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53.

Am folgenden Tage, Mittwochs, erfuhr ich am frühen Morgen durch die Frau Miller, die ich beauftragt hatte, zu jeder Stunde der Nacht in mein Zimmer zu kommen, um mich, wenn es nöthig wäre, von dem Zustande Rosa's zu benachrichtigen, daß diese eine zwar schmerzlose, aber nichtsdestoweniger unheilverkündende Nacht gehabt hätte. In der That, die Mittel des Wundarztes hatten gar nicht angeschlagen, und in Folge des Zusammenwirkens verschiedener unglücklicher Umstände, wovon der Wundarzt gesprochen, hatten ihre Kräfte von Stunde zu Stunde immer mehr abgenommen, während eine zunehmende Blässe in ihrem Gesicht die Herrschaft gewann. Da dieser Zustand von einem Augenblick zum andern aufs äußerste gedeihen konnte, so schickte ich meinen Sohn, der sich am vorhergehenden Abende gar nicht niedergelegt hatte, um in größter Eile den Arzt herbeizuholen, und kleidete mich indessen an, während er diesen Auftrag zu vollziehen ging.

Als der Wundarzt angekommen war, traten wir mit einander in das Zimmer ein. Die weiße Farbe Rosa's machte auf mich einen erschreckenden Eindruck. Sie nahm mich bei der Hand, um sie zu streicheln; dann sagte sie mit dem Ton unaussprechlicher Sanftmuth: »Die Bemühungen des Herrn, wofür ich ihm danke, sind von nun an überflüssig; er erweise mir also die Gunst, sie nicht fortzusetzen und mir nur sein Wohlwollen zu bewahren. Ich habe noch wenige Augenblicke zu leben, und diese wünsche ich anwenden zu können. Zwischen Gertrud und mir ist alles in Richtigkeit gebracht; ich werde sie erwarten. Zwischen mir und Gott ist noch nicht alles im Reinen. Ich flehe Sie um Ihren Beistand an, Herr Bernier.« – Auf diese Worte machte der Wundarzt Miene, sich zu entfernen. – »Thun Sie das nicht aus Bescheidenheit«, sagte sie zu ihm: »Ihre Gegenwart ist mir werth.« – Hierauf setzte er sich, und ich begann ohne Zögern mit tief ergriffenem Herzen den Gottesdienst für Sterbende, den ich mit einem Gebet beschloß, in welchem ich absichtlich jede Bitte um Rückkehr der Gesundheit ausließ, weil dies nur zur Folge gehabt hätte, dieses unglückliche Wesen wieder an das Leben zu ketten; vielmehr sollte sie ausschließlich ihre Blicke auf jene glückselige Ewigkeit hinrichten, die zu verkünden und deren Verheißung zu besiegeln unser Erlöser auf Erden erschienen ist. Ich selbst, voll des Wunsches, daß diese Unglückliche, deren irdisches Leben, so kurz und so schmerzreich, im Begriff war, in Hülflosigkeit und unter Widerwärtigkeiten zu erlöschen, der Wiedervergeltung theilhaftig werde, genoß in diesem Aufschwunge zu einer bessern Welt jene trostreiche Befriedigung, deren uns zu vergewissern die Religion allein die Macht hat.

Als ich geendet hatte, sprach Rosa ruhig und voll Heiterkeit also: »Die Empfindungen, die Sie hier ausgedrückt haben, Herr Bernier, sind die einzigen, welche in dieser feierlichen Stunde mein Herz erfüllen; aber es drängt mich, vor Ihnen und vor diesen mir freundlich gesinnten Personen hinzuzufügen, daß ich aufrichtige Reue fühle über alle die Sünden, deren ich mich schuldig gemacht, und die schmerzlichsten Gewissensbisse über den Fehler, den ich vor Gott und den Menschen begangen habe, indem ich mich gegen das väterliche Ansehn und die väterlichen Rechte auflehnte, und mich heimlich vermählte ... Ich bitte dessenwegen Gott um Vergebung und flehe seine Barmherzigkeit an ...« Hier hielt Rosa, wie erschöpft durch diese Anstrengung, inne, jedoch indem sie ein Zeichen gab, daß sie mit ihrer Rede noch nicht zu Ende sei. Nach einigen Augenblicken begann sie wieder:

»Ich habe eine unvergleichliche Freundin, ich habe eine glückliche Jugend gehabt, und es ist erst vier und einen halben Monat her, daß meine Strafe für mein Vergehn begonnen hat. Gottes Güte hat es gefallen, diese Strafe nicht allein zu mildern, ja sie zu heiligen, indem er mir Herrn Bernier zum Beschützer, zum Führer und zum Freunde gab, sondern ihr auch eine solche Wendung zu geben, daß ich heute das Leben, wenn nicht mit Freudigkeit, doch zum wenigsten ohne Bedauern verlasse. Ludwig ist mir entweder in den Himmel vorausgegangen, oder er hat mich ganz vergessen. Meine Eltern, die mir jetzt ihre Verzeihung versagen, werden sie mir, sobald ich nicht mehr bin, bewilligen. Ich befreie durch meinen Tod meine getreue Gertrud von einem Schicksale, welches das ihrige unvermeidlich vom rechten Wege abgelenkt haben oder ihm ein Hinderniß gewesen sein würde. Endlich hat mein Kind, welches mich einen Augenblick lang von neuem mit der mächtigsten Freude berauschte, noch ehe es selbst geboren worden, zu leben aufgehört. So, meine Theuren, die ihr hier mein Schicksal beklagt, wenn ihr einiges Vertrauen in diese Bekenntnisse setzt, die ich hier am Rande des Grabes ablege, bewahret mir das Mitleid der Liebe und die Vorrechte des Andenkens, aber hört auf, über das zu trauern, was mir geschieht; preiset vielmehr Gott mit mir deshalb, daß er mich zu sich nimmt, mich, die befriedigt ist, gelebt zu haben, satt dieser Welt, seiner Barmherzigkeit gewiß und auf seine Verheißungen bauend.« – Nachdem sie so gesprochen hatte, winkte Rosa dem Wundarzt und der Familie Miller, an ihr Bett heranzutreten, und als sie von einem jeden von ihnen einen Kuß empfangen hatte, verabschiedete sie diese, um nur Gertrud und mich in dem Zimmer zu behalten. Da ich jedoch an dem Erschlaffen ihrer Hand, in welcher sie fortwährend die meinige gehalten hatte, gewahr wurde, daß sie dem Einschlummern nahe war, so machte ich die meinige sanft von der ihrigen los und setzte mich neben die arme Gertrud nach dem Fenster zu.

Nach ungefähr zwei Stunden veranlaßte uns eine Bewegung, zu ihr zu eilen: sie war in der That erwacht. Als sie uns erblickte, glitt über ihre Lippen ein Hauch von Lächeln, und sie suchte, ihrer Gewohnheit gemäß, nach unsern Händen, um sie zu streicheln. Dann sagte sie zu mir mit einer Stimme, die man kaum hörte: »Ich möchte gern auch von Ihrem Sohn Abschied nehmen.« – Ich rief ihn; er erschien. – »Sie sind«, sagte Rosa zu ihm, »der würdige Sprößling Ihres guten Vaters, und ich bin Ihnen, wie ihm, alle Art von Dankbarkeit schuldig. Wenn meine Blässe Sie nicht abschreckt, so geben Sie mir den letzten Kuß.« – Nach dieser Anstrengung schloß Rosa wiederum die Augen, ohne unsere Hände fahren zu lassen und entschlummerte sanft. Da sich nach einer halben Stunde ihr Athmen nicht mehr vernehmen ließ und uns ihre Hände zu erkalten schienen, neigte sich Gertrud über sie, um sie in ihre Arme zu nehmen und mit ihrer Wärme zu erwärmen; aber fast gleichzeitig sank sie, nachdem sie einen lauten Schrei ausgestoßen hatte, wie entseelt neben ihre Freundin hin. Rosa hatte zu leben aufgehört.

So geschah es denn nach einer gütigen Bestimmung der Vorsehung an demselben Tage, wo Rosa hatte abreisen sollen, um wieder zu einer Familie zurückzugehn, die sie hart von sich stieß, daß sie ihren Flug von der Erde nahm, um geheiligt in den Schooß Gottes zurückzukehren. Sicherlich war von beiderlei Abscheiden das letztere bei weitem vorzuziehn; und aus diesem Umstande, worin sich eine höhere Fürsorge glänzend kund gab, schöpfte ich die erste Linderung des Schmerzes, der meine Seele darnieder gebeugt hatte.


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