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26.

Am andern Tage hatte ich die Freude, die Damen in der Kirche zu sehen, wo ich auf ihre Bitte, die sie an mich gerichtet hatten, wiederum dieselbe Predigt hielt, die ich auf ihre Veranlassung über jenen strengen Text ausgeführt hatte: »Ich sprach zum Lachen, du bist toll, und zur Freude, was machst du?« – Aber sei es nun, daß ich mehr Ueberzeugung in meinen Vortrag legte, als damals, denn wie sollte ich nun nicht noch mehr von der Wahrheit der Worte des Predigers Salomonis durchdrungen gewesen sein; sei es, daß meine Worte allzu Treffendes in Bezug auf ihre veränderte Lage hatten; sei es, daß Rosa, die kaum wiederhergestellt war, sich unwohl befand: genug, sie standen auf, um vor dem Ende des Gottesdienstes die Kirche zu verlassen. Als dieser beendigt war, schickte ich meinen Sohn in ihre Wohnung, um Erkundigung einzuholen; aber er kam zurück, ohne daß man ihm die Thüre geöffnet hatte, wahrscheinlich, weil die Millers selbst noch nicht aus der Kirche nach Hause gekommen waren. Obgleich ich mich bei den Damen am Nachmittag einzustellen hatte, so hielt ich die bestimmte Stunde doch nicht für angemessen, um sie nicht in neuen Schreck zu setzen, und so machten wir, mein Sohn und ich, um den sonnigen Tag zu benutzen, einen Gang in's freie Feld.

Aber wie groß war unser Erstaunen, als wir nach einem Spaziergange von ungefähr drei Stunden, indem wir uns um die Stiege wandten, die zu unserer Wohnung führt, die beiden Freundinnen erblickten, welche sich geduckt im Hintergrund des dunklen Ganges aufhielten, auf den unsere Thür hinausführt. – »Was ist denn das, meine Kinder«, rief ich aus, »und was ist denn geschehen?« – Hierauf erzählten sie mir, nachdem ihnen unsere Ankunft das Gefühl der Sicherheit und Freude wiedergegeben hatte, daß Rosa während des Gottesdienstes unwohl geworden wäre, und sie die Kirche verlassen hätten, um nach Hause zu gehen; daß sich dort aber Niemand von den Millers hätte blicken lassen, der gekommen wäre, ihnen zu öffnen. So hätte sie denn die Furcht, auf der Treppe von dem abscheulichen Frauenzimmer von neulich überrascht zu werden, dahin vermocht, sich auf die Straße zu flüchten. Aber dort wären sie, in der Furcht, von dem jungen Herrn wahrgenommen zu werden, wenn er etwa zufällig vorbeikäme, eine halbe Stunde lang umher geirrt, und hätten sich in den Alleen verborgen, wenn sie Jemanden kommen zu hören glaubten, bis sie von einer alten Dame die Wohnung des Predigers Bernier erfragt hatten. So wären sie von Allee zu Allee hierher gelangt, aber um auch hier ebenso wenig irgend Jemanden vorzufinden. Nun hätten sie sich entschlossen, hier lieber meine Rückkunft abzuwarten, als zu versuchen, zu den Millers zurückzukehren. Hier wären sie drei Stunden ohne große Ungeduld verblieben, noch glücklich, sich unter dem Schutze meiner Behausung und in der Nähe der Miethsleute zu wissen, die ihnen gewiß, aus Rücksicht auf mich, ihren Beistand angedeihen lassen würden, wenn man sie etwa sogar aus diesem Zufluchtsort vertreiben wollte. – Während dieses Berichtes hatte ich das Zimmer aufgeschlossen. »Nun wohl, meine armen Kinder«, sagte ich hierauf zu ihnen, »ihr habt gethan, was unter diesen Umständen noch das Beste war, und ich gewinne dabei, daß wir nun zusammen essen können. Nur daß ich euch, weil ich kein Dienstmädchen habe, und wegen der heiligen Ruhe des Sonntags die alte Frau, die uns bedient, sich darauf beschränkt, schon Sonnabends unser Mahl für den folgenden Tag zu bereiten, nichts Warmes als unsere Herzlichkeit versprechen kann, nebst der Kundgebung des Vergnügens, mit dem wir euch an unserm Tische speisen sehen.« – Hierauf besetzte ich, mit Hülfe meines Sohnes, der wegen der großen Hitze und um außerdem bei dem Festmahl sein Quentchen gute Lebensart an den Tag zu legen, in aller Eile ein Viertelmaß Gefrornes kaufen gegangen war, unsern Tisch mit einem Stück kalten Kalbsbraten, einem frischen Salat, einer Schale mit Kirschen, mit Brod und Wein; und als Alles bereit war, und ich mit lauter Stimme das gewohnte kurze Gebet gesprochen hatte, begann ich vorzulegen.

O gütiger Gott! welche Güter hast du doch deinen ärmsten Dienern zukommen lassen und welche Annehmlichkeiten in die mäßigsten deiner Gaben gelegt, die nicht immer die beneidetsten deiner Geschenke begleiten! Ich war glücklich während dieses kärglichen Mahles; meinem Sohne klopfte dabei das Herz vor Vergnügen, und selbst die beiden jungen Freundinnen genossen dabei die erste Stunde wahrer Zufriedenheit seit ihrer Ankunft in Genf. Das Gefühl der Sicherheit, diese süße Empfindung; die Dankbarkeit, dieses lobwürdige Gefühl; das Unglück, diese lastende Bürde, welche die Augenblicke, wo man sich ihrer enthoben fühlt, so tröstend erscheinen läßt; mehr noch, als Alles dies, das Gewissen, welches, wenn es durch Reue gereinigt und durch den Entschluß, ein Vergehn wieder gut zu machen und besser zu handeln, beruhigt ist, die Blüthen heiliger Hoffnung und frommer Freude über die Seele ausstreut: das war es, was den armen Damen die Freude als so rechtmäßig erscheinen ließ, die sie bei der Theilnahme an unserm bescheidenen gewöhnlichen Mahle genossen. Uebrigens gab, da sie ziemlich erschöpft waren und seit dem Morgen nichts zu sich genommen hatten, ihre Eßlust meinen drei Gängen die beste Würze, dergestalt, daß ein kleiner Landkäse diesmal sehr zu statten kam, um das Mahl zu verlängern, und das Vorhandne zu vervollständigen. Nach dem Essen führte ich sie in mein Zimmer ein, wo ich ihnen etwas vorlas, und gegen sechs Uhr ging mein Sohn mit ihnen weg, um sie nach ihrer Wohnung zurückzugeleiten. Aber da sie dort noch Niemanden vorgefunden, so kamen alle drei bald darauf wieder zurück, und erst gegen zehn Uhr Abends konnten die Damen endlich, nachdem sie bei mir die Nachhausekunft der Millers abgewartet hatten, deren Rückkehr mein Sohn abgepaßt, wieder in ihre Wohnung gelangen.


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