittelbar nach der Werkstatt des Miller. Ich traf daselbst nur einen Gesellen an, der mir sagte, daß sein Meister noch nicht zum Tagesgeschäft heruntergekommen wäre, so daß ich, immer unruhiger werdend, eiligst zum Zimmer hinaufstieg.

Die Frau Miller machte mir auf. Anfangs bezeigte sie sich gegen mich zurückhaltend; doch als wir uns in der Küche befanden, glaubte ich zu bemerken, daß sie, erstaunt über mein Kommen, das sonst niemals zu dieser Stunde geschah, bei meinem Anblick eiligst Thränen unterdrückt und sich abgetrocknet hatte, die zu vergießen sie eben im Zuge war. – »Was gibt es denn, Madam Miller?« fragte ich sie, und sagte darauf, um ihr einen Versuch zur Lüge zu ersparen: »Sollte sich schon, in Folge des Verkehrs mit den Lasterhaften, das Laster in euer Haus eingeschlichen haben? Ich weiß euer unbesonnenes Unternehmen von gestern durch euren kleinen Knaben, und habe außerdem, während ihr so den Tag des Herrn entheiligtet, eure Kostgängerinnen, die sich auf die Straße ausgesetzt fanden, beherbergen müssen.« – Hierauf, sich gegen diesen letzten Vorwurf vertheidigend, um dem andern auszuweichen, versicherte mich die Madam Miller, daß sie sich hierin nichts hätten zu schulden kommen lassen, weil sie, in dem Vorsatze, bei guter Zeit wegzugehen, nachdem sie Alles, was die Damen etwa nöthig haben möchten, im Hause gelassen und ihnen das Mittagbrod zubereitet, sich gewiß nicht hätten vorstellen können, daß, da die eine von ihnen unwohl wäre, und sonst alle beide niemals auszugehen pflegten, sich grade an dem einzigen Sonntage des Jahres, wo sie, die Millers, sich zur Erholung eine armselige, kleine Vergnügungspartie vorgenommen hätten, aus dem Hause begeben würden. – »Ja wahrlich, armselig«, erwiederte ich, sie unterbrechend, »weil so bald Thränen auf sie folgen. Uebrigens, wo ist Miller? denn ich möchte ihn sprechen.« – »In seiner Werkstatt«, versetzte sie.

»Frau Miller«, sagte ich hierauf, »wenn Sie so zu mir sprechen, so trifft es sich glücklich, daß Ihre Kinder nicht in der Küche sind; nicht? Denn wäre das nicht der Fall, so möchten sie wahrscheinlich durch das Beispiel ihrer Mutter lernen, wie man vor dem Angesicht Gottes Lügen sagt. Miller ist nicht in seiner Werkstatt; er ist heute sogar noch nicht in sie herabgekommen, und nach Ihrer Miene, Ihren Worten und Ihren Thränen zu schließen, möchte ich Alles wetten, daß eine sehr wohlbegründete Scham Sie dazu bewegt, mir zu verbergen, wo er ist. – »Das ist wahr«, sagte sie hierauf, durch meinen Vorwurf überwältigt; denn diese Frau war, wenn auch schwach, doch nicht ohne Gefühl für das Ehrbare. – »Was hat er denn gethan, Frau Miller? und sagen Sie mir nur Alles, weil, gebrechlich wie Sie sind, die Freundschaft Ihres Predigers, ich seh' es schon, Ihnen von gutem Nutzen wird sein können.« – Hierauf theilte sie mir unter Schluchzen mit, daß ihr Mann, zum erstenmal in seinem Leben, sich am gestrigen Abende in trunknem Zustande befunden hätte; daß sie, um der Kinder willen, in deren Gegenwart er abscheuliche Reden ausgestoßen, wie auch aus Furcht, daß er die Damen durch irgend ein Aergerniß in Schrecken setzen möchte, ihn in einer kleinen Schenke von Chêne hätte lassen müssen, wo er die Nacht zugebracht; daß er heute morgen übellaunig und zornig angekommen wäre und beim ersten vorwurfsvollen Worte, das sie zu äußern gewagt hätte, auf sie losgestürzt wäre und sie gemißhandelt hätte; daß sie darauf, um Lärm zu vermeiden, sich in die Küche geflüchtet hätte, wo sie in der That in Thränen ausgebrochen wäre, in eben dem Augenblick, als ich an die Thür geklopft hätte. – Nachdem sich die Frau Miller durch diese Mittheilung das Herz erleichtert, schwieg sie und ließ den Thränen wieder ihren Lauf. – »Ach, arme Frau Miller, ich hatte es Ihnen gesagt, und der Psalm that es schon vor mir:

Glücklich, wer flieht die Lasterhaften,
Und den Verkehr und das Beispiel der Hassenswerthen!

Aber wie so viele Andere haben Sie sich auf Ihre eigenen Einsichten, auf Ihre Kräfte und auf Ihre weltliche Klugheit verlassen und vergessen, daß man Einsicht, Kraft und Weisheit nur im Gesetz des Herrn findet, und daß, wer sich nicht an diesem festhält, mitten in dieser Flut von Thorheiten und Verderbtheiten, welche die Erde überschwemmt, bald dahin treibt und mit ihr zu kämpfen hat, wenn er ja nicht ertrinkt. Ich werde mit Miller sprechen; aber geben Sie mir vor Gott das Versprechen, so weit es in Ihrer Macht liegt, ferner nicht mehr den bösen Menschen bei sich zu sehen, der Sie gestern mit dem Gifte seiner Gesellschaft und seiner Wohlthaten befleckt hat, wie auch, mir die Schritte, die er bei Ihnen thut, mitzutheilen, so unbedeutend sie Ihnen auch scheinen mögen, wenn es geschehen sollte, daß er neue wagte. Denn ich meinerseits versichere Ihnen mit Nachdruck, daß ich beim ersten Verstoß gegen die Offenheit in dieser Beziehung, sei es von Seiten Ihrer oder der Ihrigen, diese Damen sofort aus der Umgebung einer sittlich verpesteten Familie entfernen, und, indem ich mit euch Allen breche, Frau Miller, euch mit Verachtung diesem räuberischen Wolfe preisgeben werde, weil ihr freiwillig und ohne Entschuldigung zu haben, seine verrätherische Wachsamkeit der des treuen Hirten vorgezogen habt.« – Durch diese Worte im innersten Herzen erschreckt, leistete mir die Frau Miller einen ernsten Schwur ab, und da sie mich mit Schluchzen bat, sie niemals zu verlassen, so sagte ich zu ihr: »Das wird von Ihnen abhängen. In welcher Absicht hat euch gestern dieser Herr bewirthet?«

Hierauf erzählte sie mir, daß, da dieser Herr bei ihrem Manne arbeiten lasse, dieser nach und nach mit ihm in Beziehung getreten sei, ohne daß dabei irgend etwas Verwerfliches stattgefunden hätte, und daß kleine Geschenke, die er in der Folge den Kindern gemacht, sie selbst dahin gebracht hätten, ihn mit mehr und mehr Vergnügen erscheinen zu sehen, bis er endlich, da er im Begriff stände, abzureisen, am Sonnabende gekommen sei, seine Rechnung zu berichtigen, und ihnen das Anerbieten gemacht hätte, am folgenden Tage die ganze Familie zu Salèvre zu bewirthen, weil er diesen Gebirgstheil noch gesehn zu haben wünschte, ehe er das Land verließe. Uebrigens hätte er sie seit einigen Tagen gar nicht mehr von den Damen unterhalten, außer ein einzigesmal, um zu sagen, daß er die eine von ihnen geliebt hätte, daß es aber eine Thorheit wäre, sich um ein Paar hübsche Augen so viel Unruhe zu bereiten, und daß ihm in Paris, wohin er ginge, die Gelegenheiten nicht fehlen würden, eine weit glänzendere Heirat zu machen, als diejenige, worein ihn die Liebe fast verwickelt hätte. – »Nach Paris?« unterbrach ich sie. – »Ja, nach Paris. Das ist das Ganze«, fuhr sie fort, »und es ist übergenug, weil ich diese grausame Schande erlebt, Miller betrunken zu sehen in Gegenwart meiner Kinder, wie diejenigen des Noah Zeugen waren von der Trunkenheit ihres Vaters!« – »Und sind Sie dessen versichert, daß er abreist?« fragte ich. – »So sicher«, antwortete sie, »daß er Miller beauftragt hat, ihm auf's eheste seine Möbel nach Paris nachzuschicken.« – »Nach Paris?« – »Ja, nach Paris, bester Herr Bernier.«

Hierauf verließ ich die Frau Miller, ganz überzeugt von der Richtigkeit ihrer Mittheilung, aber betrübt in Rücksicht jener Lüge von einer Reise nach Paris, da ich doch mit meinen eignen Augen seinen Paß nach Basel visirt gesehen hatte, so daß alle diese Reden, und vielleicht auch diese Bergpartie, irgend eine neue Kriegslist verhüllen sollten. Ich begab mich hierauf zu den Damen, um ihnen verdoppelte Wachsamkeit zu empfehlen, und zugleich um sie um die Einhändigung der Briefe anzugehen, die sie an ihre Familien geschrieben haben mußten. Aber wegen ihres gestrigen Mißgeschickes hatten sie sie für den bestimmten Tag nicht bereit halten können, und waren eben am Beginn des Unternehmens. Ich ermahnte sie also, sich dessen ohne Säumen zu entledigen, und um zu vermeiden, daß sie durch meine Schuld Zeit verlören, verließ ich sie fast in demselben Augenblicke, nachdem ich ihnen diese Empfehlungen an's Herz gelegt hatte.


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